Wissensverweigerer
Globalisierung, Ökologie, Diplomatie: Die deutsche Politik könnte viel lernen, wenn sie denn wollte
Musste wirklich erst Fukushima passieren, damit sich die Politik konsequent für eine neue Energiepolitik entscheidet? Neue Bücher über die Ära der Ökologie und das Globalisierungsparadox, über Wohlstand ohne Wachstum und eine neue internationale Politik liefern dem Berliner Betrieb viel Stoff zum Nachdenken.
Geschrieben nach Tschernobyl, aber vor Fukushima: „Aus der Geschichte erkennt man, dass es den historischen Augenblick gibt, wo das Trägheitsmoment bestehender Strukturen durchbrochen wird und manches möglich wird, was bis dahin als unmöglich galt … Wer weiß, vielleicht erleben wir einen solchen Augenblick schon bald.“ Mit diesen Sätzen endet die Weltgeschichte der Ökologie, die Joachim Radkau gewagt hat – ein außergewöhnliches, erhellendes Lern- und Erinnerungsbuch, spürbar das „Lebensthema“ des Autors, das weder in einen alarmistischen noch in einen resignativen Geisteszustand versetzt. Er denkt in Kontexten und schreibt wunderbar – ein Buch, in dem man sich lesend verlieren kann, so viele Assoziationen weckt es, bei dem man am Ende aber die eigene Sicht geschärft hat und wie vom Hochsitz aus die Landschaft klar konturiert erscheint.
Unter Rückblenden auf das 18. und 19. Jahrhundert zeichnet der Bielefelder Historiker die atemberaubend intensive Debatte der vergangenen 40 Jahre nach. Wie er das macht, legt den Gedanken durchaus nahe, dass es wahrscheinlich solcher Momente bedarf, dass aber auch „historische Augenblicke“ ohne die aufklärerischen Anstrengungen über Jahrzehnte hinweg nicht wirken. Dieses Gewachsene gibt den Einsichten erst ihre Grundierung, die Legitimität, die Argumente, die Ernsthaftigkeit.
Aber was hat das alles mit unserer Politik auf der Berliner Bühne zu tun? Sie verweigert sich ja der Diskurswelt, noch konsequenter als zu Zeiten der Kanzler Schmidt, Kohl oder Schröder. Ist es Berührungsangst? Keiner der vier Autoren, von denen hier die Rede ist, tritt den Politikern besserwisserisch oder moralisch-fundamentalistisch entgegen, nichts da von Gesinnungsethik. Im Ohr hat man, dass die schwarz-gelbe Regierung bis zur Katastrophe in Fukushima eine fröhliche Kampagne gegen die „Dagegen-Partei“, die Grünen, führte. Sie hätten es besser wissen können: Trotz mancher religiöser Momente, so Radkau, sei die Umweltbewegung tendenziell aufklärerisch angelegt gewesen, und die Neigung zur Apokalypse hätten die Medien gerne überspitzt.
Joachim Radkau warnt vor der Hoffnung auf „große Lösungen“. Das aber scheint mir der Duktus auch bei den Analysen der globalisierten Finanzmärkte, der tradierten Wachstumspolitik oder der klassischen Diplomatie – die Zeiten sind offensichtlich vorüber, in denen ganz grundsätzlich „aufgeklärt“ werden müsste über die realen Verhältnisse. Wir bewegen uns, hat man den Eindruck, in der dritten Generation einer Nachhaltigkeits- und Globalisierungsdebatte, weg von Attac, hin zum Pragmatischen.
Für Dani Rodrik, den Ökonomen aus Harvard, gilt das allemal. Oft, sagt er, sei er mit seinen Einsichten hinterhergehinkt. Sehr vorsichtig empfiehlt Rodrik ein dünnes Netz intelligenter Regeln, das die Nationalstaaten wenigstens noch mitentscheiden lässt über Markt- (und Finanzmarkt)-öffnung, über Arbeitsstandards, Industriepolitik, soziale Bedingungen. Wenn man so will: Rodrik kritisiert die globalisierte Ökonomie von innen und warnt vor einer „Hyperglobalisierung“, was heißt, wir sollten sie nicht als oberstes Gesetz betrachten. Anders gesagt: Sein Rat lautet, die Politikgestaltung nicht ganz aus der Hand zu geben.
