Wege aus der Sackgasse der Sanktionspolitik gegen Russland
Würde ein stärkerer Druck auf die überwiegend im Westen lebenden Oligarchen helfen? Nein, im Gegenteil: Aber es gibt andere Mittel und Wege.
Seit der Annexion der Krim im März 2014 – und ersten Sanktionen gegen Russland – hat man dem Kreml viele Einmischungen in andere Länder vorgeworfen: Wahlbeeinflussung in den Vereinigten Staaten und anderswo, Mordanschläge, Diebstahl sensibler Daten, ganz zu schweigen von diversen Desinformations- und Propagandaaktionen. In mehr als zehn Runden haben zahlreiche Regierungen seitdem Sanktionen verhängt, was die russische Wirtschaft bis zu 1,5 Prozent des jährlichen BIP kostet und Hunderte russische Staatsbürger mit Reisebeschränkungen belegt. Mitte 2021 ist Russland mit 722 seiner Bürgerinnen und Bürger auf der US-Sanktionsliste einer der am stärksten sanktionierten Staaten weltweit und belegt den zweiten Platz hinter dem Iran (1599 Personen). Diskussionen über weitere Sanktionen, inklusive der Abkopplung vom internationalen Zahlungssystem SWIFT oder gar der Einführung eines Erdöl- und Erdgasembargos, halten an.
Indes scheinen die Sanktionen nicht allzu effektiv zu sein, denn bis heute ist es nicht gelungen, Moskau zu Kursänderungen zu bewegen. Dies ist zum Teil dem Umstand geschuldet, dass die russische Regierung keine langfristigen Entwicklungsstrategien für das Land hat; vielmehr akzeptiert sie das langsame Wirtschaftswachstum, solange dadurch keine umfassende Unzufriedenheit in der Bevölkerung entsteht. Insgesamt nützt das Sanktionsregime Putin sogar, denn es erlaubt ihm, in der Bevölkerung das Gefühl zu schüren, Russland sei von Feinden umgeben und die ökonomischen Härten seien auf ausländische Aktionen zurückzuführen.
Es scheint, als stecke die Sanktionspolitik des Westens in einer Sackgasse: Die bereits eingeführten Maßnahmen vermögen Russlands Außenpolitik nicht zu ändern, doch die dafür notwendigen radikaleren Schritte (wie ein umfassendes Verbot des Handels mit russischen Staatsanleihen oder ein Ende des von der deutschen Bundesregierung unbeirrt betriebenen Pipelineprojekts Nord Stream 2) wären zu schädlich für die wirtschaftlichen Interessen des Westens.
Vor diesem Hintergrund sprechen sich manche Experten für ein Umlenken in der Sanktionspolitik von sektoralen oder finanziellen hin zu personenbezogenen Sanktionen aus. Westliche Politiker ebenso wie russische Oppositionelle haben in den vergangenen Monaten dafür geworben, diejenigen wohlhabenden Russen zu sanktionieren, die mutmaßlich von der Korruption der politischen Eliten profitieren, indem sie dabei helfen, deren Besitztümer im Ausland zu verstecken. Die unglaublichen Summen russischen Kapitals, die über Offshore-Jurisdiktionen gewaschen und investiert werden, machen diesen Gedanken äußerst populär. Der jüngste Appell stammt von Unterstützern des inhaftierten Anti-Korruptionsaktivisten Alexej Nawalny und fordert US-Präsident Joe Biden dazu auf, Dutzende russische Oligarchen zu sanktionieren, von denen einige sich praktisch ständig außerhalb des Landes aufhalten.
Fehlende Effektivität und Rationalität
Allerdings habe ich ernsthafte Zweifel nicht nur an der Effektivität, sondern auch an der Rationalität von Sanktionen gegen das russische Unternehmertum – aus einer Reihe von Gründen. So ist es ausgesprochen schwierig, Verbindungen russischer Geschäftsleute mit den illegalen Aktivitäten der Regierung nachzuweisen; jedenfalls abseits von einigen wenigen bekannten Fällen wie Konstantin Malofejew, einem aktiven Unterstützer der selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk, oder Jewgeni Prigoschin, dem Inhaber der privaten Militärfirma Gruppe Wagner und verschiedener Desinformationsnetzwerke.
Selbstverständlich unterhalten Dutzende Vertreter der reichen Elite Russlands (wie Wiktor Wekselberg oder Alischer Usmanow) enge Kontakte zum Kreml: Manche von ihnen hatten vor langer Zeit Positionen in der Regierung oder Regionalverwaltung inne (wie der ehemalige stellvertretende Ministerpräsident Wladimir Potanin oder der ehemalige Gouverneur der Region Tschukotka, Roman Abramowitsch, bekannt als Eigner des FC Chelsea); andere erwiesen sich in Putins Karriere als nützlich (wie der ehemalige Minister für Außenwirtschaftsbeziehungen Petr Aven). Doch sind die meisten von ihnen heute nicht unmittelbar in Handlungen involviert, die man sicher mit Russlands Verletzungen der Souveränität der Ukraine oder mit Wahlbeeinflussung verbinden könnte.
