Von Neinsagern und Zweiflern
Deutschland sollte an den Bemühungen um einen ständigen UN-Sitz festhalten
In die internationale Debatte über die Reform des UN-Sicherheitsrats ist Bewegung gekommen. Eine Konstellation wird sichtbar, die dem deutschen Bemühen um einen ständigen Sitz in diesem Gremium neue Ansatzpunkte zum Handeln bietet. Die neue Lage erfordert jedoch taktische Anpassungen der bisherigen deutschen Politik.
Die Reform des Sicherheitsrats war von Anfang an ein zentrales Element der nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ausgelösten Diskussion über die Reform der Vereinten Nationen. Dass Zusammensetzung und Arbeitsweise des Sicherheitsrats die internationale Konstellation am Ende des Zweiten Weltkriegs widerspiegelte, deshalb nicht mehr den Gegebenheiten des ausgehenden 20. Jahrhunderts entsprach und infolgedessen reformiert werden sollte, war internationaler Konsens geworden. Verständlicherweise brachen jedoch über die Frage, wer zu den Auserwählten gehören würde, die dem Kreis der ständigen Mitglieder hinzugefügt werden sollten, erhebliche und bis heute andauernde Meinungsverschiedenheiten aus.
Ein vom UN-Generalsekretär eingesetztes „High Level Panel on Threats, Challenges and Change“ entwickelte in einem im Dezember 2004 vorgelegten Bericht zwei Modelle für eine Erweiterung des Sicherheitsrats. Beide sahen einen Gesamtumfang von 24 Mitgliedern mit jeweils sechs Ländern aus Afrika, Asien, Amerika, Asien-Pazifik und Europa vor: im ersten Modell mit sechs neuen ständigen Mitgliedern ohne Vetorecht sowie drei zusätzlichen nichtständigen Mitgliedern, im zweiten Modell mit acht zusätzlichen „semipermanenten“ Mitgliedern für jeweils vier Jahre und wiederwählbar sowie einem zusätzlichen nichtständigen Mitglied.
Deutschland hat seit Beginn dieser Diskussion unter verschiedenen Regierungen seinen Anspruch auf einen ständigen Sitz angemeldet, der vor der letzten UN-Generalversammlung in eindeutiger Weise von Bundeskanzlerin Angela Merkel erneut zum Ausdruck gebracht wurde. Berlin hat sich bei diesem Vorhaben in der so genannten „G-4“ mit Brasilien, Indien und Japan verbündet, um diesem Anspruch größere internationale Unterstützung zu verleihen. Die G-4 befürwortet deshalb auch im Prinzip das erste Modell des UN-Panels mit ihnen selbst und zwei weiteren afrikanischen Staaten als zusätzlichen ständigen Mitgliedern. Trotz des Bemühens von Generalsekretär Kofi Annan, noch vor dem Millenniumgipfel vom September 2005 insbesondere zum Sicherheitsrat eine Entscheidung herbeizuführen, konnte eine Einigung nicht erzielt werden. Es blieb bei einer „Reform in der Warteschleife“.1
Im Jahr 2007 kam es jedoch zu erneuten Diskussionen unter den Mitgliedern der UN zu fünf Kernfragen bei der Reform des Sicherheitsrats: Umfang, Zusammensetzung, Veto, Arbeitsweise und Beziehung zur Generalversammlung. Diese resultierten in zwei Berichten vom 19.4.20072 und 26.6.2007.3 Sie kommen zum Ergebnis, dass angesichts der bestehenden Meinungsverschiedenheiten die beste und wahrscheinlich sogar einzig mögliche Option darin besteht, eine zeitlich begrenzte Interimslösung zu finden, die mit der Verpflichtung verbunden wäre, die Lösung nach einem festzulegenden Zeitraum zu überprüfen. Hierbei könnten in Anlehnung an das zweite Modell des Berichts vom Dezember 2004 neue ständige Mitglieder entweder für die Zeit der Interimslösung oder für einen längeren Zeitraum als zwei Jahre mit oder ohne Wiederwählbarkeit hinzugefügt werden.
Damit stellt sich für die deutsche Politik die Frage, ob sie eine dieser Lösungen verfolgen soll, die Deutschland zwar nicht endgültig einen ständigen Sitz geben würden, jedoch die Chance eröffneten, Praxis und längerfristige Tradition eines deutschen Sitzes zu begründen. Dies könnte Deutschland, wenn es dieses Amt in verantwortungsvoller und sein internationales Ansehen mehrender Weise ausübte, bei einer späteren Überprüfung und eventuellen Änderung der Charta helfen, einen verbrieft dauerhaften ständigen Sitz zugesprochen zu bekommen. Um dieses Ziel zu erreichen, sind jedoch eine Reihe von Rahmenbedingungen und Erfordernissen zu beachten.