Aber geschieht das nicht bereits? Auf den ersten Blick mag fast altmodisch anmuten, wie Rodrik das „Globalisierungsparadox“ verhandelt und als Antwort darauf einen pragmatischen Rückzug auf vertraute Staatsinstrumente und auf kleine, sehr speziell auf das jeweilige Land zugeschnittene Lösungen empfiehlt. Die (partielle) Erfolgsgeschichte Chinas und Indiens, hält Rodrik gegen solche Moden, sei gerade dadurch zu erklären, dass sie „das große Spiel der Globalisierung nicht nach den neuen Regeln, sondern nach denen von Bretton Woods spielten“. Märkte, so möchte er zeigen, funktionierten am besten dort, „wo sie es mit einem starken Staat zu tun haben“. Demokratie und „nationale Selbstbestimmung“, wie er es nennt, müssten in jedem Fall einen höheren Stellenwert haben als jede Hyperglobalisierung. Im Interesse einer verbesserten Handelsordnung wäre Ländern das Recht zuzugestehen, gegen WTO-Regeln zu verstoßen, „wenn zu befürchten ist, dass diese Regeln inländische arbeitsrechtliche und ökologische Standards aushöhlen oder wenn sie eine vernünftige innere Entwicklungspolitik behindern“. Keine Weltregierung empfiehlt er, sondern einfache und transparente „Verkehrsregeln“, die eine nachhaltige Weltwirtschaft anstreben und den Staaten Spielraum geben, demokratisch über ihre Zukunft zu entscheiden.
Nach seinem Bestseller über „Grenzen der Globalisierung“ demonstriert Dani Rodrik mit dieser glänzenden Analyse und dem Blick des Insiders, wie eine kluge und pragmatische politische Ökonomie unser Verständnis komplexer Zusammenhänge befördern und Grenzen der sinnvollen Globalisierung aufzeigen kann, ohne ins eng Nationale zurückzufallen; man möchte wetten, dass er damit auch das Gespräch zwischen den Nicht-Doktrinären verschiedener politischer Denkschulen in Gang zu setzen vermag.
Was Rodrik leider nicht (oder kaum) integriert in seine Vorstellung einer nachhaltigen Weltwirtschaft, steht bei Tim Jackson im Vordergrund: die Frage nach einer „ökologischen Makroökonomie“, oder genauer, ob eine funktionierende Wirtschaft, die auf Nachhaltigkeit setzt, ohne Wachstum denkbar ist. Einer solchen Debatte weichen die Parteien – inzwischen gern auch die Grünen – letztlich seit den ersten Ansätzen in den siebziger Jahren ängstlich, weil ratlos aus.
Aber die Agenda bestimmen die Parteien spürbar nicht mehr allein. Tim Jackson leitete immerhin die Nachhaltigkeitskommission der britischen Labour-Regierung und spielte beim Klimagipfel 2009 in Kopenhagen eine führende Rolle. Von seiner Spezies – Fachökonomen, die Fragen der ökologischen Zukunft und des nachhaltigen Wirtschaftens ins Zentrum stellen – gibt es herzlich wenig, auch hierzulande. Die Nachhaltigkeitskommission des Bundestags versammelt sie gerade, immerhin, um diesen Faden weiterzuspinnen.
Tim Jackson rückt ins Zentrum, dass das Wachstum seine Wohltaten ungleich verteile. Zudem erschöpfe sich die Ressourcenbasis rasant – besonders in den USA. Prinzipiell könne man zwar Emissionen und Wachstum entkoppeln. Aber, warnt er, schon wenn man versuche, die Erderwärmung unter zwei Grad Celsius zu halten, bedeute das, die Gesamtemissionen auf 1000 Milliarden Tonnen Kohlendioxid zu begrenzen. Zudem wächst die Weltbevölkerung – und damit die Nachfrage nach Energie und Naturressourcen. Einer der „Auswege“, den er – vorsichtig – anvisiert: Man müsse beim „Konsumismus“ an- setzen, und eine Hilfe dabei wäre, Wohlstand neu zu definieren und beispielsweise mit einzubeziehen, dass das auch etwas mit Sinn des Lebens, mit Familie, Gesundheit, Gemeinsinn zu tun hat. Menschliches Gedeihen, soziale Teilhabe, seelisches Wohlergehen, immaterielle Prosperität – solche Kategorien kommen Ökonomen sonst selten über die Lippen. Das müsse mit einem „erheblich geringeren Einsatz von Material ermöglicht werden“. Wie? Dazu sei die Kreativität von Unternehmern gefragt.