Vertreter der US-Regierung blieben beispielsweise in komplexen rechtlichen Verfahren stecken, als sie 2017 den Aluminiumtycoon Oleg Deripaska sanktionierten: Am Ende mussten sie die meisten gegen seine Unternehmen verhängten Restriktionen fallenlassen. Zudem erscheinen Sanktionen gegen Abramowitsch oder Deripaska gelinde gesagt komisch, angesichts der zahlreichen Fälle fortdauernder Kontakte westlicher Regierungsvertreter mit Russen, die entweder direkt für Aggressionen gegen die Ukraine oder terroristische Anschläge im Ausland verantwortlich sind. So trat etwa Wladislaw Surkow bei vielen Treffen im Normandie-Format auf, obwohl er auf der Sanktionsliste der EU steht. Sergei Naryschkin, Chef des russischen Auslandsgeheimdiensts, und Alexander Bortnikow, Chef des Inlandsgeheimdiensts FSB, beide sanktioniert, flogen 2018 unbehelligt nach Washington, um dort Vertreter von CIA und FBI zu treffen.
Zudem bedarf es eines tieferen Verständnisses der Wesensart des derzeitigen Regimes, um Sanktionsziele treffsicher auswählen zu können. Russland ist kein typischer „captured state“, in dem Oligarchen die Regierung kontrollieren und die öffentlichen Institutionen zu ihrer Bereicherung nutzen. Es ist eher ein „commercial state“, in dem die politische Elite als Eigentümerin des Landes auftritt und es als Familienunternehmen führt. Die Wirtschaftselite kann zwar mit den Regierungsbeamten die Bedingungen verhandeln, zu denen sie sich an regierungsfinanzierten Programmen beteiligt, jedoch nicht einmal die ungefähre Richtung der ökonomischen und finanziellen Entwicklungen bestimmen, ganz zu schweigen von der Innen- und Außenpolitik.
Zwar sind viele russische Oligarchen nicht besonders zufrieden mit den politischen Entwicklungen des Landes, aber sie entwerfen lieber private Ausstiegsstrategien als zu versuchen, die politische Landschaft zu verändern. Obwohl das Kapital russischer Milliardäre noch immer in Russland konzentriert ist, sind mehr als die Hälfte der 500 größten Privatunternehmen in anderen Rechtssystemen registriert; nicht weniger als zehn Oligarchen unter den Top 25 der Forbes-Liste besitzen bereits mehr Geschäftsguthaben im Ausland als in ihrem Heimatland. Daher werden diejenigen Oligarchen, die ihr Vermögen schon vor Putins Aufstieg gebildet haben, eher gänzlich aufhören, in Russland Geschäfte zu machen, als gegen die politische Elite zu rebellieren. Diejenigen, die von ihren Verbindungen zur Regierung profitieren, werden loyal zu Putin stehen.
Viele Analysten argumentieren, Sanktionen könnten interne Streitigkeiten und Spaltungen in der russischen politischen und wirtschaftlichen Elite verstärken und damit den politischen Wandel begünstigen. Sie irren sich gewaltig – und das ist das wichtigste Argument gegen Sanktionen. Schon 2013 startete Putin eine Initiative, die er „Nationalisierung der Eliten“ nannte und die darauf abzielte, den Anteil an Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit, Aufenthaltsgenehmigungen und Bankkonten im Ausland in der russischen politischen Klasse zu begrenzen. Wenngleich diese Regeln nur selektiv angewandt wurden und noch immer Dutzende Mitglieder der Staatsregierung, der Duma und der Regionalbehörden über ausländische Pässe oder Auslandsvermögen verfügen, hat der Kreml diese Politik in den vergangenen Jahren noch einmal forciert.
Immun gegen Sanktionen
Das bedeutet, dass eine riesige Gruppe in der bürokratischen Klasse aufsteigt, die gegen personenbezogene Sanktionen weitgehend immunisiert ist, da sie sich aus innenpolitischen Gründen von Auslandsvermögen und Aufenthaltsgenehmigungen losgesagt hat. Zudem ist es mindestens zwei Millionen Beamten, Militärangehörigen und hochrangigen Offiziellen verboten, Reisen ins Ausland zu unternehmen.
