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01. März 2010

Wie wird man Atommacht?

Ein Leitfaden für Anfänger

Sie wollen sich mehr Respekt bei Ihren Nachbarstaaten verschaffen? Sie sind es leid, dass die Amerikaner Ihre hegemonialen Ambitionen ständig durchkreuzen? Sie möchten endlich in der Oberliga mitspielen? Dann gibt es nur eine Lösung: Sie brauchen Nuklearwaffen.

Sie denken, das geht nicht? Schauen Sie etwas genauer hin. Zugegeben, wenn Ihr Land zu den Unterzeichnern des Atomwaffen-Sperrvertrags gehört – und dazu gehören heute fast alle Länder – sind die Hindernisse recht hoch. Die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) kann in Ihrem Land Inspektionen durchführen – und die IAEO lässt sich heute nicht mehr so leicht an der Nase herumführen wie in den achtziger Jahren, als sie von Saddam Husseins Nuklearprogramm trotz regelmäßiger Besuche der irakischen Einrichtungen nichts bemerkt hatte. Mit genug Kreativität und vor allem Chuzpe werden Sie es dennoch schaffen. Folgen Sie einfach dieser Anleitung.

Beginnen Sie ein ziviles Nuklearprogramm. Der Atomwaffen-Sperrvertrag erlaubt dies ausdrücklich, und die Internationale Atomenergieorganisation ist sogar angehalten, Ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Damit haben Sie schon einmal die wichtigsten Bestandteile und das Know-how für ein militärisches Programm. Vor allem können Sie so legal nuklearen Brennstoff kaufen – und müssen es nicht durch halsbrecherische Aktionen beschaffen, wie es die Israelis taten, als sie 1968 ein mit Uran beladenes Schiff kaperten, weil ihr Hauptlieferant Frankreich ausgefallen war.

Machen Sie keine halben Sachen. Wenn Sie Ihre zivile nukleare Infrastruktur aufbauen, mit Kernkraftwerken zur Produktion von Uran oder Plutonium und mit den entsprechenden Forschungseinrichtungen, sollten Sie alles daran setzen, den vollständigen nuklearen Brennstoffkreislauf zu beherrschen, also vor allem die Konversion des gemahlenen Urans und die Anreicherung. Damit schaffen Sie sich die Unabhängigkeit, die Sie spätestens dann brauchen, wenn man Sie erwischt hat. Und eines ist klar: Man wird Sie erwischen.

Aber darauf kommen wir später zu sprechen. Sie kümmern sich jetzt erst einmal um die militärische Seite ihres Programms. Dafür bauen Sie Konversions- und Anreicherungsanlagen, und zwar an mehreren Orten. Einige deklarieren Sie gegenüber der IAEO und lassen sie von ihr regelmäßig inspizieren. Andere Anlagen hingegen bauen Sie in Bergen oder Tunneln (Sie haben doch daran gedacht, rechtzeitig Tunnelbohrgerät zu kaufen, oder?). In diesen geheimen, militärisch geleiteten Anlagen werden Sie künftig Uran auf waffenfähiges Niveau anreichern oder Plutonium wiederaufarbeiten. Wenn es Sie nicht stört, dass andere früh Verdacht schöpfen, können Sie noch einen Schritt weiter gehen und zum Beispiel kleine Atomreaktoren für Ihre U-Boote entwickeln. Das ist vielleicht etwas dubios, aber erlaubt. Fragen Sie die Brasilianer.

Um Ihre geheimen Anlagen zu betreiben, müssen Sie eine Menge Material einkaufen – und zwar möglichst unauffällig. Vor einigen Jahren hätten Sie dafür nur A. Q. Khan, den „Vater der pakistanischen Atombombe“, anrufen müssen. Er hätte Ihnen alles geliefert, was Sie brauchen: von der Zentrifuge bis zum Konstruktionsplan für einen nuklearen Gefechtskopf. Libyen wäre mit seiner Hilfe beinahe zur Nuklearmacht geworden. Aber ausgerechnet die Bush-Regierung hat dem cleveren Geschäftsmann das Handwerk gelegt. Sie müssen also andere Wege gehen. Und die gibt es. Nordkorea wird gerne in die Bresche springen. Dort reicht man das Know-how, das man einst selbst mit Hilfe des freundlichen Herrn aus Pakistan erworben hat, gerne weiter – gegen eine entsprechende finanzielle Vergütung, versteht sich. Syrien und der Iran haben sich Nordkoreas Hunger nach harten Devisen auf vielfältige Weise zu Nutze gemacht. Warum sollte es bei Ihnen anders sein?

