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01. Mai 2003

Zeitenwende

Dominanz und Interdependenz nach dem Irak-Krieg

Ausbruch und Ablauf des Irak-Krieges haben schlagartig deutlich gemacht, dass sich unsere Welt neu gestaltet; die Konturen einer neuen Weltordnung werden sichtbar. Wir sind Zeugen der Entstehung einer neuen Ära, die, so der Otto-Wolff-Direktor des Forschungsinstituts der DGAP, beherrscht wird durch das Spannungsverhältnis zwischen amerikanischer Dominanz und globaler Interdependenz.

Ausbruch und Ablauf des Irak-Krieges haben schlaglichtartig verdeutlicht, wie sehr sich die Weltordnung neu gestaltet. Die meisten der hierbei entscheidenden Veränderungsprozesse reichen allerdings weiter zurück, sogar bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, namentlich die Entwicklung transnationaler Interdependenz. Erst das Zusammentreffen mehrerer Trends, insbesondere die Ereignisse und Folgen der Anschläge vom 11. September 2001, erzeugten so tief greifende Veränderungen, dass sie die Konturen einer neuen Weltordnung sichtbar werden lassen. Sie löst nicht nur die vom Ost-West-Konflikt beherrschte bipolare Ordnung ab, sondern auch das ihr unterlegte und viel ältere, das moderne Völkerrecht begründende System des Westfälischen Friedens. Eine neue Ära hat begonnen, die durch das Spannungsverhältnis zwischen amerikanischer Dominanz und globaler Interdependenz beherrscht wird.

Das moderne Staatensystem wie auch das gegenwärtige Völkerrecht haben ihren Ursprung im Westfälischen Frieden von 1648. Er beendete einen mörderischen Krieg, bei dem religiöse Glaubens- und politische Machtansprüche der damaligen Konfliktparteien das Zentrum Europas verwüstet hatten. Der Friedensschluss von Münster und Osnabrück wurde zum Ausgangspunkt des modernen, durch Grenzen abgeschotteten Territorialstaats; er begründete die Souveränität über innere und äußere Politik und damit auch das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten. Das „westfälische System“ geht von einem Leitbild ihre Souveränität gegenseitig respektierender und im Prinzip gleicher Staaten aus, die nach innen allein bestimmen und nach außen frei im Handeln sind, so auch die Charta der Vereinten Nationen. Transnationale Interdependenz und ein neues Menschenrechtsverständnis untergraben dieses System jedoch.

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wuchsen die grenzüberschreitenden Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Akteuren, wie Individuen, Gruppen, Verbänden, Parteien oder Firmen, in geradezu dramatischem Ausmaß. Dahinter standen vielerlei Antriebskräfte: die aktiven Bemühungen von Regierungen um Abbau von zwischenstaatlichen Barrieren, technologische Durchbrüche bei Transport und Kommunikation, vom Großraumjet und Containersystem zum Internet, aber auch der moderner Marktwirtschaft inhärente Drang zur internationalen Arbeitsteilung, Konsum-, Reise- und Kommunikationskultur.

Als Folge dessen entstand die zwischen den Gesellschaften zunehmend vernetzte Welt, heute als „Globalisierung“ stattfindend. Sie hatte ihren Ursprung in den marktwirtschaftlichen Demokratien, breitete sich jedoch zunehmend auf andere Regime und den Rest der Welt aus. Besonders kennzeichnend ist die Tatsache, dass unter den Bedingungen der Globalisierung der Außenhandel schneller wächst als die Weltproduktion, und grenzüberschreitende Investitionen – derzeit  über 400 Milliarden Dollar im Jahr – wiederum schneller als die Produktion, wodurch die Gesellschaften noch intensiver vernetzt werden.