Doch sanktioniert Putin seine Getreuen nicht nur effektiver, als westliche Regierungen es tun. Hinzu kommt auch, dass die Forbes-Liste der Milliardäre (auf der aktuellen Version stehen 123 Russen) irreführend ist, denn darauf findet sich nur ein Teil der russischen Oberklasse wieder – wenn auch ihr zivilisiertester und gesetzestreuester Teil. Ihre Vermögen sind seit Jahren öffentlich bekannt; ihre Unternehmen werden von globalen Beratungsfirmen geprüft; ihr Kapital in Russland und im Ausland ist gründlich dokumentiert. Doch in den vergangenen Jahren hat eine andere Gruppe superreicher Russen die Bühne betreten – eine Gruppe, die Putins neuer Politik gemäß bereits „nationalisiert“ zu sein scheint. An ihr zeigt sich ein bemerkenswerter Wandel in Stimmung und Gebaren, der sich vor allem im Hang zur Vermögensakkumulation in Russland selbst ausdrückt.
Der fast schon fanatische Wunsch, im Ausland Vermögenswerte aufzukaufen, der den alten Oligarchen so natürlich war, ist unter den neuen praktisch verschwunden. Europäische Immobilien wurden in den vergangenen Jahren vor allem von der russischen „Mittelschicht“ gekauft, während Putin-nahe Geschäftsleute und Bürokraten ihre Vermögen im Inland konsolidierten. Dieser Wandel zeigt sich bei einem Vergleich der ehemaligen Landwirtschaftsministerin Jelena Skrynnik mit ihrem Nachfolger Alexander Tkatschow: Während Skrynnik dafür bekannt wurde, dass die schweizerischen Behörden wegen 60 Millionen Schweizer Franken auf ihrem Privatkonto bei einer Zürcher Bank gegen sie ermittelten, besitzt Tkatschow mehr als 650 000 Hektar fruchtbaren Bodens in seiner Heimatregion Krasnodar mit einem Wert von rund einer Milliarde Dollar. Auch macht er lieber am Schwarzen Meer Urlaub als an der Côte d’Azur.
Korrupte russische Amtsträger haben in den vergangenen Jahren größtenteils ihre internationalen Geldwäscheunternehmungen beendet und stattdessen massiv Vermögenswerte in Russland gekauft und in lokale Unternehmen investiert. Investigative Journalisten haben über regionale Einzelhandelsketten, Geschäftszentren, Versorgungsnetze und Hunderte anderer Firmen berichtet, die von geschäftsaffinen Bürokraten übernommen wurden – und der Prozess beschleunigt sich noch.
Dieser Trend hat auch makroökonomische Konsequenzen. Russland ist seit Jahrzehnten für seine korrupten Amtsträger bekannt, und ihr Appetit ist längst nicht gestillt. Von 2013 bis 2020 wuchsen die sogenannten konsolidierten Haushaltsausgaben um zwei Drittel (oder um 16,8 Billionen Rubel jährlich, was 220 Milliarden Dollar entspricht); die Kapitalflucht war indes zwischen 2017 und 2020 nur noch halb so groß (d.h. um 125 Milliarden Dollar geringer) als im Zeitraum zwischen 2013 und 2016. In Anbetracht der seit 2013 sinkenden Realeinkommen der durchschnittlichen russischen Bevölkerung, einschließlich von Beamten, und des Umstands, dass weniger Infrastruktur entstand als Mitte der 2010er Jahre, liegt es nahe, dass diese erhöhten Haushaltszuweisungen in die Taschen von Bürokraten fließen, die sie künftig im Inland investieren können.
Unterdessen registriert die russische Zentralbank bei stagnierenden Einkommen und einem in die Höhe schießenden Anteil an Zahlungen mit Kreditkarten und anderen digitalen Zahlungsmitteln – von rund 10 Prozent aller Konsumausgaben 2012 zu beinahe 75 Prozent Ende 2020 – eine wachsende Nachfrage nach Bargeld; sie sah sich gezwungen, die im Umlauf befindliche Geldmenge allein in den vergangenen Jahren um fast fünf Billionen Rubel zu erhöhen, was 4,6 Prozent des BIP entspricht. Bis zu 90 Prozent dieser Menge wurde mit hohem Nennwert ausgegeben. Zum Vergleich: Die Menge des Dollar-Bargelds, das nicht nur den Vereinigten Staaten, sondern der ganzen Welt dient und von dem mehr als die Hälfte außerhalb Amerikas zirkuliert, entspricht derzeit weniger als 10 Prozent des BIP der USA.
Außerdem entdeckten russische Polizeieinheiten und andere Ermittlungsbehörden seit 2012 enorme Summen Bargeld in Häusern und Wohnungen korrupter Amtsträger. Der bisher höchste Einzelbetrag in einer ganzen Reihe von Fällen betrug zwölf Milliarden Rubel (fast 200 Millionen Dollar).