Warum ein richtiges Ziel?
Keiner der Gründe, die zum deutschen Bemühen um einen ständigen Sitz geführt haben, ist durch die Entwicklungen der letzten Jahre entwertet worden. Die Konstruktion der ständigen Mitglieder – im Grunde eine moderne Version des klassischen Konzerts der Großmächte – überträgt den Staaten, die über Ressourcen und Handlungsfähigkeit verfügen, besondere Verantwortung. Dies bei Ländern wie Frankreich, Japan oder Indien als legitim anzusehen, jedoch im Falle Deutschlands als „eine Eigennutz maximierende Prestigepolitik“, wie es Gunther Hellmann und Ulrich Roos in ihrem Feldzug gegen einen deutschen Sitz kennzeichnen,4 ist nicht nachvollziehbar.
Deutschland leistet mit 8,6 Prozent Anteil am Budget einen größeren Beitrag zum Funktionieren der Vereinten Nationen als vier der fünf ständigen Mitglieder China mit 2,7 Prozent, Frankreich mit 6,3 Prozent, Großbritannien mit 6,6 Prozent und Russland mit 1,2 Prozent. Deutschland und Japan mit 16,6 Prozent bestreiten zusammen derzeitig ein Viertel des gesamten UN-Budgets, ohne einen ständigen Sitz zu haben!
Das zweite Hauptargument für eine Reform des Sicherheitsrats, nämlich seine globale Repräsentativität herzustellen, hat nichts von seiner Gültigkeit verloren. Asien und Lateinamerika sind derzeit gar nicht oder unterrepräsentiert. Einen deutschen Sitz mit dem Argument einer angeblichen Europa-Dominanz abzulehnen,5 übersieht, dass ein deutscher Sitz nur möglich ist, wenn die Erweiterung zugleich auch Afrika, Asien und Lateinamerika einbezieht. Kurioserweise halten die Gegner eines deutschen Sitzes einem europäischen Sitz nicht das Argument einer europäischen Dominanz entgegen.
Ein weiteres Argument für einen ständigen deutschen Sitz hat seit Beginn dieser Debatte an Gewicht gewonnen. Angesichts der zunehmenden Bedeutung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und der Krise des nuklearen Nichtverbreitungsregimes setzt der Beitritt von Nichtkernwaffenstaaten wie Deutschland oder Japan zum Club der ständigen Mitglieder, die bisher alle Kernwaffenstaaten waren, einen besonderen Akzent, denn die Entkopplung von Kernwaffenstatus und international anerkanntem Einfluss fördert das Prinzip der Nichtverbreitung von Kernwaffen. Widerstände
Die innenpolitischen Geburtsumstände des deutschen Bemühens um einen ständigen Sitz sind bis heute spürbar. Denn am Anfang war zwar der deutsche Anspruch offizielle Politik der Bundesregierung, doch während Außenminister Klaus Kinkel und seine Diplomaten dieses Vorhaben mit -Energie und professioneller Umsicht verfolgten, hintertrieb Bundeskanzler Helmut Kohl dieses Ziel mit diskreten Aktionen und öffentlichen Äußerungen.6 Obwohl unter den nachfolgenden Regierungen von SPD und Grünen sowie der Großen Koalition in dieser Frage vollkommene Einmütigkeit zwischen Kanzler und Außenminister bestand, gab und gibt es in den eigenen Reihen und in anderen Parteien Zweifler. Deren Argumente, die auch in der wissenschaftlich-publizistischen Diskussion zu finden sind,7 gruppieren sich um drei Motive. Da ist einmal die Überzeugung, dass angesichts seiner Vergangenheit Deutschland in der zweiten Reihe bleiben und auf Führungspositionen verzichten sollte.
Zum anderen gibt es eine Denkschule, die ich in einer früheren Auseinandersetzung als die Politik der „Gartenzwergoption“ gekennzeichnet habe: Die Deutschen konzentrieren sich auf die Bestellung des eigenen Gartens, davon ausgehend, dass andere Schaden von außen von ihm fernhalten würden.8 Diese in allen Parteien zu findende Auffassung hat besonders gravierende Folgen nicht nur im Hinblick auf den ständigen Sitz, sondern weil sie die aus der Stellung Deutschlands erwachsene Verantwortung ablehnt und von anderen Staaten erwartet, den Deutschen das schwierige Geschäft der Beteiligung an der Aufrechterhaltung der internationalen Sicherheit abzunehmen. Eine solche Einstellung, beispielsweise bei der Diskussion über das Mandat der Bundeswehr in Afghanistan zu beobachten, stößt in der internationalen Umwelt auf zunehmende Kritik und erzeugt wachsende Ressentiments.
