Assads Todeslager
Nach der Eroberung Yarmuks durch den IS findet Assad neue Verbündete
Der Vormarsch des „Islamischen Staates“ im Flüchtlingslager Yarmuk hat zu neuen Allianzen geführt: Palästinensische Milizen kämpfen nun auf Seiten Baschar al-Assads. Dessen Strategie des „Teile und Herrsche“ geht auf – auch gegenüber der internationalen Gemeinschaft, die die größte humanitäre Katastrophe seit 1945 weiter geschehen lässt.
Jetzt sind auch die Palästinenser am Bürgerkrieg in Syrien beteiligt. Nachdem der „Islamische Staat“ (IS) große Teile des palästinensischen Flüchtlingslagers Yarmuk in Damaskus unter seine Kontrolle gebracht hatte, gaben mehrere Palästinenserorganisationen Anfang April ihre Zustimmung zu einem militärischen Vorgehen gegen die sunnitische Terrorgruppe – Seite an Seite mit Einheiten der syrischen Armee von Machthaber Baschar al-Assad.
Die Führung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) in Ramallah hatte zwar versucht, einen Beschluss rückgängig zu machen, den der von ihr selbst nach Damaskus entsandte Vertreter schon verkündet hatte. Doch entscheidenden Einfluss auf die Bewohner Yarmuks, das im Jahrzehnt nach dem arabisch-israelischen Krieg 1948 entstand und seit Jahren seinem Schicksal überlassen wurde, übt die PLO-Spitze offenkundig nicht mehr aus: Mit der Entscheidung, sich auf die Seite des syrischen Regimes zu schlagen, braucht Diktator Assad einen Widerstand der Palästinenser nicht mehr zu fürchten.
Abriegeln und aushungern
Das könnte auch in anderen Teilen Syriens Schule machen. Denn inzwischen richtet sich alle Aufmerksamkeit auf die Gräuel des IS, obwohl auch Assad weiterhin Kriegsverbrechen begeht. Die Fassbomben-Angriffe auf Wohnviertel, Chloringas-Attacken auf von der Opposition gehaltene Stadtteile oder die Folterung und Ermordung Tausender Gefangener finden aber kaum Beachtung, seit die Männer des IS-Führers Abu Bakr al-Bagdadi öffentlichkeitswirksam die Hinrichtung Andersdenkender und -gläubiger als Kernelement ihres Terrorkalifats zelebrieren.
In Yarmuk schloss sich deshalb nicht nur die schon seit Jahrzehnten Assad-loyale Volksfront zur Befreiung Palästinas-Generalkommando von Ahmed Jibril der von Regierungseinheiten geführten Operation gegen die Dschihadisten an. Auch Palästinensergruppen, die bislang zumindest eine gewisse Neutralität im Konflikt um Yarmuk geübt hatten, begrüßten eine militärische Lösung. Knapp zwei Jahre, nachdem Assad mit der Blockade des einst 160 000 Einwohner zählenden Stadtteils begann, um die Bevölkerung durch Aushungern zur Aufgabe zu zwingen, wird der Brandstifter damit zum Feuerwehrmann gemacht. Seit fast 700 Tagen dauert die Belagerung Yarmuks durch das Regime nun schon an. Seit mehr als 200 Tagen sind die Bewohner von der Wasserversorgung abgeschnitten. 176 Menschen sind seit 2013 verhungert.
Doch damit nicht genug: Am Ende einer militärischen Räumung des Lagers könnte ein syrisches Sabra und Shatila stehen – eine Neuauflage des Gemetzels, dem im September 1982 im Süden Beiruts Hunderte Palästinenser unter den Augen israelischer Soldaten zum Opfer fielen, getötet von libanesischen Christenmilizen. Auch Erinnerungen an die UN-Enklave Srebrenica werden wach, wo Blauhelme der Vereinten Nationen im Juli 1995 tatenlos zusahen, als mehr als 8000 muslimische Männer und Jugendliche von ihren Familien getrennt wurden, um in den Stunden und Tagen danach von serbischen Soldaten und Paramilitärs erschossen zu werden.
Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, hat sich deshalb offen gegen eine Allianz mit Assad ausgesprochen. Yarmuk bezeichnete er als „Todeslager“, das sich im „tiefsten Kreis der Hölle“ befinde. „Wir können nicht einfach beiseite stehen und zusehen, wie es zu einem Massaker kommt“, sagte der höchste Vertreter der Weltgemeinschaft eine Woche nach Beginn des Vormarschs durch den IS.
UN in der Verantwortung
Ban weiß, was für die Vereinten Nationen nach dem kläglichen Scheitern des Aleppo-Waffenstillstandsplans seines Sondergesandten Staffan de Mistura auf dem Spiel steht: Sollten palästinensische Kämpfer gemeinsam mit Regierungseinheiten weitere Zivilisten töten, würden nicht zuletzt die UN dafür verantwortlich gemacht. Deren Flüchtlingshilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) ist in Yarmuk seit Jahrzehnten für quasistaatliche Aufgaben im Gesundheits- und Bildungsbereich zuständig.
Eine Kehrtwende im Bürgerkrieg bedeutet die Eroberung Yarmuks durch den IS aber auch deshalb, weil die bislang vor allem im Grenzgebiet zum Irak starken Dschihadisten erstmals in der Hauptstadt in die Offensive gehen konnten. Möglich wurde das durch die Zusammenarbeit mit der Nusra-Front, von der sich IS-Führer Bagdadi 2013 abgespalten hatte. An der Grenze zu Jordanien hingegen kämpft der syrische Ableger Al-Kaidas gemeinsam mit Einheiten der oppositionellen Freien Syrischen Armee (FSA), denen im März die Eroberung der Stadt Bosra und des Grenzübergangs Nasib gelang. Auch am Fall der nordwestsyrischen Provinzhauptstadt Idlib Ende März waren Kämpfer der Nusra-Front beteiligt, die sich einer Allianz von Antiregimemilizen anschlossen, die eine Herrschaft des IS ebenso wie des Assad-Regimes ablehnen.
Flickenteppich Syrien
Diese von örtlichen Gegebenheiten bestimmte Bündnispolitik hat dazu geführt, dass Syrien zu Beginn des fünften Konfliktjahrs einem Flickenteppich gleicht. Im Grenzgebiet zur Türkei im Nordwesten des Landes ist es der Nusra-Front gelungen, zur stärksten Miliz zu werden. Weiter östlich, an der Grenze zum Irak, dominiert der „Islamische Staat“, dessen Herrschaft nur durch kleine Gebiete unterbrochen wird, die vom syrischen Arm der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), der Partei der Demokratischen Union (PYD) und ihren Volksverteidigungseinheiten (YPG) kontrolliert werden. Trotz der jüngsten Eroberung Idlibs durch Oppositionskräfte bleiben aber elf der 13 Provinzhauptstädte in den Händen des Regimes. Die Situation ist dem libanesischen Bürgerkrieg nicht unähnlich. Damals war keine Seite stark genug, die andere zu besiegen. Es dauerte 15 Jahre, bis die Kämpfe 1990 endeten. Das droht auch Syrien.
Der Aufstieg des „Islamischen Staates“ zur mächtigsten Miliz hat die Koordinaten des Konflikts auf eine Weise geändert, die noch vor zwei Jahren undenkbar schien: Zwar war die Opposition bereits 2013 in Hunderte Gruppen gespalten, doch am Fernziel, Assad eines Tages zu stürzen, hielten islamistische Verbände ebenso fest wie weniger religiös geprägte Einheiten, die sich unter dem Dach der FSA zusammengefunden hatten. Davon kann vier Jahre nach Beginn des Aufstands gegen Assad keine Rede mehr sein: Dem Schulterschluss palästinensischer Milizen mit dem syrischen Regime könnten weitere taktische Bündnisse folgen, die das Zurückdrängen des IS an erste Stelle setzen.