Diese transnationalen Beziehungen gehen gleichsam an den Regierungen vorbei, schaffen gegenseitige Abhängigkeiten und schränken die innere Dispositionsfähigkeit von Regierungen ein, beispielsweise in der Wirtschaftspolitik angesichts der von „außen“ kommenden Impulse. Es entsteht eine zunehmende Verletzbarkeit des klassischen Territorialstaats, dessen Grenzen sich im System der Globalisierung immer mehr nach außen öffnen. Da wirtschaftliche  Notwendigkeiten und Lebensstil moderner Gesellschaften eine Abschottung ausschließen, haben Regierungen im Grunde keine andere Wahl als zu versuchen, den Steuerungs- und Souveränitätsverlust nach innen durch Kooperation mit anderen Regierungen auszugleichen. Ähnlich ist die Wirkung der negativen Seite des Wachstums transnationaler Beziehungen: des Missbrauchs der Offenheit moderner Gesellschaften durch internationale Drogenkriminalität, Menschenhandel oder – besonders wichtig – Terrorismus. Auch hier liegt die Antwort in der Kooperation unter Regierungen, die eine angemessene Kontrolle und Bekämpfung mit einer Wahrung der unentbehrlichen transnationalen Offenheit verbinden muss.

Der nach innen und außen uneingeschränkt souveräne Territorialstaat des westfälischen Systems wird damit zu einer Fiktion, wenngleich er in den Begriffen, Konzepten und Ritualen fortbesteht. Die gewollte Globalisierung sowie die gesellschaftliche und kommunikative Vernetzung moderner Staaten, aber auch die negativen Nebenprodukte wie der internationale Terrorismus, schaffen Interdependenzen, die Kooperation und partielle Bündelung von Funktionen nationaler Regierungen zur Voraussetzung effektiver Ausübung hoheitlicher Aufgaben machen.

Der Stellenwert der Menschenrechte

Die zweite Antriebskraft, die das westfälische System untergrub, war die Stärkung des Stellenwerts der Menschenrechte. Diese spielten zwar beim westfälischen Friedensschluss keine Rolle, wohl aber die hiermit verbundene zentrale Regel der Souveränität, die zum modernen Verbot der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten führte. Zwischen diesem, auch in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegten Prinzip und den nach dem Zweiten Weltkrieg kodifizierten Menschenrechten – von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bis zu den späteren Erklärungen und Konventionen – entstand ein wachsendes Spannungsverhältnis. Die vielen Staaten, die die theoretisch universell gültigen Menschenrechte massiv unterdrückten, verschanzten sich hinter dem Recht auf Nichteinmischung. Während des Ost-West-Konflikts verteidigte die Sowjetunion, in ihrem Fahrwasser dann auch alle Diktaturen, nachhaltig dieses Prinzip. Die westlichen Demokratien, immer im Bewusstsein der prekären Stabilität der nuklearen Bipolarität, mussten damit leben.

Das Ende der Sowjetunion und des Kalten Krieges änderte den Stellenwert der Menschenrechte dramatisch. In der nördlichen Hemisphäre machte die über moderne Medien lebensnah wahrgenommene Rückkehr von Krieg, ethnischen Konflikten und Genoziden für alte und neue Demokratien die Verletzung von Menschenrechten zunehmend unannehmbar (in der südlichen Hemisphäre gab es sie schon immer, auch während des Ost-West-Konflikts).

Die Auffassung gewann an Boden, dass Tyrannen nicht beliebig mit ihrer Bevölkerung umspringen durften und dass das Leiden von Menschen von der internationalen Gemeinschaft nicht tatenlos hingenommen werden konnte, weil es „innere Angelegenheiten“ waren. Die neunziger Jahre brachten einen Wandel zur „humanitären Intervention“. Mit und ohne Mandat der Vereinten Nationen fanden militärische Interventionen statt: auf dem Balkan (bis hin zur NATO-Intervention in Kosovo), 1991 in Irak, später in Somalia, Haiti, Ost-Timor (nicht aber in Ruanda, wo deshalb fast eine Million Menschen umgebracht wurden).

Während die Erosion des westfälischen Systems durch wachsende Interdependenz in einem inkrementalen Prozess mit einer praktisch unausweichlichen inneren Logik entstanden ist, liegt der Fall bei den Menschenrechten anders. Die zunehmend blutigen Konflikte nach dem Ende des Kalten Krieges haben von Fall zu Fall das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten zugunsten humanitärer Interventionen zurücktreten lassen. Dennoch ist hierüber kein Konsens in der Staatengemeinschaft entstanden; Länder wie Russland und China verhalten sich nach wie vor äußerst reserviert, ohne sich völlig zu verschließen.

