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01. März 2008

Röttgen oder Rüttgers?

„Kampf für Nokia“ oder „Globalisierung gestalten“: Die deutsche Christdemokratie sendet wirtschaftspolitisch äußerst ver

In der Pose des aufgewühlten Arbeiterführers hat der nordrheinwestfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, ein Christdemokrat, den „Kampf für Nokia“ propagiert. Solidarität bekundete er den 2300 Beschäftigten in Bochum, die von dem finnischen Mobilfunkgiganten Nokia entlassen werden, weil dieser seinen Standort ins rumänische Cluj (Klausenburg) verlagert. Aber was bitte ist das Ziel dieses „Kampfes“? Aus ähnlichem Geist stammt offenkundig ein Büchlein, das soeben unter dem Titel „Der Nokia-Boykott – Deutschland wehrt sich“ erschienen ist. Ja, wehren gegen was? In die Rolle des „Landesvaters“, der seine „Landeskinder“ gegen die Kaltschnäuzigkeit von Managern bewahren will, war Rüttgers schon einmal geschlüpft, als es um die Entlassung von 3000 Beschäftigten des taiwanesischen Mobilfunkgiganten BenQ ging. Und so hat er auch erfolgreich die eigene Partei und die SPD in eine Revision von Gerhard Schröders „Hartz IV“ getrieben – eine sozialökonomische Operation, mit der die rot-grüne Koalition seinerzeit den Sozialstaat wie den Arbeitsmarkt auf die Herausforderungen einer globalisierten Ökonomie einzujustieren versuchte.

Merkwürdig kontrastiert mit solchen Solidaritätsparolen die Grundthese eines Aufsatzes von Norbert Röttgen, Parteifreund von Rüttgers, der am 30. Januar in der FAZ erschien. Röttgens Text stand unter der Überschrift: „Die Globalisierung politisch gestalten“. Sein Plädoyer geht dahin, sich der Modernisierung nicht zu verweigern. Was gilt nun: Röttgen oder Rüttgers? Kampf für Nokia oder eine Auseinandersetzung mit der Globalisierung? Der „erste politische Akt“, riet der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion und gewiss einer ihrer klügsten Köpfe, müsse in der „Willensentscheidung“ bestehen, die Globalisierung anzunehmen. Die Alternative laute: Verweigerer oder Gestalter. Zu dieser Entscheidung hätte sich bislang weder die Bevölkerung noch die Politik durchgerungen. Diese Kontroverse werde einer der Gründe für eine „Neuordnung des Parteiensystems“ sein, prognostizierte Röttgen, „denn das herkömmliche Links-rechts-Schema kann unter den Bedingungen der Globalisierung nicht aufrechterhalten werden“.

Gut gebrüllt, Löwe. Eindeutig nicht Recht allerdings hat Röttgen mit der Vermutung, es sei nur noch „eine Frage der Zeit“, bis die SPD sich wieder auf der Seite derjenigen wiederfinden werde, deren Botschaft laute: „Wir schützen euch vor der Globalisierung, wir versuchen, sie abzumildern.“ Natürlich kann man sich dahin wechselseitig treiben. Aber Gerhard Schröders Regierung hatte sich der Modernisierung nicht verweigert, sondern darauf mit einem riskanten Paradigmenwechsel reagiert, für den sie bei Wahlen bitter abgestraft wurde. Konservative Professoren riefen die „Bürger auf die Barrikaden“, Wirtschaftsjournalisten und den allsonntäglichen Gästen von Sabine Christiansen ging das alles nicht weit genug: Man müsse die Fesseln der „blockierten Republik“ radikaler durchschneiden, drängten sie. Die Partei von Röttgen und Rüttgers schwankte. Heute übertrumpfen sich unversehens Politiker beider Volksparteien mit Aufrufen wie „Macht das Ruhrgebiet Nokia-frei!“ Neuordnung des Parteiensystems? Es sieht eher so aus, als ob wir bald nur noch eine einzige „Kampf-für-bzw.-gegen-Nokia-Partei“ haben. In einem provinziellen Überbietungswettbewerb zieht jeder die nationale Fahne auf, und Nokia wird zur Schurkenfirma promoviert.

Es geht hier nicht darum, das Spekulieren der finnischen Manager pauschal gutzuheißen. Viele Fragen bleiben. Es schmeckt nach Analysten-Kapitalismus und nach Absahnen aus Brüsseler Töpfen, die solches Absahnen freilich geradezu provozieren. Wie Nokia nutzen natürlich auch deutsche Unternehmen EU-Gelder, und wie Nokia verlagern sie gewinn- und absatzmarktorientiert Standorte.

