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01. Dez. 2003

Wissen als öffentliches Gut

Die Probleme des Weltgipfels über die Informationsgesellschaft

Der Genfer Weltgipfel über die Informationsgesellschaft ist von weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit nur beiläufig zur Kenntnis genommen worden. Ralf Fücks, Vorstand der den Grünen nahe stehenden Heinrich Böll Stiftung, konstatiert dies mit Bedauern. Das Thema einer fairen Gestaltung der globalen Informations- und Wissensgesellschaft bleibe gleichwohl als zentrale Herausforderung auf der Tagesordnung der internationalen Politik.

Stell’ dir vor, zum ersten Mal findet ein Weltgipfel über die Informations- und Wissensgesellschaft statt – und die Öffentlichkeit nimmt davon allenfalls beiläufig Kenntnis. Kurz vor dem Start dieses bisher einmaligen Unterfangens am 10. Dezember in Genf erschien dieses Szenario nicht abwegig – trotz eines zweijährigen Vorbereitungsprozesses, an dem sich außer den UN-Mitgliedstaaten auch die einschlägig interessierte Wirtschaft sowie zahlreiche Nichtregierungsorganisationen beteiligt haben. Das öffentliche Desinteresse, das mit dem geringen Stellenwert des World Summit on Information Society (WSIS) bei Bundesregierung und Bundestag korrespondiert, stand im krassen Kontrast zur Relevanz der Gegenstände, die auf der Konferenz verhandelt wurden.

Offizieller Auftrag des WSIS war nichts weniger als die Verständigung auf eine gemeinsame Vision von der Zukunft der globalen Informationsgesellschaft und auf eine Strategie zu ihrer Verwirklichung. Neben einer gemeinsamen allgemeinen Deklaration, die Ziele und Grundsätze umreißt, stand in Genf ein Aktionsplan auf der Tagesordnung, der die wichtigsten Schritte und Maßnahmen auf dem Weg in das globale Kommunikationszeitalter benennt und auf einer Folgekonferenz im Jahr 2005 in Tunis überprüft werden soll.

Die Konferenz war somit eine Reaktion auf den atemberaubenden Siegeszug der elektronischen Informations- und Kommunikationstechnologien in den letzten beiden Jahrzehnten, der sich den Fortschritten der Computer- und Satellitentechnik und der Erfolgsgeschichte des Internet verdankt. Sie war zugleich eine Antwort auf die Ungleichzeitigkeit, mit der diese Entwicklung vonstatten geht: sowohl hinsichtlich der ungleichen Verteilung des Zugangs zu IKT-Medien zwischen wohlhabenden und armen Weltregionen wie des Machtungleichgewichts, das im Hinblick auf die Kontrolle von Schlüsseltechnologien und Inhalten der digitalen Welt besteht. Das beliebte Bild des „global village“, in dem alle mit allen in Echtzeit kommunizieren und die kulturellen Barrieren überwinden, täuscht über dieses Ungleichgewicht hinweg.

Der Weltgipfel vereinte mehrere Ziele und Aufgaben gleichzeitig: er war eine Entwicklungskonferenz, in der es um die Überwindung der „digitalen Kluft“ zwischen der postindustriellen Welt und den zunehmend marginalisierten Ländern geht; parallel wurde um ein supranationales Regime zur Verwaltung des World Wide Web („Internet Governance“) gerungen; schließlich stand zur Debatte, ob und wie weit das Recht auf unzensierte Kommunikation als allgemeines Menschenrecht anerkannt wird. Auch Fragen der internationalen Handelsordnung mischten sich unweigerlich in die Konferenz, obwohl die Kernfragen des „intellektuellen Eigentums“  (Intellectual Property Rights) und der Regulierung grenzüberschreitender Dienstleistungen im Rahmen anderer multilateraler Abkommen (WTO, TRIPS) verhandelt werden. Die Komplexität der Themen machte einen Erfolg der Konferenz nicht leichter, zumal das raue internationale Klima der Suche nach einem „common sense“ nicht gerade förderlich ist.

Seit dem Beschluss der Vereinten Nationen über die Einberufung des Weltgipfels im Millenniumsjahr 2000 hat sich die internationale politische Landschaft gründlich verändert. Die Konflikte zwischen armen Entwicklungsländern, aufstrebenden Schwellenländern und den reichen Staaten des globalen Nordens um Fragen der Weltwirtschaftsordnung sind schärfer geworden. Das wurde bereits auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg und der UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Monterrey deutlich, gefolgt vom spektakulären Scheitern der Welthandelskonferenz vom September diesen Jahres in Cancún.

Auch der WSIS drohte an diesen Konfliktlinien zu scheitern. Unmittelbar vor dem Gipfel fand noch eine außerplanmäßige Vorbereitungskonferenz statt, auf der ein letzter Versuch unternommen wurde, halbwegs tragfähige Vereinbarungen für die Abschlussdokumente des WSIS zu finden. Bis dahin wurden alle substanziellen Fragen streitig diskutiert.

Finanzierung

Die vor allem von Brasilien, China, Indien und Südafrika geforderte Einrichtung eines supranationalen Fonds zur Finanzierung von IKT-Investitionen in Entwicklungsländern wird von den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und Japan bislang abgelehnt. Sie berufen sich auf ihre in Monterrey bekräftigte Verpflichtung zur generellen Steigerung des Entwicklungshilfevolumens und verweisen auf die Chancen von „Public-Private-Partnership“-Projekten im Bereich der Neuen Medien.