Die Hoffnung auf einen „europäischen Sitz“ im Sicherheitsrat ist schließlich das dritte Argument gegen einen deutschen Sitz, gern vorgetragen, da einem proeuropäischen Konsens in Deutschland entsprechend. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben jedoch gezeigt, dass diese Hoffnung unrealistischer denn je ist. Weder der abgelehnte EU-Verfassungsvertrag noch der Reformvertrag haben den intergouvernementalen Charakter der EU-Außenpolitik aufheben können. Frankreich und Großbritannien geben keinerlei Anzeichen, ihren nationalen Sitz aufgeben zu wollen, und obwohl die Möglichkeit der Information und Politikabstimmung im Sicherheitsrat nach Artikel 19 EUV verbessert wurde, bleibt es im Kern beim Status quo.9 Großbritannien veranlasste die Regierungskonferenz zum Reformvertrag sogar festzustellen, dass der Vertrag die Verantwortung von EU-Mitgliedern in internationalen Organisationen einschließlich des Sicherheitsrats nicht berührt.
Auch wird oft übersehen, dass die Vereinten Nationen gemäß der Charta nur Staaten und keine regionalen Organisationen als Mitglieder haben können. Diese Frage wurde 2007 innerhalb der Organisation erneut erörtert. Der schon erwähnte Bericht der „Facilitators“ vom 19. April 2007 stellt fest, dass „viele Delegationen der Auffassung sind, dass das Konzept eines regionalen Sitzes im Hinblick auf den unterschiedlichen Charakter jeder regionalen Gruppe wie auch ihrer internen Arbeitsweise in diesem Stadium nicht realisierbar ist“ und dass „die Mehrheit der Delegationen argumentiert, dass (politische Organisationen als Kandidat für einen Sitz im Sicherheitsrat) dem intergouvernementalen Charakter der UN widersprechen würde“.10 Innerhalb der Vereinten Nationen haben sich damit die Chancen eines europäischen Sitzes eindeutig verschlechtert. Italien hat bekanntlich in einer gewaltigen Kraftanstrengung seines diplomatischen Apparats den Vorschlag eines deutschen Sitzes bekämpft, weil es offenkundig die Veränderung seines Status im Vergleich mit Deutschland nach dessen Vereinigung nicht hinnehmen will. In Europa hat die italienische Diplomatie sogar die Unterstützung von EU- oder NATO-Mitgliedschaft bei Anwärtern eingesetzt, um die eigene Position zu fördern. Auf der Ebene der UN hat Italien im so genannten „Coffee Club“ alle Staaten versammelt, die von neuen Lösungen zum Sicherheitsrat Nachteile erwarten oder ihre Zustimmung mit Konzessionen erkauft haben möchten.11 Verständlicherweise ist diese Gruppe umfangreich und heterogen. Es wäre jedoch ein Fehler, alle Teilnehmer als Gegner eines deutschen Sitzes zu verbuchen, denn die endgültige Position dieser Länder hängt letztlich davon ab, wie eine Lösung zum Sicherheitsrat insgesamt aussieht, die auch eine der Interimslösungen im obigen Sinne sein kann.
Mit dem Provisorium leben?
Eine Reform des Sicherheitsrats, die den Wünschen Deutschlands oder der G-4 entspricht, ist vorerst nicht möglich. Der Widerstand dagegen hat sehr unterschiedliche Gründe, von denen allerdings die wenigsten mit Deutschland zu tun haben. Eine Fortsetzung der Reformstagnation beraubt die Vereinten Nationen der Möglichkeit, dem Sicherheitsrat größere Legitimität und Handlungsfähigkeit in einer instabilen Welt zu geben, die dringend einer ordnenden und intervenierenden Rolle der Organisation bedarf.
Eine Interimslösung im Sinne der Vorschläge der „Facilitators“ bietet die Möglichkeit eines Provisoriums, mit dem ein Prozess des Wandels in eine den deutschen Interessen entsprechende Richtung eingeleitet wird. Die Bundesrepublik sollte sich für diesen Weg entscheiden, dabei allerdings einige Bedingungen beachten:
- Da Provisorien lange dauern können und Deutschland die Möglichkeit haben sollte, einen ständigen Sitz über einen längeren Zeitraum wahrzunehmen, sollte es nur einer Lösung zustimmen, welche die Option der Wiederwählbarkeit enthält.