Jetzt hat die von einer Koalition von Staaten unterstützte amerikanische Intervention in Irak diese Meinungsverschiedenheiten eher verschärft. Die USA begründeten ihren ohne UN-Mandat geführten Krieg gegen Irak mit der Notwendigkeit, das Land von einem besonders grausamen Unterdrückungsregime zu befreien (neben den – von Kritikern bezweifelten –  Begründungen, Massenvernichtungswaffen zu beseitigen und die Unterstützung von Terroristen zu beenden). Washington hob damit die Rechtfertigung einer humanitären Intervention auf eine neue Ebene: Regimewechsel mittels Krieg, um damit den Menschenrechten zum Durchbruch zu verhelfen. Auf die potenziellen Folgen für die Weltordnung wird noch einzugehen sein. Es bleibt festzuhalten, dass der Irak-Krieg den festzustellenden Trend zur humanitären Intervention fortgesetzt hat. In Verbindung mit der wachsenden Interdependenz und ihren politischen Konsequenzen untergraben solche Interventionen das westfälische System der Staaten weiter.

Die Neubewertung legitimer Gewalt

Zentral für die Weltordnung und das Völkerrecht seit dem Zweiten Weltkrieg ist das Verbot der Androhung oder Anwendung von Gewalt. Nur zwei Ausnahmen sind rechtmäßig: erstens die Autorisierung von Gewalt durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, wozu es nur wenige Male gekommen ist, wie 1991 gegen Irak; zweitens zum Zweck der Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta. Neuere Entwicklungen der internationalen Politik erfordern nunmehr eine Überprüfung der Ausgestaltung dieser Ausnahmen.

Das klassische Recht auf militärische Maßnahmen im Verteidigungsfall greift unter heutigen Bedingungen zu kurz. Zu einer Zeit, als die gegen einen Staat gerichtete Aggression mit Truppen den Normalfall darstellte, waren die Kriterien einigermaßen klar. Im äußersten Fall konnte ein bedrohter Staat angesichts unmittelbarer Gefahr sogar legitim einen Präventivschlag führen, wie es beispielsweise Israel im Jahr 1967 gegen den ägyptischen Aufmarsch getan hat.

Anders liegt der Fall jedoch bei der Bedrohung durch Terroristen, die ihr Leben einsetzen, den Tod möglichst vieler Menschen anstreben und Zerstörungsmittel anwenden, die früher nur Staaten zur Verfügung standen. Gegen sie, die die wachsende Verwundbarkeit moderner und offener Gesellschaften ausnutzen und Massenvernichtungswaffen einsetzen könnten, wenn sie darauf Zugriff erhielten, versagt die klassische Abschreckungspolitik. Was noch wichtiger ist: Die Frage der Verteidigung stellt sich anders, nämlich früher, wenn eine Intervention einen terroristischen Angriff verhindern soll. Hier liegt auch die Ursache der in der neuen amerikanischen Sicherheitsstrategie1 aufgeworfenen Forderung, nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 nie wieder eine Situation eintreten zu lassen, in der es zum Handeln zu spät ist und dass deshalb unter solchen Bedingungen präventives Handeln geboten ist.

Die neue amerikanische Sicherheitsstrategie ist deshalb weltweit kritisiert worden, weil die Berechtigung des im Irak-Krieg als präventiv dargestellten Handelns aus guten Gründen bezweifelt wurde. Dennoch verweist die amerikanische Argumentation in ihrer Allgemeinheit auf ein Problem, das alle Länder, in erster Linie westliche Demokratien, teilen: Bei terroristischen Bedrohungen – vor allem in Verbindung mit Massenvernichtungswaffen – muss verantwortliche Politik die eigene Gesellschaft gegebenenfalls durch frühes, präventives und eventuell auch militärisches Handeln verteidigen.

Die zur Inanspruchnahme eines Verteidigungsrechts gemäß Artikel 51 der UN-Charta gültigen Tatbestände bedürfen deshalb einer Neudefinition. Entscheidend ist jedoch, dass dies nicht allein durch die Weltmacht, sondern in einem multilateralen Prozess mit dem Zweck einer ergänzenden Interpretation der Charta geschieht.

