„Venus“, bitte kommen!
Die internationale Bedeutung der EU wächst: Es gilt den "europäischen Moment" zu nutzen
Selbst- und Fremdwahrnehmung der EU weichen stark voneinander ab: Drinnen herrscht ewiges Krisen-Lamento, die Außenwelt dagegen sieht einen Akteur, dessen internationale Bedeutung stetig zunimmt. Berlin muss diesen „europäischen Moment“ nutzen, um die Ära der Unsicherheiten zu beenden und Europa wieder neu zu politisieren.
Europa hat die Zeit nicht mehr, lange darum herumzureden: Es befindet sich bereits inmitten eines Neuanfangs, dessen Dimensionen erahnt, keinesfalls aber bereits politisch verarbeitet worden sind. Die EU ist als politischer Akteur gefragt, wird von außen als Ensemble wahrgenommen, und sie hat auf der politischen Landkarte Gesicht und Gewicht. Nur: Vor lauter „Krisen“, Lamento, Brüssel-Bashing und Routine sehen wir Europäer den Wald nicht.
In diese Phase fällt die deutsche Ratspräsidentschaft. Vor allem von der „Internationalisierung“ der Rolle Europas ist hier die Rede, und damit zwangsläufig von seiner Politisierung auf der Ebene der EU. Dieser Transformation ist die Europäische Union ausgesetzt, ob sie will oder nicht, und unabhängig davon, ob es ihre Kräfte übersteigt. Den Status des Kosovo, um nur ein kleines Beispiel zu nennen, müssen vornehmlich die Europäer in den kommenden Monaten aushandeln; ihnen muss es gelingen, Russland ins Boot zu holen und Washingtons Segen dafür zu erhalten. Anderes wie eine sichere Energieversorgung, die auch noch den dramatischen Klimawandel mitdenken soll, ist weit komplizierter – und umstrittener. Oder das Verhältnis zu Putins Russland, das weder Demokratie noch Rechtsstaat ist, aber in jeder Hinsicht gebraucht wird. In der EU war man letztlich gewohnt, Herr des Verfahrens und der eigenen Tagesordnung zu sein, aber das gilt derzeit nicht. Europa setzt nicht die Themen, sie werden den Europäern gesetzt.
Dabei kommt der Union zugute, dass sie in der Regel von außen anders wahrgenommen wird, als sich die Europäer selber wahrnehmen. Dabei geht es nicht so sehr um die „Insel der Seligen“, an deren Mittelmeer-Stränden jährlich zehntausende von afrikanischen Boatpeople stranden, tot oder lebendig, während die EU sich als Festung einbetoniert und ihre Zäune an den Außengrenzen immer dichtmaschiger und höher zieht. Nein, vor allem als jahrzehntelange Erfolgsgeschichte wird dieses Europa betrachtet; obgleich in Gefahr, nicht länger wissenschaftlich-technischer Innovationsmotor zu sein, ist es doch ein enormer Stabilitätsfaktor, mit Euro und Binnenmarkt, insbesondere aber ein modernes, transnationales Staatskonstrukt. Von diesem Europa wird mit Recht einiges erwartet. Was können die Deutschen als Ratspräsidenten zu dieser veränderten Rolle beitragen?
Es hat sich viel aufgestaut, „left overs“ wohin man sieht, und das ist erst die Ouvertüre. Alles trifft nun zusammen. Lange ist es zum Beispiel noch nicht her, da wäre darüber gelacht worden, wenn die Deutschen für die Zeit ihrer Ratspräsidentschaft eine neue Initiative zur Lösung des Nahost-Konflikts im Rahmen des Nahost-Quartetts ankündigen (wobei Washington desinteressiert wegblickt). Inzwischen gehört das zu den selbstverständlichen Hausaufgaben, das hat schon Joschka Fischer gesehen, auch wenn es die Europäer objektiv überfordert. Jörg Bremer, Korrespondent der FAZ in Jerusalem, kommentierte übrigens diese angekündigte Nahost-Initiative, es könne sich bald zeigen, dass die „kritischer, aber auch kontinuierlicher arbeitenden europäischen Partner, die näher am Krisengebiet leben, insgesamt schwächere, aber gleichwohl bessere Freunde Israels sind“.1 Das trifft den Nagel auf den Kopf. Ohne Amerika geht es nicht. Aber wenn Amerika die Sache nicht in die Hand nimmt? Ob die Europäer das in Israel häufig vermisste „commitment“ wirklich aufbringen, steht dahin. Und dennoch: Die Politik des großen Freundes, Washington, hinterließ ein Vakuum, und die Europäer konnten nicht länger in der Pose beobachtender Zaungäste verharren.