Regulierung

Die Mehrheit der Entwicklungsländer forderte die Einrichtung einer supranationalen Regulierungsbehörde für das Internet unter dem Dach der Vereinten Nationen. Dagegen befürworteten die Industriestaaten unter Führung der USA die Weiterentwicklung zwischenstaatlicher Vereinbarungen unter Einbeziehung „sonstiger Akteure“ aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft. So sehr die erste Forderung auf den ersten Blick einzuleuchten scheint, so berechtigt ist die Sorge, dass sich dahinter nicht nur das Interesse verbirgt, nationale Medien vor der Konkurrenz transnationaler Konzerne zu schützen, sondern auch die Inhalte des Internet unter staatliche Kuratel zu stellen. Während die Industriestaaten die digitalen Medien vornehmlich unter Marktgesichtspunkten behandeln, geht es den vielen Regierungen von Entwicklungs- und Schwellenländern um eine Ausdehnung des Prinzips der nationalen Souveränität in den digitalen Raum.

Menschenrechte

Dieser Konflikt wird auch an der Frage deutlich, ob eine künftige Charta der Informationsgesellschaft sich ausdrücklich auf die Erklärung der Menschenrechte berufen und damit das Recht auf freien Zugang zu IKT-Medien zu einem unveräußerlichen Grundrecht deklarieren soll. Es leuchtet ein, dass diese Forderung auf den Widerstand autoritärer Regime stößt, allen voran der chinesischen Regierung, die im eigenen Land mit drakonischen Strafen gegen unbotmäßige Internetakteure vorgeht.

Vermarktung

Umgekehrt zeichneten sich an der Frage des internationalen Patentrechts für Software und der kommerziellen Vermarktung von Wissen durch Verlage und Medienkonzerne eher Allianzen zwischen Nichtregierungsorganisationen und Entwicklungsländern ab. Es liegt auf der Hand, dass die Entwicklung von Wissensmonopolen, die nur gegen Entgelt Zugang zu ihren Beständen ermöglichen, eine Einschränkung des Rechtes auf Bildung wie auf die Freiheit von Forschung und Lehre bedeutet, und dass diese Einschränkung besonders die weniger begüterten Länder und Bevölkerungsgruppen trifft. Eine internationale Ordnung der Wissensgesellschaft muss dafür Sorge tragen, dass öffentlich gefördertes Wissen auch unentgeltlich für die Öffentlichkeit zugänglich bleibt. Parallel sollten die Staaten verpflichtet werden, die „Wissensallmende“, also den gemeinnützigen Bereich des Wissens, systematisch zu schützen und ihre  Ausdehnung zu fördern – zum Beispiel durch den kostenfreien digitalen Zugang zu öffentlichen Datenbanken, Universitätsbibliotheken und Vorlesungsmanuskripten, wie es etwa das berühmte Massachusetts Institute of Technologie (MIT) in Boston praktiziert. Es geht um ein neues Verständnis von Wissen als öffentliches Gut, als Teil der „global commons“, das der privaten Verwertung entzogen bleibt – auch im Interesse technologischer Innovation, die durch ein überzogenes Patentrecht behindert wird.

Chancengleichheit

Der viel beschworene Grundsatz der „digitalen Chancengleichheit“, der es allen Menschen ungeachtet ihrer sozialen Stellung, ihres Geschlechts oder ihrer ethnischen Herkunft ermöglichen soll, sich umfassend zu informieren und an der öffentlichen Kommunikation teilzunehmen, bleibt eine hohle Phrase, so lange der Zugang zu Bildung und technischen Kommunikationsmitteln für einen Großteil der Weltbevölkerung unerreichbar ist. Dafür braucht es nicht nur die Verpflichtung der Regierungen in den Entwicklungsländern auf „good governance“, sondern eine erhebliche Steigerung entsprechender Hilfsprogramme der Industriestaaten.

Der Vorbereitungsprozess des Weltgipfels zeichnete sich immerhin durch neue partizipatorische Ansätze aus. Zum ersten Mal wurde bei einem UN-Gipfel eine so weitgehende Einbeziehung von Akteuren der Zivilgesellschaft (NGOs) wie der Wirtschaft praktiziert. Das ist keine Lappalie. Das Postulat einer „inklusiven“ Ausgestaltung der Wissensgesellschaft muss auch in den Methoden deutlich werden, mit denen dieses Ziel verfolgt wird.

In dieser Hinsicht stehen wir noch am Beginn einer langwierigen Entwicklung, in deren Verlauf sich die nationalen wie die supranationalen Entscheidungsprozesse in Richtung erweiterter Formen von „global governance“ verändern. Einige europäische Staaten wie die Schweiz, Dänemark, Finnland und Deutschland haben im Vorfeld der Genfer Konferenz Dialoge mit der Zivilgesellschaft organisiert und zivile Akteure neben Vertretern der Industrie in ihre Konferenzdelegationen aufgenommen. Dennoch muss man nüchtern konstatieren, dass diese symbolische Öffnung bisher nur bescheidene Auswirkungen auf die Regierungspositionen in den Vorbereitungskonferenzen hatte.

Ungeachtet des Ausgangs der Genfer Gipfelkonferenz bleibt als positives Resultat, dass sie erheblich zur programmatischen Verständigung und praktischen Vernetzung unter zivilgesellschaftlichen Akteuren beigetragen hat. Das Thema einer fairen Gestaltung der globalen Informations- und Wissensgesellschaft bleibt als zentrale Herausforderung auf der Tagesordnung der internationalen Politik.