Auch die Frage einer legitimen Gewaltanwendung in Verbindung mit einer humanitären Intervention bedarf dringend einer gemeinschaftlichen Regelung. Es genügt nicht, diese Frage der Fall-zu-Fall-Entscheidung durch den Sicherheitsrat zu überlassen. Massive Unterdrückung, Völkermord, ethnische Säuberungen, Staatszerfall und zunehmende Gefahren für die menschliche Sicherheit sind in einem solchen Ausmaß ein Merkmal der heutigen Welt geworden, dass die Entwicklung von Kriterien wünschenswert ist, die dem Sicherheitsrat an die Hand gegeben werden können, um auf diese Weise den Handlungsdruck zu verstärken.

Eine internationale Überprüfung der Grundlagen humanitärer Intervention wäre der geeignete Ort, der in den USA anzutreffenden Argumentation entgegenzutreten, der zufolge Regimewechsel als Legitimierung einer gewaltsamen Intervention dienen kann. Regimewechsel kann zwar –  wie im Falle Serbiens – ein (willkommenes) Nebenprodukt einer humanitären Intervention sein, als allgemeines Prinzip wäre dies jedoch ein Rezept, das zu globalem Chaos führen könnte. Sofern nicht die Barriere der Legitimierung durch den Sicherheitsrat erhalten bleibt, könnte sonst über jeden Staat hergefallen werden, der einem anderen missliebig geworden ist.

Dominanz und Interdependenz

Wie die transnationale Interdependenz ist die globale Dominanz der Vereinigten Staaten ein Produkt der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – während des Ost-West-Konflikts eher verdeckt, nach seinem Ende offen und eindeutig. Dies gilt vor allem im Bereich der militärischen Fähigkeiten, wo nur die Vereinigten Staaten, die höhere Verteidigungsausgaben haben als das nächste Dutzend Staaten zusammen, zur weltweiten Projektion überlegener militärischer Macht in der Lage sind, wie sie in Irak erneut bewiesen haben. Doch die Welt ist, wie Joseph S. Nye mit Recht feststellt,2 einem dreidimensionalen Schachspiel ähnlich, das lediglich auf der obersten militärischen Ebene unipolar ist. Aber auch hier brauchen die Vereinigten Staaten den Beitrag anderer, unter ihnen Deutschland, zur Friedenserhaltung in strategisch wichtigen Gebieten wie Afghanistan und dem Balkan.

Auf der wirtschaftlichen Ebene ist die Welt multipolar. Dort bestimmen Akteure wie die Europäische Union  oder Japan das Geschehen mit. Die Europäische Union kann beispielsweise eine Konzernfusion in den Vereinigten Staaten verhindern und ist gemeinsam mit Japan unentbehrlicher Partner für Wirtschafts- und Handelsabkommen. Ohne den Austausch mit der EU und Japan kann die amerikanische Wirtschaft nicht prosperieren, auch wenn sie selbst die größte bleibt.

Noch deutlicher jedoch wird die gegenseitige Abhängigkeit auf der untersten Ebene der allgemeinen grenzüberschreitenden Beziehungen, von denen bereits die Rede war und wo die Regierungen keine volle Kontrolle haben: Kommunikation, menschliche Kontakte, Drogenhandel, Migration, Klimawandel oder Terrorismus. Dort herrschen weder Unipolarität noch amerikanische Hegemonie. Es handelt sich um Bereiche, die von zunehmender Bedeutung für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft der Vereinigten Staaten  sind und auf denen eine angemessene Politik zum Schutz oder zur Förderung der Bürger den Beitrag der anderen Mitglieder des Interdependenzsystems erfordert. Drei Viertel der Terrorismusbekämpfung spielen sich im nichtmilitärischen Bereich ab; dort ist die Kooperation unter Nachrichtendiensten, Polizei, Grenzschutz, Zoll oder Meldebehörden unentbehrlich.