All dies zeigt, dass der korrupteste Teil der reichen russischen Elite keineswegs von westlichen Sanktionen getroffen werden kann; diejenigen, die getroffen werden, zählen dagegen zum deutlich prowestlicheren Teil der Oberklasse und stehen Putin eher kritisch gegenüber.
Somit gibt es heute zweierlei Oligarchen: den alten Geldadel, der eher kosmopolitisch eingestellt und von Unternehmen und Vermögen im Ausland abhängig ist, und die Neureichen, die auf Deals und Übernahmen innerhalb Russlands abzielen, eng mit dem Staatsapparat vernetzt sind und sich um die Legalisierung ihrer Vermögen genauso wenig sorgen wie um einen möglichen Rückzug ins Ausland. Diese zwei Gruppen haben unterschiedliche Motive und Perspektiven. Die zweite hat sich moralisch und ökonomisch auf ein Modell eingestellt, in dem Russland als belagerte Festung erscheint. Sie ist konservativer, steht dem Kreml näher.
Selbst wenn Teile der Gruppe von Sanktionen getroffen würden, wäre der Staat bereit, sie zu unterstützen – so 2017, als das „Timtschenko-Gesetz“ (benannt nach Gennadi Timtschenko, einem langjährigen Freund Putins) verabschiedet wurde. Dem Gesetz zufolge sollen Eigentum und Vermögenswerte russischer Staatsbürger, die durch ausländische Behörden konfisziert wurden, aus dem russischen Staatshaushalt kompensiert werden. Timtschenko bleibt die einzige Person, dem diese Initiative genutzt hat; doch gibt es viele Getreue Putins, die Russlands größere Autarkie begrüßen, da sie freien Wettbewerb fürchten, in Einfuhrsubstitutionsprogramme involviert sind und vom gesteigerten Engagement der Regierung für Inlandsinvestitionen profitieren.
Neue Verteilungskämpfe
Während die russische Wirtschaft stagniert, die Nachfrage der Konsumenten nachlässt und die Aussichten auf eine Flut von Petrodollars angesichts der weltweiten Bemühungen um Dekarbonisierung düsterer werden, könnte die Gesamtmenge des für die russischen Eliten aneignungsfähigen Kapitals schrumpfen. Aus einem solchen Trend erwächst ein natürlicher Wunsch: die bestehenden Vermögen umzuverteilen. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass sich korrupte Bürokraten und die „Silowiki“ aus dem Sicherheitsapparat in einer guten Position befinden, den Prozess anzuführen. Der Einfluss der alten Oligarchen könnte weiter schrumpfen und weitere Sanktionen gegen sie würden eine gute Gelegenheit bieten, ihre günstiger werdenden Vermögenswerte zu übernehmen. So haben US-Sanktionen innerhalb weniger Jahre den Börsenwert der Firma RUSAL von Oleg Deripaska von 27,5 auf 4,2 Milliarden Dollar abstürzen lassen. Ähnliche Aktionen dürften von Putins Vertretern enthusiastisch begrüßt werden.
Tatsächlich würde jeder aus dem Ausland geführte Schlag gegen die „alten“ Oligarchen die herrschende Elite stärken. Denn die im Westen verbreitete Vorstellung, die alte Oligarchie hätte Einfluss auf den Kreml, ist nur eine Illusion. In allen internen Streitigkeiten, die in Russland entstehen könnten, wird der Sieg mit denen sein, die ihre im Inland angesiedelten und legalisierten Vermögenswerte zu verteidigen (oder zu vervielfältigen) suchen. Dagegen werden diejenigen, die das Land ohne erhebliche Verluste verlassen oder ihre Firmen, wenn auch zu niedrigen Preisen, verkaufen und die Einnahmen ins Ausland überweisen können, dies sicher auch tun. So werden ernsthafte Sanktionen gegen die Oligarchen zu einem Handlungsaufruf an die mit der Regierung verbandelten Plünderer; mit effektivem Widerstand ist nicht zu rechnen.
Viele westliche Experten glauben, die Zwietracht zwischen den Gruppen der russischen Elite wachse, und halten dies für einen Faktor, der den möglichen Sturz des Regimes erleichtern könnte. Doch während es unzweifelhaft verstärkte Spannungen gibt, besteht wenig Hoffnung auf liberale, das Land umkrempelnde Unternehmer. Daher sollte der Westen von Aktionen absehen, durch die Gruppen geschwächt werden, die einst versuchten, Russland in die globale Welt zu integrieren, und die es sicherlich wieder tun würden, sollte das aktuelle Regime stürzen.
Prof. Dr. Vladislav Inozemtsev berät derzeit das Projekt Russian Media Studies bei MEMRI, einem Think-Tank in Washington.
Aus dem Englischen von Matthias Hempert
Internationale Politik 4, Juli/August 2021, S. 96-101