Ein Kernelement dieser Strategie, so geht er noch weiter, müsse der „Abbau sozialer Ungleichheit“ sein. Dazu bedürfe es starker Führung, zumal in den letzten 50 Jahren „fast genau der entgegengesetzte Kurs gefahren“ worden sei. Wenigstens kursorisch skizziert er, was konkret geschehen könne: Obergrenzen für Ressourcen und Emissionen ziehen; eine ökologische Steuerreform; den ökologischen Wandel in Entwicklungsländern unterstützen; die Arbeitsproduktivität nicht um jeden Preis erhöhen; in Arbeitsplätze, Vermögenswerte und Infrastruktur investieren; höhere Flexibilität bei den Arbeitszeiten ermöglichen. Spätestens dann, wenn er trocken vorschlägt, die Wirtschaftsaktivität „durch ein nach oben begrenztes Kohlenstoffbudget“ zu deckeln, wird deutlich, um welchen Tabubruch es sich in Wahrheit handelt.
Gleichwohl: Tim Jacksons Buch, locker und argumentativ, strahlt Optimismus aus – aber nicht Naivität. Verfasst hat er ein Manifest für eine grüne Opposition, die regieren will, und für eine Regierung, der „grüne“ Einsichten kommen. Das System will er korrigieren und keineswegs sprengen: Ein kleines, lehrreiches Standardwerk also hält man in Händen, das nach Jahrzehnten der Debatte zeitgemäße Argumente und neuen Schwung gibt. Einem solchen Autor traute man glatt zu, die Position zu verkünden, weniger Autos seien natürlich besser als mehr – ohne Porsche und Daimler auf die Barrikaden zu treiben. Von ihm könnte Winfried Kretschmann noch lernen: Bei seiner Stuttgarter Regierungserklärung wagte der erste grüne Ministerpräsident nicht, seine Lieblingsformel vom „Wohlstand ohne Wachstum“ auch nur in den Mund zu nehmen, derart sensibel ist immer noch diese Frage – für jeden, der an der Spitze steht.
Fragen von Wachstum, wirtschaftlicher Globalisierung und Nachhaltigkeit sind nicht Parag Khannas höchste Priorität. Ihm geht es um das Wie, also das gute Regieren. Was er dennoch mit Rodrik oder Radkau oder Jackson gemein hat, ist der realistische Blick und der Rat, nicht auf eine„Weltregierung“ oder globale Antworten auf die Fragen von heute zu warten. Khanna, von Haus aus eher ein Geopolitiker („Die Zweite Welt“), sieht mehr neue „Inseln der Politikgestaltung“ als Staaten, und dieses unübersichtliche Vielerlei, in das er Einblick gibt, erinnert ihn fast an mittelalterliche Zustände. Megastädte spielen da eine Rolle, NGOs und ebenso einflussreiche Einzelgestalten wie George Soros oder die Bill- und Melinda-Gates-Stiftung. Was man von ihm lernen kann, ist diese andere Wahrnehmung einer Welt ohne alleiniges Machtzentrum. An seinen Maßstäben gemessen, wirkt Berlin verflixt provinziell.
Oft allerdings sind das Überschriften, die Khanna den Verhältnissen in dieser pluralen, chaotischen Weltkarte aufklebt, die noch nicht recht einleuchten. Fragen möchte man zudem manchmal, ob man wirklich eine „neue Diplomatie“ erfinden muss, ob man sie „sturmfest“ und „katastrophensicher“ machen kann – und ob es das alles in Ansätzen nicht bereits gibt. Bilaterale Koalitionen, Ad-hoc- Missionen, G-20, alles bereits Realität! Seine Warnung, Akteure wie Amerika oder die Vereinten Nationen seien nicht immer „Problemlöser“, versteht sich, und vielleicht könnte man auch den Satz noch unterschreiben, aus UN-Sicht wirke die Welt so wohlgeordnet, „aber wie kann eine Organisation, die für Staaten mit Grenzen gedacht ist, die Probleme einer Welt ohne Grenzen lösen?“ Und doch stockt man. Ohne die USA wäre es zu der Libyen-Intervention nicht gekommen, und auch nicht ohne ein Votum der Vereinten Nationen, aber, dass sie nicht die Alleinverantwortlichen sind und „Macht“ heute diversifiziert ist, dürfte ihnen ja selber klar sein.
Einen gemeinsamen Nenner entdeckt man bei solchen Explorationen der Welt, wie sie ist, durchaus: Auch wenn die Autoren nicht unbedingt für „mehr Staat“ plädieren – einer Politik, die sich aus dem Marktgeschehen entweder ganz heraushält oder die an große, globale Lösungen glaubt, vertrauen sie nicht. Sie zielen auf mehr steuernde, orientierende Politik, die intelligent und flexibel interveniert und dabei, wenn möglich, langfristigen Maßstäben treu bleibt. Und last not least: Der „Kapitalismus“ ist dabei keine heilige Kuh mehr.