Die Weltpolitik der kommenden Jahre dürfte deshalb von der Spannung zwischen der dominanten Stellung der Vereinigten Staaten im militärisch-politischen Bereich, verstärkt durch den Sieg im Krieg gegen Irak, und den komplexen Bindungen der Interdependenz beherrscht werden. Damit verbunden ist die Versuchung, die politisch-militärische Überlegenheit auch auf diejenigen Bereiche ausstrahlen zu lassen, in denen die Vereinigten Staaten die Kooperation anderer Staaten brauchen, die ihrerseits versuchen, diesen Hebel zur Durchsetzung ihrer Interessen einzusetzen.

Vereinte Nationen

Die Spannung zwischen amerikanischer Dominanz und Interdependenz dürfte auch in den Vereinten Nationen und in den beiden zentralen westlichen Zusammenschlüssen NATO und EU das Verhältnis zwischen Washington und den Partnern prägen. In den Vereinten Nationen steht hinter der Auseinandersetzung über die Rolle der Organisation in Irak nach dem Krieg die Grundsatzfrage, welche Rolle sie überhaupt in der Weltpolitik der Zukunft spielen soll. Hier ist daran zu erinnern, dass in den Vereinigten Staaten, trotz einer in den Befragungen konsistent sichtbar werdenden starken Mehrheit der Bevölkerung für eine bedeutende Rolle der Vereinten Nationen, die Kritik im Kongress und in den Medien an der Effizienz der Weltorganisation nicht nachließ und auch in der mehrmaligen Verweigerung der Beitragszahlung zum Ausdruck kam.

In der Irak-Frage spitzte sich diese Kritik weiter zu: Hatte Irak nicht über zwölf Jahre die Anordnungen des Sicherheitsrats missachtet und waren es nicht andere ständige Mitglieder wie Frankreich und Russland, die eine effektive Sanktionspolitik torpediert und die Organisation zum Papiertiger gemacht hatten? Vor und nach dem Irak-Krieg wurden Stimmen laut, die diese Kritik noch einen Schritt weiter führten: Warum sollte eine Organisation, deren Mitglieder mehrheitlich keine Demokratien sind, die Legitimität besitzen, über die Anwendung militärischer Gewalt gegenüber Diktaturen zu entscheiden?Wäre Legitimität nicht besser gewährleistet, wenn ein Bündnis von Demokratien unter amerikanischer Führung diese Aufgabe übernähme?

Im Kern geht es darum, ob die zentralen Herausforderungen der Weltpolitik der kommenden Jahre multilateral und unter Einschaltung der Vereinten Nationen, d.h. dann auch in einem komplexen, zeitraubenden und gelegentlich sogar erfolglosen Prozess geregelt werden oder ob dem Rat derjenigen gefolgt wird, die dem „wohlwollenden Hegemon“ die Aufgabe übertragen, die Probleme mit amerikanischer Macht und wechselnden Koalitionen von kooperationswilligen Partnern zu lösen. Auch wenn es immer wieder Situationen geben wird, in denen die Führungskraft der stärksten Macht, die glücklicherweise eine Demokratie ist, für die Lösung der anstehenden Probleme unentbehrlich ist, bleibt die Aufrechterhaltung der multilateralen Grundstruktur und damit auch eine zentrale Rolle der Vereinten Nationen unentbehrlich, um ein Minimum an Weltordnung zu erhalten. Unilateralismus als Grundprinzip wird unvermeidlich Nachahmer finden und damit die bestehende Ordnung untergraben. Auch kann selbst die stärkste Macht die meisten der anstehenden Probleme nicht ohne den Beitrag anderer Staaten lösen, der innerhalb von Regeln, Institutionen und Regimen zu leisten ist: von der Terrorismusbekämpfung über die Verhinderung von Seuchen zum Wiederaufbau von Staaten und zur Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen.