- Da Deutschland den Anspruch auf einen dauerhaften ständigen Sitz aufrechterhalten sollte, muss die Abhaltung einer Überprüfung nach einer festzulegenden Zahl von Jahren zwingender Bestandteil einer Interimslösung sein (Mandatory Review).
- Deutschland sollte dem Bemühen um einen ständigen Sitz im Rahmen einer Interimslösung eine europäische Legitimierung geben. Die unter Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier während der EU-Ratspräsidentschaft mit großem Erfolg demonstrierte Fähigkeit, die deutsche Politik unter bewusster Zurücknahme eines allzu starken nationalen Profils in den Dienst der Union und ihrer gemeinsamen Interessen zu stellen, sollte Leitbild bleiben. Hierbei ist besonders wichtig, die Interessen der kleineren Mitgliedsländer zu beachten. Deutschland sollte die Abstimmung im Sicherheitsrat gemäß Artikel 19 EUV zu einer echten Koordinierung ausbauen und dabei das Ziel verfolgen, Frankreich und Großbritannien zu einem ähnlichen Verhalten zu bewegen. Der Vorschlag, dass Deutschland sich dabei innerhalb der EU zur Wahl stellt,12 erscheint wenig sinnvoll, denn dies würde nicht nur ein Sonderprivileg für Frankreich und Großbritannien schaffen, die dann zweifach, nämlich national und über die EU, Einfluss ausüben könnten, sondern eine Wahl hat nur Sinn, wenn auch andere gewählt werden können. Deshalb würde die Annahme dieses Vorschlags auf den Verzicht auf einen ständigen deutschen Sitz hinauslaufen.
- Internationale Unterstützung der deutschen Bemühungen um einen ständigen Sitz würde dadurch verstärkt, dass sich die deutsche Politik auf dem Wege dorthin wie in der Ausübung des Amtes als verantwortungsvoller Sachverwalter der internationalen Gemeinschaft verhält, eine vermittelnde und multi-lateral ausgerichtete Diplomatie betreibt, die Entwicklungshilfe verstärkt und die deutsche Rolle beim Peacekeeping ausbaut
Deutschland kann zur dringend notwendigen Reform der Vereinten Nationen beitragen, indem es eine Interimslösung zum Sicherheitsrat unterstützt, dabei jedoch seinen Anspruch auf einen ständigen Sitz aufrechterhält, innenpolitische Unterstützung für diese Rolle mobilisiert und durch die Praxis einer vernünftigen Ausübung dieses Amtes die Voraussetzung dafür schafft, bei einer späteren endgültigen Reform einen ständigen Sitz auf Dauer zu erhalten. Dieser wird dann hoffentlich Teil eines europäischen Trios im Sicherheitsrat, das seine Politik in enger Verzahnung mit der EU-Außenpolitik betreibt.
Prof. Dr. Dr. h.c. KARL KAISER, geb.1934, ist ehemaliger Otto-Wolff-Direktor des Forschungsinstituts der DGAP, z.Zt. Director, Transatlantic Relations Program, Weatherhead Center for International Affairs; Adjunct Professor of Public Policy, J.F. Kennedy School of Government, Harvard University, Cambridge, MA.
- 1Titel der bisher umfassendsten Analyse der Entwicklungen zur Sicherheitsratsreform bis Sep-tember 2001 von Lisette Andreae, München 2002.
- 2Report of the five Facilitators, www.un.org/ga/president/61/letters/SC-reform-Facil-report-20-April-07.p….
- 3Report of the two Facilitators, www.un.org/ga/president/61/letters/SCR-Report-26June2007.pdf.
- 4Von Windhunden und Hasen. Warum Deutschland aus dem Rennen um ständige Sitze im UN-Sicherheitsrat aussteigen sollte, Internationale Politik (IP), Oktober 2007, S. 92–98.
- 5Ebenda
- 6Vgl. Andreae (Anm. 1).
- 7Allerdings haben sie in der Wissenschaft und Publizistik nur ein begrenztes Echo gefunden
- 8Karl Kaiser: Der Sitz im Sicherheitsrat. Ein richtiges Ziel deutscher Außenpolitik, IP, August2004, S. 47–55.
- 9Edith Drieskens, Daniele Marchesi und Bart Kerremans: In Search of a European Dimension inthe UN Security Council, The International Spectator, September 2007, S. 421–451.
- 10Der von Hellmann und Roos an die deutsche Politik gerichtete Vorwurf, sie habe als „Polarisie-rer“ gewirkt, trifft deshalb vielmehr auf die italienische Politik zu (vgl Anm. 4).
- 11Hellmann und Roos (Anm. 4), S. 98.
Internationale Politik 2, Februar 2008, S. 96 - 101