Nicht alles, was Sie an Ausrüstung brauchen, ist hochsensitiv. Der größte Teil Ihrer Einkaufsliste besteht aus so genannten Dual-use-Gütern, also aus Gütern, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können. Viele davon, etwa Präzisionsröhren für Zentrifugen, können Sie frei erwerben – wobei es allerdings empfehlenswert ist, bestimmte Produkte von verschiedenen Anbietern zu kaufen oder von Zwischenhändlern beschaffen zu lassen. Denn anhand Ihres Einkaufsverhaltens könnten die ausländischen Geheimdienste auf Ihre wahren Motive schließen.

Seien Sie also originell – und verlangen Sie dies auch von Ihren Geschäftspartnern. Die Pakistani haben hier Maßstäbe gesetzt, als sie in Deutschland eine vollständige Konversionsanlage kauften und – als „Zahnpastafabrik“ deklariert – nach Hause schafften. Sollten Sie manche Gerätschaften nicht in der erforderlichen Menge kaufen können, dann müssen Sie die erworbenen Exemplare zerlegen, analysieren und nachbauen. Ein solches „reverse engineering“ ist mühsam, aber nicht unmöglich. Auch hier bietet Pakistan reichlich Anschauungsmaterial.

Ist Ihnen ein solcher direkter Ansatz zu riskant, brauchen Sie gleichwohl nicht aufzugeben. Wenn es Ihr Scheckbuch erlaubt, können Sie ja das Nuklearprogramm eines befreundeten Landes mitfinanzieren, um bei Bedarf von dort Nuklearwaffen zu erhalten. Saudi-Arabien hat die Labors von A. Q. Khan mit mehreren hundert Millionen Dollar unterstützt – was es dafür wohl bekommen hat?

Um als Nuklearmacht glaubwürdig zu sein, braucht man Trägermittel, um die Waffen ins Ziel zu bringen. Der Kauf von Flugzeugen oder Marschflugkörpern, die sich zu Nuklearwaffenträgern umrüsten lassen, ist nicht schwierig. Aber Hand aufs Herz: Ballistische Raketen sind das Maß aller Dinge. Auch dabei müssen Sie nicht auf sich allein gestellt bleiben. Behaupten Sie einfach, Ihre Raketen dienten dem Transport von Weltraumsatelliten. Nicht jeder wird Ihnen diese Begründung abkaufen, aber diejenigen, die mit Ihnen Geschäfte machen wollen, werden Leichtgläubigkeit vortäuschen. So pflegt es Russland mit seiner Hilfe für das iranische „Weltraumprogramm“. Doch selbst bei denjenigen Raketen, deren militärische Anwendung nicht zu leugnen ist, können Sie auf Hilfe zählen. Sie können, wie der Iran und Nordkorea es tun, Testergebnisse austauschen und so die Entwicklungskosten und -risiken verringern.

Bei der Wahl des Sprengkopfdesigns sollten Sie konservativ sein. Kaufen Sie sich eine CD-ROM mit den Plänen älterer chinesischer oder pakistanischer Gefechtsköpfe. Sie sind schon seit einiger Zeit im Umlauf und nicht schwer zu bekommen.

Nachdem Sie Ihre Waffe gebaut haben, wollen Sie sie natürlich auch testen. Sie könnten natürlich auch ein Design wählen, das nicht getestet werden muss, wie die erste amerikanische Atombombe von 1945. Doch wer es etwas moderner will, muss kreativer sein. Der alte Trick der erlaubten „friedlichen Atomexplosion“, den Indien 1974 benutzt hat, wirkt längst nicht mehr. Kein Mensch wird Ihnen abkaufen, dass Sie mit nuklearen Mitteln etwa einen Kanal ausheben oder einen Berg wegsprengen wollen. Aber wenn Sie Glück haben, gibt es eine andere Nation, die ohne Rücksicht auf die Weltmeinung noch „richtig“ testet und Ihnen erlaubt, Ihre Experten und Messgeräte zu dem großen Ereignis mitzubringen. Nordkorea hat auf diese Weise eine Menge Devisen erwirtschaftet. Oder sie lassen Ihre Waffen gleich von einem anderen Land testen. Südafrika tat dies für Israel, China testete für Pakistan. Bleibt schließlich noch der „kalte“ Test, bei dem Sie das spaltbare Material weglassen. Auf diese Weise können Sie wenigstens sicher sein, dass Ihre Gefechtsköpfe im Ernstfall auch funktionieren.