Ausgerechnet in diesem Moment, in dem die Wahrnehmung von Europa sich ändert und die Erwartungen an dieses Bündnis von nunmehr 27 Staaten dramatisch steigen, erlauben die Europäer sich quälende Unsicherheiten, die an die Substanz rühren. Beides hängt eng miteinander zusammen. Soll man sich so viel Ballast schultern oder zurückfallen in die Idee der Freihandels-gemeinschaft? London und dem Economist wäre – wie gewohnt – letzteres recht. Aber sogar für die zuverlässig europäische Bundesrepublik gilt, dass sie sich auf einer Gratwanderung befindet. Dieser „europäische Weg“ beispielsweise, jahrzehntelang unbestritten, könnte durchaus zur Debatte gestellt werden – Streitfragen von Brisanz deuten sich nicht zufällig innerhalb der Großen Koalition, aber auch ganz grundsätzlich an: Das reicht von der Türkei-Integration über das Verhältnis zu Russland, den Anrainerstaaten der EU im Osten bis zur Preisfrage, wie sich in der Post-Irak-Kriegs-Ära das Selbstverständnis von Amerika, Europa und dem „gemeinsamen Westen“ entwickelt. Lakonisch hat Frank-Walter Steinmeier die Ursache dafür benannt: Die Welt sei „multipolar“ geworden und das werde so bleiben, es fehle eine Ordnungsmacht, die aber kein einzelnes Land ausfüllen könne, und nach der Bipolarität des Kalten Krieges suche die Welt weiterhin „nach einer neuen Ordnung“. Unsere Republik sucht, ob sie will oder nicht, dabei mit.
Schon wahr, die EU kann sich nicht nur auf der politischen Meta-Ebene bewegen, und die Deutschen als Ratspräsidenten erst recht nicht. Gleichwohl: Eine Debatte über den Neuanfang ist überfällig. Die Unsicherheit über die innere Ordnung Europas (Verfassungskrise) wie über die künftige Rolle nach außen (nach 1989, dem 11. September und dem Irak-Krieg) spiegelt nur etwas von der irreversiblen Lageveränderung wider: Nicht mehr nur Südwesteuropa, also der Balkan, wie es in den neunziger Jahren schien, oder die Anrainerländer Polens wie die Ukraine mit ihrer verblassten „orangenen“ Revolution, auch der Nahe Osten, Iran, Irak, Afghanistan als Nachbarn der Türkei liegen direkt in der europäischen Interessenzone. Eine Eskalation des Konflikts mit Teheran, ein Zerfall des Irak, ein religiös aufgeladener Kulturkrieg, alles nicht undenkbar, werden unmittelbar zu europäischen Problemen, ob es sich heraushalten möchte oder nicht. Und da hat man von der unkontrollierten Nonproliferation von Nuklearwaffen, von Öl- und Ölpreiskrisen, von einer neuen Bedrohungslage für Israel noch gar nicht geredet. Vergleichsweise erscheinen dann Fragen nach dem Status des Kosovo oder einer Stabilisierung des Südbalkans, die oben auf der Agenda des Jahres 2007 stehen, als geradezu harmlos. Diese Wahrnehmung aber der Problemzonen als unsere Nachbarschaftsprobleme ist neu. Das ist eine der Folgen des Irak-Krieges. Was dort fehlschlägt, betrifft uns unmittelbar. Wir Europäer sehen uns derzeit um mit großen Augen und entdecken, wer unsere Nachbarn sind.
