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01. Sep 2020

Wurzeln und Gefahr des Antiamerikanismus

Der Boden für eine Abkopplung von den USA ist fruchtbar. Das ist brandgefährlich. Wer eine freiheitliche Lebensweise verteidigen will, muss das Bündnis neu beleben.

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Bild: Anti-Amerika Demo, 1982 in Bonn
Die 68er-Linke huldigte einem vehementen Antiamerikanismus, verpackt in eine antiimperialistische Ideologie: Friedensdemonstration gegen den NATO-Doppelbeschluss am 10. Juni 1982 in Bonn.

Wie kein anderes Land rufen die USA Bewunderung und Abneigung hervor. Die Haltung der europäischen Öffentlichkeit schwankt zwischen Faszination und Verdammung, oft genug mischen sich Anziehung und Ablehnung in einer Brust. Deutschland ist hier keine Ausnahme, eher ein besonders ausgeprägter Fall von Amerika-Phobie und Amerika-Begeisterung in einem.



Historisch sind beide Länder eng verbunden. Bis ins 20. Jahrhundert hinein stellten Deutsche – noch vor Briten, Iren und Italienern – die stärkste Einwanderungsgruppe in Amerika. Zwischen 1820 und 1920 wanderten rund sechs Millionen Menschen aus dem deutschen Sprachraum aus; die allermeisten nach Amerika. Allein im Jahr 1882 landeten 250 000 deutsche Auswanderer in den Vereinigten Staaten. Viele kamen in der Hoffnung auf Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage – insbesondere auf Landbesitz –, andere suchten in Amerika die religiöse und politische Freiheit, die ihnen im feudal-autoritären Deutschland verwehrt blieb. Im Amerikanischen Bürgerkrieg kämpften mehr als 500 000 Deutschamerikaner auf Seiten der Union, viele waren nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung von 1848 aus Deutschland emigriert. Aus den Reihen der deutschen Immigranten gingen berühmte Unternehmer hervor.



Deutschamerikaner wurden Abgeordnete, Gouverneure und Generäle. Gebrochen wurde diese binationale Symbiose erst mit den beiden Weltkriegen, als sich die USA und Deutschland als feindliche Mächte gegenüberstanden.



Während die Auswanderer in Amerika vornehmlich das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sahen, in dem jede und jeder die Chance auf einen Neuanfang hat, war das Amerika-Bild der kulturellen und politischen Eliten in Deutschland deutlich eingetrübt. Gewiss, für weltoffene und freiheitsliebende Geister galt Amerika als Hoffnungsträger. Die Französische Revolution von 1789 scheiterte, die Vereinigten Staaten von Amerika behaupteten sich als Republik, die sich als Vorreiter für eine neue Welt verstand. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung war ein Aufruf, alle Verhältnisse umzustürzen, in denen der Mensch ein unterdrücktes, rechtloses Dasein fristet. Ihr Echo wirkt bis heute fort, wenn die Black-Lives-Matter-Bewegung das Versprechen auf gleiche Freiheit und Menschenwürde einfordert.



Schon früh mischte sich in die Bewunderung für Amerika ein Unterton von Herablassung. Goethes berühmte Verse „Amerika, du hast es besser / Als unser Kontinent, der alte / Hast keine verfallenen Schlösser / Und keine Basalte. / Dich stört nicht im Innern / Zu lebendiger Zeit / Unnützes Erinnern / Und vergeblicher Streit“ stellten das geschichtslose Amerika gegen das historien- und kultursatte Europa – ein Motiv, das im Verlauf des 19. Jahrhunderts zur Verachtung gegenüber der kulturlosen, einem geistlosen Materialismus verfallenen „Neuen Welt“ gesteigert wird.



Amerika wird jetzt nicht mehr als Pionier des Fortschritts gesehen, sondern als Antipode Europas und Gefahr für seine inneren Werte. Europa, das ist Tiefe, Tradition, Geist, Tragik; Amerika steht für eine materialistische, technikverfallene und vom Geld beherrschte Zivilisation. Solche Klischees haben mit dem realen Amerika wenig zu tun – sie sind Abwehrprojektionen gegen die liberale Moderne, deren Motor und Inbegriff die USA waren. In der Vorstellungswelt des Antiamerikanismus fungieren die USA als ein „halluziniertes Anti-Europa“, dem alle negativen Begleiterscheinungen der kapitalistischen Moderne zugeschrieben werden. Der historische Antiamerikanismus ist ein als Hochmut getarntes Gefühl der Unterlegenheit des alten Europa gegenüber der kraftstrotzenden, unbekümmerten, der Zukunft zugewandten Neuen Welt.