Längst schon haben Unternehmen und Banken – im Sinne des Röttgen’schen Befunds – ihre „Willensentscheidung“ getroffen, sind Teil der globalisierten Finanzmärkte und des Finanzkapitalismus geworden. Manche profitierten, manche verloren. Dieser gewandelten Realität hinkt die Politik hinterher. Die Aktivitäten etwa der Landesbank Sachsen, der BayernLB oder der WestLB, die sich voll ins weltweite Spekulationsgewerbe gestürzt haben, sind von Politikern aller Couleur still geduldet worden; jetzt machen die-selben „Kontrollinstanzen“ Milliarden zur Sanierung flüssig – aus Steuermitteln. Eine Debatte über bankfremde Geschäftspolitiken oder darüber, wie ethische Standards für Unternehmen dafür sorgen könnten, den Analysten als den wahren Antreibern des reinen Rendite-Kapitalismus Grenzen zu ziehen – das hat man von der Politik selten gehört. An dieser Stelle beispielsweise muss die Debatte dringend konkret werden.

Kampf für Nokia? Statt auf „Standort-Chauvinismus“ zu setzen, sollte die Politik ihr Publikum auch in solchen Momenten mit der Tatsache konfrontieren, dass die Bundesrepublik in jedem Fall innerhalb der EU, aber auch im weltweiten Standort- und Exportwettbewerb Großprofiteur und nicht Großverlierer ist. Zudem ist den neuen EU-Mitgliedern vermittelt worden, ihr Lebensstandard werde in der EU steigen, es gebe eine Konvergenz nach oben, auch sie würden profitieren vom Beitritt. Oder will Rüttgers rumänischen Arbeitnehmern, die ein Zehntel der deutschen Löhne erhalten, ins Gesicht sagen, der europäische Solidarpakt gelte leider nicht für sie? Als ein solcher wird die EU aber zu Recht verstanden.

Mehr noch: Wer die Globalisierung „politisch gestalten“ möchte, muss auch konkret – wie im Falle Bochum und Nokia – Europa als Chance in diesem Prozess bedenken. In einer multipolaren Welt gewinnt die Modernität des transnationalen Europa ganz neuen Stellenwert. In dem Sinne ist es bereits eine politische Entität. Und das soll man jetzt – Bochum als Chiffre – in einem nationalen Standortwettbewerb zur Disposition stellen?

Erst wenn die Voraussetzungen geklärt sind, könnte die Debatte wirklich beginnen. Zustimmen beispielsweise kann man Röttgens Bemerkung, unsere Strukturen und Debatten seien „noch immer ausgesprochen national geprägt“. Aber gleich die Gegenfrage: Lässt sich eine „europäische Handlungs- und Gestaltungsmacht auf dem Gebiet der Wirtschaft“ entwickeln, ohne Europa auch als Sozialraum mit entsprechenden Standards zu denken? Ist das nicht einerseits gerade – von außen betrachtet – der Reiz an diesem „Modell“ Europa, und andererseits auch die politische Herausforderung für Europa, soziale Mindeststandards und politische Kriterien auch andernorts anzuwenden?

„Es geht bei der anstehenden Polarisierung nicht um die Alternative Globalisierung oder trotziges Bewahren. Sondern um zwei verschiedene Wege ins 21. Jahrhundert. Einen, der von den großen Akteuren kontrolliert wird, der auf den globalen Arbeitsmarkt und Atomenergie setzt, und einen, der den Blick auf die solare Revolution richtet und auf die Herstellung von mehr Gleichheit im nationalen und europäischen Rahmen.“ Damit beispielsweise reagierte Mathias Greffrath in Le Monde diplomatique (taz vom 8. Februar 2008) auf den Aufsatz von Norbert Röttgen, der ansonsten erstaunlich echolos verhallte. Tatsächlich verbindet Röttgen das „politische Gestalten“ vor allem mit dem Ziel, die Republik „exportfähig“ zu halten. Um das zu garantieren, werden dann „Teilhabestrategien“ für die Verlierer der Globalisierung mitgedacht. Ähnliches ließe sich auch erwidern auf seine Überlegung, Wachstum dürfe als „erstrebenswertes Ziel“ nicht länger in Frage gestellt werden. Nur sei, schreibt Röttgen, der Begriff eben „neu zu legitimieren“.