Unbestreitbar hinkt das öffentliche Bewusstsein den dramatischen Veränderungen hinterher. Am Befund ändert es freilich nichts. Selbst im Mikrokosmos spiegelt sich wider, wie sich Perspektive und Selbstverständnis verschieben: Meine Zeitung DIE ZEIT beispielsweise hat sich gewiss stets als „internationales“ Blatt verstanden, sie war transatlantisch, westlich orientiert, sie unterstützte die Ostpolitik, die Einbettung Deutschlands in Europa, die Osterweiterung, sie hat in die Welt geblickt. Und dennoch: Den alltäglichen Diskussionsstoff geben inzwischen in ganz anderem Maße „internationale“ Fragen ab, die sich gleichsam von alleine auf die Tagesordnung setzen. Das reicht vom Kleinsten bis zum Größten. Ob und wie Grenzmarkierungen zwischen Syrien und Libanon denkbar seien, wie weit die Kompetenzen der deutschen Marine vor Libanons Küste reichen, ob die Ergebnisse demokratischer Wahlen anerkannt werden, wenn sie zu „unerwünschten“ Mehrheiten führen (Hamas), wie die internen Machtverhältnisse in Damaskus aussehen, oder warum Indien als Atomwaffenstaat geduldet wird, Teheran aber nicht …
Nur andeuten lässt sich, wie sich mit einer solchen Agenda der Rahmen für Europa verändert. Innerhalb dieser neuen Unordnung, die seit dem Wendejahr 1989 herrscht, hat die Europäische Union sich zu positionieren – und zu definieren. Die USA galten als die einzig verbliebene Supermacht, anfangs verfügten sie noch über ihre normative Autorität. Traditionell hatten sie an einem einigen und starken Europa Interesse, auch wenn die „terms of trade“ schon in den Clinton-Jahren im Washingtoner Sinne verschoben wurden. Auf die militärische Stärke der USA war der alte Kontinent nach dem Ende des Systemkonflikts – siehe Kosovo – weiterhin dringend angewiesen. Amerika hatte die notwendigen Machtmittel, es hatte aber auch weiterhin Definitionsmacht. Das Debakel, in das sich die Bush-Regierung hineinmanövriert hat, führt den Europäern erst richtig vor Augen, worauf sie sich so lange – bei allem Hader – verlassen konnten. In einem gewissen Sinne schien die Welt, wie schon vor 1989, auch danach bis zum Irak-Konflikt doch wieder geordnet zu werden – nach amerikanischen Maßstäben. Das geht zu Ende. Eher deprimiert kehrte der deutsche Außenminister von einer vorweihnachtlichen Reise aus Washington zurück, wo er die EU-Agenda mit den USA hatte harmonisieren wollen – die Europäer werden empfangen, aber nicht wirklich gehört. Andererseits kann man über den europäischen Neuanfang – nach der Verfassungskrise, der Islamismus- und Türkei-Debatte, dem Bürgerkrieg im Irak und dem Unentschieden im Libanon-Krieg – nicht reden, aber über das Verhältnis zu den USA schweigen. Beides bleibt eng miteinander verflochten.
Mir scheint: Jürgen Habermas’ Befund aus dem Jahr 2003, die „normative Autorität Amerikas liegt in Trümmern“ – ein Satz der Enttäuschung, auch des Verlustschmerzes – gilt heute wie damals, und daran laboriert Europa weiter herum. Nach dem 11. September und während des Irak-Konflikts mit Europa schien das Interesse an einem „einigen und starken“ Europa zu schwinden, ja manchmal ins Gegenteil umzuschlagen. Inzwischen hat sich die Rhetorik wieder geändert. Der Irak-Konflikt spaltete, anders als prophezeit, die Europäer nicht dauerhaft, im Gegenteil, unausgesprochen können sie sich glücklich schätzen über das deutsch-französische Nein – die überwiegende Haltung von Europas Gesellschaften hat sich darin ohnehin widergespiegelt. Aber ob der Prozess der Entfremdung sich eingrenzen lässt? Für Europa ist das in keinem Sinne ein befreiender Moment. Amerikas Unsicherheiten machen Europa nicht stark.