Je stärker Europa die Errungenschaften amerikanischer Technik und Kultur adoptiert, desto heftiger sind auch antiamerikanische Ressentiments. Sie erreichen einen ersten Höhepunkt in den 1920er Jahren, als moderne Fabrikorganisation, Reklame, Tempo, Filmindustrie und Massenkultur sich auch in der alten Welt ausbreiten und in den Clubs zu Jazzmusik getanzt wird. Für die revolutionäre Linke ist Amerika der Tempel des Finanzkapitalismus, für die nationalkonservative Rechte die Bedrohung von Kultur und Tradition schlechthin. Der Kriegseintritt der USA auf der Seite Großbritanniens und Frankreichs und ihre Mitwirkung am Versailler Vertrag verschärfen die antiamerikanische Stimmung unter den konservativen Eliten Deutschlands.



Das „Prinzip Amerika“

Für Vordenker der antiliberalen Revolte wie Oswald Spengler, Ernst Jünger und Martin Heidegger sind die Vereinigten Staaten der Protagonist einer seelenlosen, seinsvergessenen Moderne. Dabei geht es nicht um Amerika als konkreten politisch-gesellschaftlichen Ort. Was sie fasziniert und abstößt, ist das „Prinzip Amerika“, das den Rest der Welt in seinen Bann zieht.



Martin Heidegger sieht im „Amerikanismus“ die „eigentlich gefährliche Gewalt der Maßlosigkeit, weil er in der Form der demokratischen Bürgerlichkeit und gemixt mit Christentum auftritt, und alles dieses in einer Atmosphäre der entschiedenen Geschichtslosigkeit“. Den Krieg zwischen Nazideutschland und den USA stilisiert er zum riesenhaften Entscheidungskampf zwischen schicksalhafter Geschichtlichkeit und katastrophaler Geschichtslosigkeit. Ernst Jünger sieht Amerika als Mutterland eines zügellosen Kapitalismus, der alle Sphären des Lebens durchdringt. Dagegen fordert er die „straffe Unterordnung der Wirtschaft unter den Staat“ – ein Leitbild, das er mit der kommunistischen Linken teilt.



Nicht nur in Deutschland ist der Antiamerikanismus ein Gradmesser für die Auseinandersetzung zwischen Moderne und Antimoderne. Auch in Frankreich gab und gibt es die Gleichzeitigkeit von Amerika-Sympathie und -Phobie. Die Freiheitsstatue vor New York ist ein Geschenk Frankreichs. Sie symbolisiert die Übereinstimmung der Ideale der Französischen Revolution und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Im Zweiten Weltkrieg befreiten US-Truppen das besetzte Frankreich.



Gleichzeitig spürt man bis heute die französische Kränkung über den Aufstieg der USA zur politischen und kulturellen Supermacht, der mit dem Abstieg der eigenen Weltgeltung einhergeht. Klischees über den amerikanischen Kulturimperialismus und die „McDonaldisierung der Welt“ sind weit verbreitet. 1931 veröffentlichten Robert Aron und Arnaud Danlieu, Herausgeber der zwischen rechts und links schillernden Zeitschrift L’Ordre nouveau, ein Pamphlet mit dem Titel „Le cancer américain“. Amerika sei keine Nation, sondern ein Krebsgeschwür, das die rationalistische Kultur mitsamt der Vorherrschaft von Banken und Industrie über das gesamte Leben verbreite.



Das ist spiegelbildlich die gleiche Abscheu, die man auch bei Vorreitern der „konservativen Revolution“ in Deutschland findet. Dennoch gibt es Besonderheiten im deutsch-amerikanischen Verhältnis, die nicht im universellen Antiamerikanismus aufgehen, der die Kehrseite der besonderen Rolle der USA als „globaler Nation“ ist. Es fällt auf, dass es gegenüber den Vereinigten Staaten kaum Dankbarkeit gibt, obwohl sie es doch waren, die Westdeutschland nach 1945 die Chance auf einen Wiederaufstieg in Freiheit und Wohlstand gaben. Der Verzicht auf Reparationen, der Marshall-Plan, die Berliner Luftbrücke, die amerikanische Sicherheitsgarantie für die Bundesrepublik während des Kalten Krieges, die konstruktive Rolle der Amerikaner beim Aufbau der Europäischen Gemeinschaft – all das wird eher achselzuckend abgetan. Dass auch die USA einen hohen Blutzoll für die Befreiung Europas und das Niederringen des japanischen Reiches entrichtet haben, spielt in der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg kaum eine Rolle.