Das greift viel zu kurz. Wachstum per se ist nicht mehr das Ziel. Die Umverteilungsdebatte zwischen Nord und Süd, Energielieferländern und anderen, die Erderwärmung, der Raubbau an natürlichen Ressourcen, Failing States, Terrorismus, weltweite Migration, das ist alles selbst politisch. Das „politisch zu gestalten“ ist keine „Willensentscheidung“. Der politische Akt bestünde darin, Zielvorstellungen zu entwickeln und Konsens darüber zu erstreiten. Es geht also um weit mehr als eine „neue Legitimierung“ der globalen Prozesse, wobei Europa seinen Part spielen soll. Globalisierung ist so wenig Selbstzweck wie Wachstum. Ja, Greffrath hat Recht – es geht um den richtigen Weg ins 21. Jahrhundert, und die interessante Konfliktlinie verläuft nicht zwischen Befürwortern und Realitätsverweigerern, sie verläuft zwischen denen, die sich auf diese Realitäten einlassen.

Der „Kampf für Nokia“, so wie er inszeniert wird, hat damit leider nichts zu tun. Das ist – Klosterfrau Melissengeist für die Betroffenen, geholfen wird damit nicht einem einzigen der Arbeitslosen aus Bochum. Man verschone uns bitte mit solchem Provinzialismus.

Tja, und später einmal kann man hoffentlich Röttgen und Rüttgers und andere gemeinsam einladen, auf die jüngsten Thesen Robert Kagans zu erwidern. Vielleicht müssen sie – oder Europa insgesamt – demnächst den „Kampf um die Globalisierung“ aus ganz anderen Gründen aufnehmen als geglaubt? Kagan dreht nämlich das Rad schon wieder weiter – vergesst die Globalisierung! Grob geschätzt, wird damit die Globalisierungsdebatte in vierter Runde eröffnet. In Frage gestellt wird Globalisierung nun, weil sie alle Mitspieler und Marktteilnehmer gleich behandele, während es doch heutzutage Kagan zufolge um eine Art wirtschaftlicher Mobilmachung gegen den nächsten Feind geht.

Der Autor, Mitbegründer des neokonservativen Think-Tanks „Project for the New American Century“, hatte im Irak-Krieg Furore gemacht mit seiner Behauptung, die Europäer (Venus) seien notorisch schwach und friedensverliebt, und die macht- und kriegserfahrenen Amerikaner (Mars) müssten wohl oder übel die Drecksarbeit für sie machen. Überhaupt: Besonders weil die laschen Europäer auch soziale Sicherheit großschreiben und vom teuren Wohlfahrtsstaat nicht lassen wollten, so die neoliberale Grundmelodie, verweigerten sie sich dem rauhen Wind der Globalisierung.

Jetzt hingegen spottete Kagan herablassend in der Süddeutschen Zeitung (9./10. Februar 2008): Diese seltsamen Europäer hingen kurioserweise an ihrer Lieblingsidee namens „Globalisierung“. In Wahrheit aber gehe es längst um harte Geopolitik, jetzt nicht mehr mit militärischen, sondern mit ökonomischen Mitteln, demnächst mal wieder gegen Russland und andere emporschießende Giganten. Motto: Kaum bewegt Europa sich mühsam in diese Richtung, ruft schon wieder einer „Ätsch!“ Nun kann man fragen: Wie ernst ist Kagan zu nehmen? Im Irak haben Apologeten der Demokratisierungskriege wie er ihren Kredit verspielt. Das ist sicher richtig. Aber dennoch, der Zeitgeist ändert sich: Wer gestern noch neoliberale und marktradikale Predigten hielt, empfiehlt heute häufig schon protektionistische Abwehrschlachten und nationale Industrie-Politik. Der Streit um die „richtige“ politische Gestaltung kommt spät, den Röttgen empfiehlt – in Wahrheit richtet er sich damit wohl in erster Linie an die Adresse seiner eigenen Partei.

Andere, die sich auch nicht den „Verweigerern“ zuordnen lassen, sind bereits weiter. Könnte es sein, dass man es noch einmal bedauern wird, das heimliche politische Moment der Globalisierung, die Anerkennung von vielen Machtpolen in der Welt, eine liberale Grundidee also, nicht recht erkannt zu haben? Die „Globalisierungskritik von rechts“ – sozusagen eine rechte attac, jetzt aber angeführt von den Einflussreichen oder von der G-7– könnte sich aus vielen Motiven, nicht zuletzt aber aus dem heimlichen Vorbehalt gegen dieses Liberale speisen. Kampf für Nokia? Deutschland wehrt sich? Rüttgers’ Kirchturmpolitik jedenfalls stellt sich blind und taub für solche Zusammenhänge. Den Fehler macht Röttgen glücklicherweise nicht.

Dr. GUNTER HOFMANN, geb. 1942, ist Chefkorrespondent der ZEIT in Berlin. 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2008, S. 68 - 71

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