Eine Nuklearmacht zu werden dauert Jahrzehnte. Wie also müssen Sie sich verhalten, während sie heimlich an Ihrem militärischen Programm arbeiten? Die Grundregel lautet natürlich: den Ball flach halten und keine Aufmerksamkeit erregen. Das gilt auch für die Überprüfungskonferenzen des Atomwaffen-Sperrvertrags. Es ist nicht anstößig, wenn Sie in den Chor derer einstimmen, die rituell die Nuklearmächte anklagen oder wenn Sie eine nuklearwaffenfreie Zone für Ihre Nachbarschaft fordern. Aber überlassen Sie die lautstärksten Auftritte den anderen Ländern. Dort gibt es genug Diplomaten, die alles darum geben, den arroganten Nuklearmächten einmal so richtig die Meinung sagen zu dürfen. Auf solche Mätzchen lassen Sie sich lieber nicht ein. Und sollte der UN-Sicherheitsrat eine (nichtbindende) Resolution für eine nuklearwaffenfreie Welt verabschieden, dann verkneifen Sie sich das Lachen und stimmen einfach zu.

Trotz allem wird man Ihnen früher oder später auf die Schliche kommen. Ob durch amerikanische Satelliten, wie bei Nordkorea, einen Überläufer aus Ihren eigenen Reihen, wie im Irak, oder sogar durch eine einheimische Menschenrechtsgruppe, wie im Iran – auf die eine oder andere Weise wird Ihr Geheimnis gelüftet werden. Dumm gelaufen. Da sind Sie noch Jahre von Ihrem Ziel einer Nuklearmacht entfernt und stehen plötzlich am Pranger. Was nun? Aufgeben? Ihre Milliardeninvestitionen abschreiben? Nicht nötig. Sie können Ihr Ziel noch immer erreichen.

Der erste Schritt: Streiten Sie alles ab. Damit gewinnen Sie viele Monate Zeit, denn die internationale Staatengemeinschaft wird große Mühe haben, eine gemeinsame Linie zu finden. Wenn die Beweise erdrückend werden, räumen Sie Verfehlungen ein und versprechen Sie, von jetzt an voll mit der IAEO zu kooperieren. Dieses Versprechen müssen Sie nicht halten, denn die Wiener Behörde hat nicht genug Autorität, um Ihnen wirklich am Zeug flicken zu können. Was immer Sie auch sagen, geben Sie niemals zu, dass es Ihnen um Nuklearwaffen geht. Wenn Sie ein muslimisches Land sind, besorgen Sie sich von einem willigen Imam eine Fatwa, die nachweist, dass Nuklearwaffen mit dem Islam nicht vereinbar sind. Das kauft Ihnen zwar keines Ihrer muslimischen Bruderländer ab, aber einige im Westen. Und klagen Sie vernehmlich über das vom Westen stillschweigend tolerierte israelische Nuklearprogramm. Das macht sich gut in der arabischen Welt. Aber leugnen Sie nicht den Holocaust, denn sonst verderben Sie es sich sogar mit vielen Ihrer Sympathisanten.

Das Wichtigste: Bestehen Sie auf Ihr im Atomwaffen-Sperrvertrag festgelegtes „unveräußerliches Recht“ zur friedlichen Nutzung der Kernenergie. Werfen Sie den Nuklearmächten vor, sie versuchten, die politischen und wirtschaftlichen Vorteile der Atomenergie für sich zu monopolisieren. Das kommt vor allem in der Dritten Welt und bei der Blockfreien-Bewegung gut an. Drohungen mit einem Austritt aus dem Atomwaffen-Sperrvertrag sind dagegen weniger empfehlenswert. Damit ziehen Sie nur unnötig die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich.