Den Preis dafür zahlt die Zivilbevölkerung. Wie zuvor in vielen anderen Städten warfen Armeehubschrauber unmittelbar nach Beginn der IS-Offensive in Yarmuk Fassbomben ab; Infanterietrupps feuerten Granaten in den einst dicht besiedelten Stadtteil, der nur wenige Kilometer entfernt von Assads Präsidentenpalast liegt. Doch nicht so sehr die vom IS eingenommenen Viertel waren Ziel der Angriffe, berichten Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die verzweifelt versuchen, die rund 18 000 verbliebenen Bewohner mit dem Notwendigsten zu versorgen. Vielmehr wurden vor allem Gebiete angegriffen, in denen nach wie vor Aktivisten präsent sind, die sich sowohl dem Terror des Regimes als auch dem der Islamisten entgegenstellen. Die Revolutionäre der ersten Stunde stehen in Syrien zwischen allen Fronten.
Dass Assad die Spaltung der PLO gelungen ist, zeigt, wie sehr seine Propaganda verfangen hat. In zahlreichen Interviews mit ausländischen Medien hat er seit Beginn des Jahres immer wieder die gleiche Botschaft verkündet: Nur seine Regierung sei in der Lage, den Kampf gegen die Terroristen des IS und der Nusra-Front aufzunehmen. Sollte es die von den USA geführte Anti-IS-Luftallianz ernst meinen, müsse sie sich an ihn halten.
Das lehnen US-Präsident Barack Obama und dessen westliche Verbündete offiziell zwar weiterhin ab. Indirekt aber leisten sie ihm mit ihren Luftschlägen fleißig Schützenhilfe. Der neue Krieg gegen den Terror, den Amerika und seine westlichen sowie arabischen Alliierten im Irak und in Syrien, in Libyen und im Jemen führen, hat den 2011 in der arabischen Welt begonnenen Kampf um Freiheit und politische Teilhabe für lange Zeit beerdigt. Noch sehen die westlichen Führer in den starken Männern von Bagdad und Kairo, Haider al-Abadi und Abd al-Fattah al-Sisi Partner, in Syriens Assad aber nicht. Welche Garantie gibt es, dass sich das morgen nicht schon ändern kann?
Gespaltene Opposition
Durch seine Strategie des Teilens und Herrschens ist es dem Diktator von Damaskus aber nicht nur gelungen, Uneinigkeit unter die Palästinenser zu bringen. Ein Riss geht durch die gesamte Opposition – sei es auf dem Schlachtfeld in Syrien, wo immer neue Allianzen entstehen; sei es im Exil, wo die Auseinandersetzungen zwischen Dissidenten und Oppositionellen, die zu einem Dialog mit dem Regime bereit sind, immer neue Blüten treiben.
Dass es bei einem von der russischen Regierung im April in Moskau einberufenen Treffen nicht gelang, zumindest einen Minimalkonsens zwischen Regierungsvertretern und den von ihr geduldeten oppositionellen Kräften zu erreichen, ist erschreckend: Drei Jahre, nachdem der damalige Syrien-Sondergesandte der Vereinten Nationen, der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan, 2012 sein Mandat entnervt niedergelegt hat, gibt es auf internationaler Ebene nicht einmal mehr den Ansatz einer politischen Plans zur Lösung des Konflikts.
Mehr als 220 000 Tote, fast eine Million Verwundete und elf Millionen Flüchtlinge sowie Binnenvertriebene haben zu keinem größeren Aufschrei geführt – eher schon wird die größte humanitäre Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg schlicht verdrängt. Aus Sorge, den NATO-Partner Türkei zu verprellen, sehen Washington, Paris, London und Berlin davon ab, die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG stärker zu bewaffnen. Dabei haben diese bei der Verteidigung der Grenzstadt Kobane deutlich gemacht, dass es nicht Assad als Partner bedarf, um erfolgreich gegen die IS-Dschihadisten zu kämpfen.
Heute ist Kobane ein Trümmerfeld, das erahnen lässt, was Yarmuk droht, wenn die internationale Gemeinschaft nicht endlich einschreitet, um die Belagerung zu beenden. Bei der Befreiung von Assads Todeslager auf den Mann zu setzen, der dort seit bald zwei Jahren Tausende zu Geiseln seines Terrors gemacht hat, wäre zynisch und pervers.
Markus Bickel ist Kairo-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Autor des Buches „Der vergessene Nahostkonflikt“.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2015, S. 98-101