Mars und Venus: ein Zerrbild
Wie ist es um das europäische Selbstverständnis Anfang 2007 also bestellt? Das alte Westeuropa, Churchills „Familie“, existiert nicht mehr. Das „neue“ amerikanahe, und das „alte“ amerikakritische Europa, das hat es in dieser trivialen Schlichtheit nie gegeben. Und gab es das bescheidene, kompromiss-lerische, friedensvernarrte Europa einerseits, Europa als „Venus“, und andererseits die Ordnungsmacht Amerika, den „Mars“? Auch das war ein Zerrbild. Amerika wollte noch definieren, was Europa sei, vermochte es aber schon nicht mehr so recht.
Mit Mars und Venus beschrieb der Neokonservative Robert Kagan den neuen und alten Kontinent: Die Supermacht USA, die sich quasi aus natür-lichem Selbstbewusstsein heraus auf ihre militärische Kraft verlassen kann, agiert als Ordnungsmacht, und ob die Europäer sich in ihrer Idylle einrichten oder im Windschatten mitsegeln, den Welthändeln von heute und morgen sind sie ohnehin nicht gewachsen. Erinnern muss man an diese Europa-Bilder und -Selbstbilder, weil nur so die Dimension des „Neuanfangs“ ausreichend klar wird. Denn bei aller Kritik, auf die Kagan mit seiner Mars-Venus-Beschreibung stieß, auch beim damaligen Außenminister Joschka Fischer – insgeheim traf er offenbar einen Nerv. Ja, wir sind Venus! Venus verfiel prompt in Depressionen und Krisen. Das zumindest ist jetzt vorbei. Mars ist auch nicht Mars. Die neue Befindlichkeit Europas, oder was den gemeinsamen Westen ausmache, das ist alles noch nicht definiert. Aber eine Wechselbeziehung aus europäischer Sicht bleibt es weiterhin, aus der Europa sich weder verabschieden kann noch will.
Was bleibt? Würde das Wünschen helfen, müsste man sich also einen intelligenten Diskurs des „europäischen Amerika“ und des „amerikanischen Europa“ über Europa und das Transatlantische unter den veränderten Vorzeichen wünschen. Auch über die neue europäische Rolle auf dem internationalen Terrain. Nicht zuletzt würde man sich dann von den Europäern aber auch wünschen, dass sie die Augen nicht vor dem verschließen, was sie weiterhin lernen können von den USA – der Kontinent der vielen Ethnien, Herkünfte, Religionen hat eine Offenheit und Integrationskraft gegenüber Migranten bewiesen, von der Europa für sein künftiges Selbstverständnis dringend etwas benötigt.
Und umgekehrt: Wenn sich die Deutschen beispielsweise bei der Suche nach einer alternativen Energie- und Klimapolitik jenseits von „Kyoto“ um Kooperation Washingtons bemühen – gut so, auch das wäre ein Lernen. Recht hat der Außenminister, wenn er solche Pfade sucht, unorthodox für „den Westen“, wie er sagt, aber für beide Seiten überlebenswichtig. Ein Zurück in das gemeinsame Boot, als hätte sich nichts geändert, gibt es dennoch nicht mehr. Mit seiner Autorität hat Amerika zugleich Definitionsmacht eingebüßt, Europa wird lernen müssen, eine Selbstverständigung in eigener Sache auch unter sich zu suchen – und nicht auf Vorgaben zu warten. Das war ein bequemes Ruhekissen. Künftig käme es darauf an, das „Gemeinsame“ auch gegen amerikanische Stimmen zu begründen oder wieder stärker zur Geltung zu bringen. Ohne sich die Rolle anzumaßen, Washington nun zu „belehren“ – Europa hat etwas zu verteidigen. Amerika war ein zivilisatorischer Lehrmeister, und davon bleibt etwas im kollektiven Unterbewussten, egal wie tief die Entfremdung ist.