Ja, die Politik müsste zusammendenken, was zusammen gehört. Sie muss sich einlassen auf das Globalisierungsparadox oder mit den ökologischen Grenzen des Wachstums umgehen, mit denen Rodrik sich allenfalls am Rande befasst. Die Hyperverschuldung Griechenlands und die Sparauflagen, die Europa macht, führen zu höherer Arbeitslosigkeit, weiterer Verschuldung und in die Rezession. Zugleich muss die Politik, folgt sie den Einsichten Radkaus oder Jacksons, gezielt auf ein anderes Wachstum setzen; wenn es fair zugehen soll, in wohlhabenden Ländern sogar für „Verzicht“, „Mäßigung“, „Suffizienz“ und große Abstriche werben.
Zusammendenken allerdings, scheint mir, muss sich die Wissenschaft auch. Realitätsnäher, offener im Umgang mit den akuten Problemen sind die Autoren gewiss. Darin besteht eine unübersehbare Paradoxie, denn die Politik kann nun wahrlich nicht mehr „Theorielastigkeit“ und „Realitätsferne“ zum Vorwand nehmen, um den Diskurs zu ignorieren. Aber: Auch Dani Rodrik und Tim Jackson, um bei ihrem Beispiel zu bleiben, argumentieren in sehr unterschiedlichen Arenen, anhand sehr disparater Probleme. Beide sprechen über Grenzen, an die unsere Art des Wirtschaftens stößt, beide plädieren für einen Paradigmenwechsel auf ihrem Feld. Aber reicht es, wenn sie jeweils ihre Klientele ansprechen, mit ihrem „one issue“, und ihr Paradigma anwenden? Joachim Radkau übrigens gelingen Verknüpfungen noch am eindrücklichsten, vielleicht weil er „nur“ den Anspruch des Historikers stellt (und dennoch einen politischen Begriff von „Ökologie“ hat).
„Auf dem neuen Markt der Akteure“, schreibt Parag Khanna, „wird kollektives Wissen durch Vielfalt nutzbar gemacht, sodass das Ganze intelligenter ist als die Summe seiner Teile“. Schön! Er zitiert sodann den amerikanischen Politikwissenschaftler Robert Keohane mit dem noch schöneren Satz: „Wenn doch die Welt wüsste, was die Menschen auf der Welt wissen!“ Einverstanden … Im Falle des Irak-Kriegs allerdings, erinnert man sich, war es so, dass die US- Regierung das verfügbare Wissen über die Region im eigenen Land eher mundtot gemacht hat.
Den Klimaforschern widerfuhr Ähnliches. Und sage keiner, das geschähe so nur im fernen Amerika: Das Wissen über die Risiken der Kernenergie (oder über die Endlagerung und Gorleben) war auch vor Fukushima hierzulande schon da. Und dient Wissen nicht bestenfalls – siehe das Potsdamer Institut und Professor Schellnhuber – im Alltag nur zur Dekoration der ermatteten, überforderten Politik? Ich frage ja nur. Nein, es könnte nicht schaden, wenn die Politik sich bemühte, diese Lücke zwischen sich und dem Weltwissen zumindest zu verringern – und ernsthaft zuzuhören. Dann brauchte sie vielleicht nicht die „historischen Augenblicke“, wie Radkau sie nennt, Tschernobyl, „9/11“, Fukushima, die Revolution auf Kairos Tahrir-Platz, um sich zu besinnen.
Parag Khanna: Wie man die Welt regiert. Eine neue Diplomatie in Zeiten der Verunsicherung, Berlin Verlag, Berlin 2011,
334 Seiten, 24 €
Tim Jackson: Wohlstand ohne Wachstum, herausgegeben von der Heinrich-Böll- Stiftung, Verlag Oekom, München 2011, 239 Seiten, 19,95 €
Dani Rodrik: Das Globalisierungs-Paradox. Die Demokratie und die Zukunft der Weltwirtschaft, Verlag C. H. Beck, München
2011, 416 Seiten, 24,95 €
Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, Verlag C.H. Beck, München 2011, 782 Seiten, 29,95 €
Dr. GUNTER HOFMANN war Chefkorrespondent der ZEIT und lebt als freier Publizist in Berlin.
Internationale Politik 4, Juli/August 2011, S. 132-136