NATO und EU

Für die NATO als zentrale transatlantische Institution stellt sich nunmehr die Existenzfrage. Da die klassische Beistandspflicht nach Artikel 5 zur Verhinderung oder Bekämpfung von Aggressionen nicht mehr das zentrale Problem ist, hat sie nur dann eine Zukunft, wenn es ihr gelingt, ohne geografische Beschränkung dort politisch und militärisch zu wirken, wo Bedrohungen der Sicherheit entstehen: beim Terrorismus, bei der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen (in Verbindung mit Trägertechnologie), Verhinderung oder Beendigung von ethnischen Säuberungen und Völkermord. Bei Anwendung von militärischer Gewalt braucht sie ein Mandat der Vereinten Nationen. Die dem amerikanischen Verteidigungsminister, Donald Rumsfeld, zugeschriebene Äußerung, dass die Mission die Koalition definiert, enthält einen richtigen Kern, denn es ist unrealistisch, eine Beteiligung aller NATO-Mitglieder bei derartigen Aktionen zu erwarten.

Andererseits wäre es das sichere Ende der NATO, wenn sie nichts anderes wäre als ein Vorratsschuppen, in dem sich die Vereinigten Staaten je nach Bedarf willige Verbündete aussuchen. Gemeinsamkeit der Vorbereitung, des Trainings, der Interoperabilität, der Kooperation der Führungsstäbe, vor allem aber des Entscheidungsprozesses, bei dem alle mitwirken können, bleiben die Voraussetzung für eine Zukunft des Bündnisses. Dies setzt auf amerikanischer Seite voraus, dass sich die Vereinigten Staaten in eine solche Struktur und ihre Prozesse integrieren, auf europäischer Seite, dass daraus keine unvernünftigen Blockadeaktionen werden.

Dass es hierfür kein Patentrezept gibt, liegt auf der Hand. Hier ist französischer Neogaullismus ebenso gefährlich wie imperiales Gehabe in Washington. Vor allem aber wird es nötig, dass Europa einen effektiveren und gemeinsamen militärischen Beitrag leistet und die Vereinigten Staaten akzeptieren, dass die Allianz sich tendenziell in ein Bündnis verwandelt, bei dem auf der europäischen Seite zunehmend ein Partner kooperiert, der gemeinschaftlich handelt. Auch wird es nötig, dass die Europäer Massenvernichtungswaffen ernster nehmen als bisher und eine effektive Nichtverbreitungspolitik mittragen, die eine glaubwürdige Drohung mit militärischen Maßnahmen als äußerstem Mittel einschließt, statt darauf, wie es im Fall Irak von Seiten  Deutschlands und Frankreichs geschah, demonstrativ zu verzichten.

Die Europäische Union ist mitten im Prozess der Erweiterung und Vertiefung mittels des Konvents durch die gravierenden Meinungsverschiedenheiten zum Irak-Krieg in eine Krise geraten. Die inhaltlichen Meinungsverschiedenheiten unter den EU-Mitgliedern hängen eng mit den Fragen zusammen, die sich auch für die Zukunft der Vereinten Nationen und der NATO stellen. Eine nach vorn schauende Diplomatie wird sie zusammenfügen müssen und davon auszugehen haben, dass die Wiederherstellung eines vernünftigen transatlantischen Verhältnisses die Voraussetzung dafür bleibt, dass die anstehenden Probleme der Weltpolitik bewältigt werden können. Dies gilt auch für Amerika, obgleich einige Kräfte in Washington der Auffassung sind, dass ihre erneut demonstrierte militärische Stärke auch in anderen Bereichen die Fähigkeiten zu alleinigem Handeln verleiht.

Zur Verwirklichung der Erweiterung und zur Entwicklung einer eigenständigen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik gibt es auch in Zukunft keine Alternative, dann allerdings auch mit ernst zu nehmenden militärischen Fähigkeiten, zu deren Einsatz im äußersten Fall politische Bereitschaft besteht. Auf amerikanischer wie auf europäischer Seite muss versucht werden, mit Geduld und im Bewusstsein gegenseitiger Abhängigkeit die europäischen und atlantischen Strukturen neu zu beleben und den Vereinten Nationen einen angemessenen Platz in der Weltordnung zu erhalten.

Anmerkungen

1  Vgl. den leicht gekürzten Abdruck in:Internationale Politik, 12/2002, S. 113–138.

2  Vgl. Joseph S. Nye Jr., Das Paradox der amerikanischen Macht, Hamburg 2003.