Bemerkenswert ist es schon, wenn moderate amerikanische Politiker beider Lager, die in der Kommission der „Iraq Study Group“ mitgearbeitet haben, heute auf die Frage nach der künftigen Rolle Europas erwidern: Nicht um europäische Soldaten im Irak gehe es, aber die Europäer müssten dringend beim Aufbau ziviler Regierungen helfen. Zwischen Afghanistan und Bagdad fehle es an jeder Vorstellung davon, wie man dabei vorgehe. Die Europäer aber, die „so viele neue Mitglieder in die EU aufnahmen, mussten doch neuen Mitgliedern permanent das Funktionieren demokratischer Systeme beibringen“. Einzubringen hätten sie nun diesen Erfahrungsschatz. „Mars“ ist ratlos, roger! – „Venus“ bitte kommen!
Nicht gesagt ist damit, dass Europa diese Rollenveränderung – einfach dank der normativen Kraft des Faktischen – bereits akzeptiert, schon gar nicht herrscht Übereinstimmung darüber, wie das politisch zu übersetzen sei. Was könnte an Stelle der normativen Autorität Amerikas treten? Die Union ist noch vielstimmiger, heterogener, auch in sich ungleichzeitiger. Nichts funktioniert per Knopfdruck. Auch die Deutschen, gerade die Deutschen werden ihre kurze Präsidentschaft nicht dazu nutzen können, um aus der dissonanten Vielheit eine politische Einheit zu schmelzen. Allerdings: Sieht man sich um in Europa, sind sie nahezu die einzigen unter den Großen, denen man eine gewisse innere Stabilität und europäische Orientierung zutraut. Gar zu kleinmütig dürfen sie mithin auch nicht auftreten.
Nur darf Europa seine eigene Befindlichkeit nicht ewig an Maßstäben messen, mit denen es sich am Ende stets selber demoralisierte. Der Lissabon-Prozess ist nicht recht weitergekommen – und dennoch liegt der Wirtschaftsriese „Europa“ nicht gefesselt, geschlagen und perspektivlos am Boden. Mit „einer Stimme“ in der Außenpolitik, wie so gerne gefordert, wird Europa weiterhin nicht gleich sprechen, dazu sind die Interessen – siehe Irak, demnächst vielleicht auch Iran oder der Umgang mit Syrien und dem Islam insgesamt –, die historischen Pfade und Abhängigkeiten zu groß. Vielmehr käme es darauf an, dass Europa sich überhaupt als „Stimme“ von Gewicht und Einfluss versteht und das in die Waagschale wirft. Ein solches Europa kann in internationalen Konfliktfällen nicht nur „mitmachen“, wenn es gebeten wird, es muss offensiv seine Vorstellungen anmelden. Auch, wenn es um „robuste“ Mandate geht. Die Grünen haben Recht: Europa muss sogar über mehr Soldaten und Militärkapazitäten nachdenken. Es kann nicht nur Makler sein, sondern es muss sich aktiv als Pol in der multipolaren Welt begreifen, im Zweifel auch mit einer eigenen Armee, die nicht nur nach NATO-Maßgabe verfährt. In Washington kann die EU in ihrer neuen Rolle, trotz der asymmetrischen Kräfteverhältnisse, nicht nur „zuhören“, sie hätte auch sehr präzise Vorstellungen einzubringen darüber, was die eigene Interessenlage auf der internationalen Bühne verlangt. Der Vorschlag beispielsweise, mit Syrien und dem Iran zu sprechen, auf den auch die Baker-Kommission zusteuerte, könnte ein Test dafür sein. Noch schlittert Europa weiter, und man erkennt die Leitlinien und das Ziel nicht. Aber objektiv hat sich der Modus geändert, Europa ist Akteur, ob es nun mit einer Stimme spricht oder nicht. Und auch, wenn es bloß passiver Zuschauer bleibt.