Im kollektiven Gedächtnis blieb eher die Bombardierung deutscher Städte durch die britisch-amerikanische Luftwaffe. Viele Deutsche, auch meine Eltern, verrechneten den „angloamerikanischen Bombenterror“ mit den deutschen Verbrechen. Für sie waren wir quitt. In ihren Augen waren „die Amerikaner“ unter dem Strich nicht besser. Der Unterschied war nur, dass „wir“ den Krieg verloren hatten. Waren die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki nicht ebenso Kriegsverbrechen, nur ungeahndet? Es liegt auf der Hand, dass diese Aufrechnung vor allem eine Funktion hatte: Sie diente zur Entlastung des eigenen Schuldbewusstseins.



Wer glaubt, dass dieser mentale Mechanismus mit der Kriegsgeneration verschwunden ist, macht sich etwas vor. Auch große Teile der 68er entwickelten eine ähnliche Ambivalenz gegenüber den USA wie ihre Elterngeneration. Einerseits sogen sie die Impulse aus Amerika auf wie ein Schwamm: Blues und Rockmusik, Flower Power, Martin Luther King und die Bürgerrechtsbewegung, die Proteste gegen den Vietnam-Krieg. Die Jugendlichen, die in den 1960er Jahren aufwuchsen, waren eine amerikanisierte Generation. Zugleich huldigte die 68er-Linke einem vehementen Antiamerikanismus, verpackt in eine antiimperialistische Ideologie. Der „Kampf gegen den US-Imperialismus“ schoss weit darüber hinaus, die Ideale der amerikanischen Demokratie gegen ihre hässliche Wirklichkeit zu kehren. Zu den populären Sprechchören auf den Vietnam-Demonstrationen gehörte „USA-SA-SS“. Man braucht keine tiefenpsychologischen Verrenkungen, um in dieser Gleichsetzung der Vereinigten Staaten mit dem Hitlerfaschismus den Wunsch nach historischer Entlastung zu erkennen.



Die Popularität von „Ami go home“

Auch in den Protesten der deutschen „Friedensbewegung“ gegen das militärische Eingreifen der NATO im Kosovo-Krieg und die US-Intervention im Irak wiederholte sich das generationenübergreifende Narrativ vom „amerikanischen Bombenterror“. Es scheint so, als könnten die Deutschen den Amerikanern nie verzeihen, dass sie durch sie befreit wurden.



In der DDR gehörte der „amerikanische Imperialismus“ ohnehin zur alltäglichen Propaganda. Aber auch im Westen existierte unterhalb der offiziellen Rhetorik von „unseren amerikanischen Freunden“ immer eine andere Lesart, die in den USA eher eine Besatzungs- als eine Schutzmacht sah. „Ami go home“ war ein beliebter Slogan links wie rechts.



Insofern überrascht es nicht, dass der von Präsident Trump angekündigte Truppenabzug in Deutschland überwiegend auf Beifall trifft. Nach einer YouGov-Umfrage begrüßen 47 Prozent eine Reduzierung der US-Truppen, ein Viertel der Befragten befürwortet einen kompletten Abzug. Es greift zu kurz, diese Haltung lediglich auf die abstoßende Person und Politik des gegenwärtigen Präsidenten zurückzuführen. Trump wirkt lediglich als Brandbeschleuniger für die Vorbehalte und Aversionen gegenüber den USA und gibt ihnen einen rationalen Anstrich. In einer Umfrage der Körber-Stiftung vom November 2019 sprachen sich 50 Prozent der Deutschen für eine engere Zusammenarbeit mit den USA aus. 66 Prozent wünschten engere Beziehungen zu Russland, immerhin noch 60 Prozent zu China. Lediglich 39 Prozent hielten die Zusammenarbeit mit Washington für wichtiger als die mit Moskau.



Wir sollten uns nichts vormachen: Es gibt einen fruchtbaren Boden für eine Politik der Abkopplung von den USA. Sie kleidet sich heute gern in das Gewand „europäischer Souveränität“. Das ist Traumtänzerei. Die Vereinigten Staaten und Europa werden sich nur gemeinsam gegenüber den Großmachtambitionen Chinas behaupten können – sicherheits- wie technologiepolitisch. Eine Abkopplung von den USA würde Europa spalten und in das Gravitationsfeld Russlands und Chinas treiben lassen. Gleichzeitig würde die Preisgabe des Westens den autoritären Gegenspielern der liberalen Demokratie enormen Auftrieb im globalen Systemwettbewerb geben.



Antiamerikanismus ist die trübe Suppe, in der die Gegner der liberalen Moderne schwimmen. Wer unsere freiheitliche Lebensform in einer Zeit des Umbruchs sichern will, sollte alles tun, um das Bündnis mit Amerika neu zu beleben.

 

Ralf Fücks ist Mitbegründer des Zentrums Liberale Moderne. Zuvor war er lange Jahre Vorstand der Heinrich-Böll- Stiftung.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2020, S. 36-40

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