Sollte ihr Nuklearprogramm zum Gegenstand internationaler Verhandlungen werden, bevor Sie die Waffenfähigkeit erreichen, heißt es, Zeit zu schinden. Machen Sie Konzessionen. Ziehen Sie sie wieder zurück. Machen Sie sie erneut etc. etc. Bestehen Sie weiter auf Ihr Recht zur Anreicherung – auch dann, wenn der UN-Sicherheitsrat Ihnen dieses Recht längst entzogen hat. Harte Sanktionen müssen Sie kaum fürchten, dafür sorgen schon die Rivalitäten unter den Mitgliedern des Sicherheitsrats. Und sollten Sie das Glück haben, über große Öl- und Gasvorräte zu verfügen, dann wird es wohl bei weichen Sanktionen bleiben. Denn die wirtschafts- und energiepolitischen Interessen einiger Mitglieder des Sicherheitsrats werden dafür sorgen, dass diese Länder Sie nicht allzu hart anfassen. Sie sind schließlich ein gefragter Wirtschaftspartner.

Hilfe kommt aber auch noch aus anderen Richtungen. Die IAEO beispielsweise wird gespalten sein. Einige werden argumentieren, dass ein nuklearer Wachhund auch zubeißen können muss, und folglich eine harte Gangart fordern. Diejenigen dagegen, die die IAEO als Weltverbesserungsbehörde verstehen, werden Ihnen allen Verfehlungen zum Trotz offene oder heimliche Sympathien entgegenbringen und alle eindeutigen Aussagen zu Ihrem Programm verhindern. Und auch ein großer Teil der Nichtverbreitungsexperten aus den zahlreichen Think Tanks rund um den Globus wird in Ihrem Sinne argumentieren. Nach langwieriger Abwägung aller Fakten werden diese Experten zu dem Schluss gelangen, dass eigentlich die USA für die Misere verantwortlich seien. Ihnen gegenüber wird man sich hingegen nachsichtiger zeigen. Man wird sich mit der Feststellung begnügen, dass Sie so lange als unschuldig zu gelten haben, bis Ihre Schuld eindeutig erwiesen ist.

Inzwischen werden Sie unter so scharfer internationaler Aufsicht stehen, dass Sie auf dem internationalen Markt nichts mehr einkaufen können. Aber das macht nichts. Denn Sie haben inzwischen alles, was Sie brauchen. Die Zeit ist auf Ihrer Seite. Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren. Argumentieren Sie bloß nicht, Sie bräuchten Nuklearwaffen, weil Ihre Nachbarn sie hätten. Werden Sie stattdessen nicht müde, die Leistungsfähigkeit Ihrer konventionellen Streitkräfte hervorzuheben. Denn andernfalls könnten Ihre Nachbarn versucht sein, Ihr Programm durch einen militärischen Präventivschlag auszuschalten, wie es Israel mit dem Irak 1981 und mit Syrien 2007 tat.

Wenn Sie sich an diese Ratschläge halten, ist Ihnen der Erfolg so gut wie sicher. Die einzige Frage, die Sie dann noch zu klären hätten, ist die, auf welche Weise Sie Ihren Durchbruch zur Nuklearmacht verkünden wollen. Ziehen Sie es vor, „virtuelle Nuklearmacht“ zu bleiben, oder möchten Sie Ihren Aufstieg in den nuklearen Club mit einem zünftigen Atomtest bekanntgeben? Aber das zu entscheiden ist nun wirklich Ihre Sache!

Nun haben Sie also Milliarden Dollar und viel politisches Kapital verbraucht. Sie sind politisch weitgehend isoliert. Ihre Nachbarn hassen Sie jetzt noch mehr als zuvor. Und die Zahl amerikanischer Streitkräfte vor Ihrer Haustüre ist sogar größer geworden. Summiert sich das alles zu einem Nettogewinn? Na ja, vielleicht nicht gerade zu dem Gewinn, den Sie sich erhofft hatten, als Sie sich einst auf das beschwerliche Vorhaben einließen. Aber wer hätte je behauptet, es sei einfach, eine Atommacht zu sein?

MICHAEL RÜHLE ist stellv. Leiter der Politischen Planungseinheit im Kabinett des NATO-Generalsekretärs. Er gibt hier seine eigene Meinung wieder.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2011, S. 47 - 53

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