Ermuntern möchte man vor allem die Partner in Berlins Großer Koalition, die Chance dieses europäischen Moments, der in der Luft liegt, wirklich zu nutzen. Über die Frage des Verhältnisses zu Amerika führt das weit hinaus. Grob skizziert, liegt die politische Alternative, blickt man ins Jahr 2007, zwischen „Zurück in die nationale Geborgenheit“ und „Zukunft als transnationales Ensemble mit politisch verbindenden Standards“ sowie „Standort in der multipolaren Welt“.
Was aus Europa wird, hängt nicht nur am Schicksal der Verfassung. Wie die Ausgangslage zumal vor der französischen Wahl ist, lässt sich vielleicht ein Teilstück retten. Das Argument Armin von Bogdandys, ohne Verfassung ließen sich „Bereiche nationaler Autonomie“ schwerer schützen,2 verdient gehört zu werden. Richtig wäre es freilich auch, über eine gemeinsame Legitimierung einer Verfassung durch die EU-Mitglieder zu einem gemeinsamen Datum nachzudenken.
Europas neue internationale Rolle
Weil Europa so ist, wie es ist, und weil es damit in eine neue internationale Rolle gerät, die weit über das Selbstverständnis eines Binnenmarkteuropas hinausgeht, hat es innegehalten. „Sollte sich die Türkei von Europa abwenden, wäre dies ein schwerer strategischer Verlust für die EU“, hat Frank-Walter Steinmeier in einem Interview mit dem Spiegel gestanden.3 Unüberhörbar erwiderte er damit auf Angela Merkels Vorstoß, die Entscheidung über den Beitritt in 18 Monaten von der Kommission weg in den Ministerrat zu verlagern – oder darüber gar national noch einmal abstimmen zu lassen. Das würde die Türkei zum Objekt jedes nationalen Populismus in Westeuropa machen.
Der Außenminister hat Recht: Man kann von der neuen Rolle Europas nicht sprechen, ohne die Integration der Türkei, entsprechend den Brüsseler Beschlüssen, ernsthaft zu wollen. Ausgerechnet die Zypern-Frage, die hierzulande nie sonderlich viel Aufmerksamkeit erweckte, sollte nun als Vorwand herhalten, um den islamischen Nachbarn zu zeigen, dass sie nicht zu Europa zählen? Angela Merkel gibt derzeit Signale in beide Richtungen – dafür und dagegen. Sie wird sich entscheiden müssen. Europa in einer größeren internationalen Rolle wird eine europäisch zuverlässige Türkei noch dringend brauchen. Und jede Anstrengung ist es wert, den europäischen Wertekanon zu verteidigen gegen seine Verächter.
Was Europas „Staatlichkeit“ angeht, ist es derzeit gleichfalls der Außenminister, der Farbe bekennt: Er zuckt nicht zurück, wenn von einer „Transformation des Staates“ oder „Staatlichkeit im Wandel“ die Rede ist, von einem Staat, der sich in neuartiger Wechselwirkung zwischen Brüssel und den nationalen Hauptstädten erfindet. Natürlich: Intellektuelle haben es leichter, sie müssen nicht gewählt werden. Und dennoch ist es nicht überflüssig, wenn Jürgen Habermas in dieser Transformationsphase jede öffentliche Gelegenheit nutzt, um eindeutiger als die politischen Eliten der „Halbherzigkeit“ von uns Europäern entgegenzutreten, dem „irritierenden Umstand“, dass die segensreiche Dynamik erlahmt sei und eine Rückwendung zum Nationalstaat in vielen Ländern eine „introvertierte Stimmung“ gefördert habe. Zuletzt in seiner Dankesrede für den Staatspreis Nordrhein-Westfalens am 7. November 20064 spottete er darüber, wie sich Großväter und Enkel in Talkshows „in der Rührung über den neuen Wohlfühlpatriotismus umarmen“, nach der Fußball-WM, während die „Gewissheit heiler nationaler Wurzeln“ eine wohlfahrtsstaatlich verweichlichte Bevölkerung für den globalen Wettkampf zukunftsfähig machen solle. Der Behauptung, dass die Integrationskräfte erschöpft seien und die nationalstaatlichen Rivalitäten nicht aufzulösen, trat er mit einer Verve entgegen, die gerade deshalb so auffällt, weil sie so rar geworden ist.
Einen intellektuellen Bündnispartner fände er noch in Ulrich Beck, der Europas Ort in der „Weltrisikogesellschaft“, von der er in seinem jüngsten Buch spricht, als Standort von Relevanz mit eigener politischer Vorstellungskraft und als normative Instanz geradezu neu entdeckt. Daran gemessen, hat die Politik trotz guter Absichten enormen Nachholbedarf.
Andere werden dagegen zögerlicher. Dass eine Rekonstruktion des „Sozialstaatlichen“ auf europäischer Ebene stattfinden könne, hätten sie ohnehin nie geglaubt, argumentieren durchaus „europäisch“ denkende Intellektuelle wie Wolfgang Streeck oder Fritz W. Scharpf vom Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Die EU habe nur ihr marktliberales Programm durchgesetzt, sie habe Staat und Politik abgewickelt, eine „positive Integration“ habe sie nicht bewirkt, ja nicht einmal beabsichtigt. Europa, argumentieren sie, sei ohnehin nur „Freihandel plus Stabilität“, mehr nicht. Das beschreibt ungefähr die Pole, zwischen denen sich die Debatte bewegt.
Es fällt schwer, der These zu folgen, diese Europäische Union habe kein gemeinsames Motiv mehr und es fehle ein einigendes Band. Das Argument muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden: Die nationalen Regierungen müssen Rechenschaft darüber ablegen, weshalb es diese kleinen, nationalstaatlichen Gehäuse als klassische Akteure oft gar nicht mehr gibt, schon gar nicht lupenrein. Und warum in der neuen Welt-Unordnung Europa mitreden will, anhand welcher Maßstäbe. Der New Yorker Historiker Tony Judt hat diesen pragmatischen Entstehungsprozess der EU in seinem grandiosen Buch über die „Geschichte Europas“ richtig beschrieben.5 Indirekt hat er damit aber auch klar gemacht, dass genau dieser Europäisierungsprozess nicht mehr ausreicht. Europa ist jetzt bereits – siehe Einsatz im Libanon – in der Rolle, außenpolitisch auch nach außen als Moderator auftreten, ja partiell die politisch-moralisch beschädigte Supermacht USA ersetzen zu müssen.
Form follows function, heißt es in der Kunst. Könnte es in der Politik nicht ähnlich sein? Die „Seele“ hinkt hinterher, Europa muss die Form für jene Funktion erhalten, in die es bereits geraten ist. Uns Europäern fehlt diese Fähigkeit zur Draufsicht, sozusagen aus der Vogelperspektive, oder sie ist uns abhanden gekommen. Europa wird lernen müssen, dass es nicht nur eine „Union“ bildet samt Kommission in Brüssel und einem netten Kommissionspräsidenten, sondern ein System von verflochtenen Nationalstaaten, die Souveränitätsverluste mit transnationalen Souveränitätsgewinnen wettmachen, und zudem eine sehr heterogene europäische Gesamtgesellschaft. Als solche Gesellschaft, als Ensemble Europa, nähert sich dieses Projekt allmählich dann doch dem Grundmuster der Vereinigten Staaten an. Das zu konstatieren, mag vermessen oder blauäugig klingen. Und dennoch ist damit die Dimension des Neuanfangs, über den zu entscheiden ist, exakt beschrieben. Wer will, mag es auch mit Armin von Bogdandy „die europäische Republik“ nennen.
Dass den Deutschen in diesem unerklärten, aber spürbaren Neuanfangsprozess eine besondere Rolle zukommt, hängt weniger mit der EU-Präsidentschaft oder einem anmaßenden Führungsanspruch zusammen als mit der politischen Lage – und dem Vakuum ringsumher. Die These vom Neuanfang wird auch nicht falsifiziert, weil Wladimir Putin die EU damit umwirbt. Eindeutig vom gemeinsamen Europa – über die EU hinaus – spricht der russische Präsident, wenn er insistiert: „Sowohl nach seinem Geist als auch nach seinen historischen und kulturellen Traditionen ist Rußland ein natürlicher Bestandteil der ‚europäischen Familie … Wenn man von den gemeinsamen Werten spricht, muss auch die historisch entstandene Vielfalt der einheitlichen europäischen Zivilisation berücksichtigt werden. Es wäre hier aussichtslos und falsch, irgendwem künstliche ‚Durchschnitts‘-Klischees aufzuzwingen … auch Russland mit einer mehr als tausendjährigen Geschichte hat den europäischen Partnern einiges zu bieten.“6
Lässt man einmal das strotzende Selbstbewusstsein der neuen „Energie-supermacht“ beiseite, bleibt immerhin auch dann noch ein richtiger Kern: Es reicht nicht mehr, wenn Europa nach innen blickt; seine internationale Rolle rückt ins Zentrum, und dabei spielt eine eminente Rolle, wer von den Nicht-EU-Nachbarn sich als „europäisch“ begreift und wie Europa damit umgeht. Ironie der Geschichte: Es muss nun selbst „normative Autorität“ beweisen.
Die Zeit des Hineinschlitterns in eine permanent wachsende EU ist sicher vorbei. Über Rumänien und Bulgarien haben noch einmal die Eliten entschieden, jetzt melden sich Europas zivile Gesellschaften zu Wort. Aber das ist nun einmal europäische Demokratie. Thematisieren müssen die Deutschen nicht nur, was ihnen ohnehin vorgegeben wird, sondern auch das, was ihnen auf die Füße fällt, wenn sie es ignorieren. Noch einmal: Das „Irak-Debakel“ steht auf keiner Tagesordnung, und doch ist die Welt in der Post-Irak-Ära das alles überschattende Thema. Schön wär’s, wenn die Verfassung zu retten ist. Europa braucht Regeln. Der Ära der negativen Integration muss eine der positiven folgen. Aber das alleine würde die Ära der Unsicherheiten auch nicht beenden. Europa ist grenzen-loser, multiethnischer, multireligiöser, transnationaler geworden, es ist eine gemixte und offene Gesellschaft und muss damit offensiv umgehen.
Nicht nur sympathisch, auch politisch folgerichtig klingen für mich Hilferufe wie jener des amerikanischen Schriftstellers Louis Begley, der argumentiert, der Antiamerikanismus beginne zu schmerzen und die alten europäischen Gewohnheiten, Amerikaner als Wilde und Cowboys zu karikieren, empfinde er „nicht mehr als komisch“. Die Eliten auf beiden Seiten des Atlantik, fügt Begley hinzu, müssten begreifen. Begreifen müssten die an der amerikanischen Küste, „dass wir isoliert sein werden, sobald wir die Freundschaft Europas verlieren“. Die an Europas Küste sollten begreifen, dass die USA als Supermacht kein vergängliches Gebilde sind, „und dass es nützt, diesen Giganten für die Wiederbelebung einer Beziehung zu gewinnen, die von Verständnis und Vertrauen geprägt ist“.7
Altmodisches Denken? Vielleicht. Aber eine sichere Grundlage in all der neuen Unübersichtlichkeit wäre es schon, und immer noch der beste Impuls, um den „europäischen Moment“ wirklich zu nutzen, den Europa selbst nicht auf die Tagesordnung gesetzt hat.
Dr. GUNTER HOFMANN, geb. 1942, ist Chefkorrespondent der ZEIT in Berlin. Sein jüngstes Buch „Familienbande. Die Politisierung Europas“ erschien 2005.
- 1Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 11.12.2006.
- 2Aus Politik und Zeitgeschichte, 5.9.2006.
- 3Der Spiegel, 11.12.2006.
- 4Die Rede von Professor Habermas ist zu finden unter http://www.presseservice.nrw.de/reden2006/ 4_2006/061107_Dankesrede_Habermas.php.
- 5Tony Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München 2006.
- 6 FAZ, 22.11.2006.
- 7Süddeutsche Zeitung, 18.11.2006.
Internationale Politik 1, Januar 2007, S. 6 - 15.