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01. März 2008

Was uns bleibt

Mit seinen Werten steht der Westen langfristig besser da als mit seiner Macht

Nicht „Kampf mit dem Islam“ oder „amerikanische Weltherrschaft“ lautet – entgegen so mancher Prophezeiung – die Überschrift für das beginnende 21. Jahrhundert, sondern „Niedergang des Westens“. Statt aber in Angst und Agonie zu versinken, sollte sich der Westen auf das besinnen, was er kann: Irgendwo zwischen Washington und Rom liegt noch immer ein Gravitationszentrum der Humanität, und seine Kraft wirkt fort.

Der 11. September 2001, der erste Tag der Gegenwart, war nicht nur Blitz und Donner, sondern auch Wolke und Nebel – ebenso, wie er erschüttert und erhellt hat, hat er verdunkelt und verschleiert. Der Zäsurcharakter, der Eintritt in eine neue Zeit, ist sofort offenkundig gewesen, doch über die Natur dieser Zukunft hat das Ereignis die Welt im Unklaren gelassen, mehr noch: in die Irre geführt.

Die Vereinigten Staaten und ihr Präsident George W. Bush haben „9/11“ zum Ausgangspunkt eines globalen Feldzugs erklärt – gegen den Terrorismus, gegen den muslimischen Radikalismus, gegen die neue totalitäre Ideologie des „Islamofaschismus“. Ein dritter (oder vierter) Weltkrieg, nach den System- und Überlebenskämpfen des freien Westens gegen das kaiserliche Deutschland und Hitler (und die Sowjetunion).

Trügerische Momentaufnahmen

Das war die erste Deutung der jetzt angebrochenen Epoche, und wie von einem Doppelgänger wurde sie von einer zweiten, scheinbar entgegengesetzten, in Wahrheit jedoch komplementären begleitet: dass nun die Ära der amerikanischen Dominanz erst richtig anfangen, dass die verwundeten und herausgeforderten USA sich zu ihrer vollen Größe aufrichten und dem Erdkreis ihr Gesetz auferlegen würden. In Wirklichkeit sind beides Scheinwahrheiten oder Übergangsphasen gewesen, trügerische Momentaufnahmen. Der Titel, unter dem das beginnende 21. Jahrhundert steht, lautet weder „Krieg gegen den Terror“ oder „Kampf mit dem Islam“ noch „amerikanische Weltherrschaft“. Er lautet: „Niedergang des Westens“.

Der Weltkriegsvergleich ist nicht nur von überdrehten Intellektuellen wie Norman Podhoretz, dem Doyen der amerikanischen Neokonservativen, angestellt worden. Im Weißen Haus hat George W. Bush eine Büste von Winston Churchill aufstellen lassen, dem britischen Kriegspremier, der in Hitler schon den Todfeind der Zivilisation erkannt hatte, als die Mehrheit der Pragmatiker und Realisten in den westlichen Hauptstädten sich noch mit dem Nationalsozialismus arrangieren wollte. Die gelernte Sowjetspezialistin Condoleezza Rice beruft sich mehr auf Harry S. Truman, US-Präsident von 1945 bis 1952 und Schöpfer des amerikanisch-atlantischen Nachkriegssystems mit seinen weltweiten Allianzen zum „containment“, der „Eindämmung“ der UdSSR. (...) Es gibt sogar einen Staat, der aus dieser Sicht das Erbe der Sowjetunion als Zentrum des feindlichen Tuns und Trachtens angetreten hat: Iran, das Land der Mullahs und ihrer unheimlichen Atompläne.

Licht und Finsternis

Am weitesten getrieben hat die typisch amerikanische Rhetorik von Licht und Finsternis kein Amerikaner, sondern der ultimative Moralpolitiker und Interventionist der Jahre um 2000, der Brite Tony Blair, der in Reden von Los Angeles bis Dubai wie ein Erweckungsprediger den Großkonflikt zwischen einem globalen Extremismus und einer ebenso globalen Gegenkultur der Toleranz und des Fortschritts beschworen hat. (...) „‚Wir‘ (so Blair im Frühjahr 2006), sind nicht der Westen. ‚Wir‘ sind genauso Muslime wie Christen, Juden oder Hindus. ‚Wir‘ sind die, die an religiöse Toleranz glauben, an die Offenheit gegenüber anderen, an Demokratie, Freiheit und Menschenrechte, geschützt von einer weltlichen Gerichtsbarkeit. Dies ist kein Kampf der Zivilisationen. Es ist ein Kampf um die Zivilisation. Es ist der jahrhundertealte Kampf zwischen Fortschritt und Reaktion, zwischen denen, die die moderne Welt annehmen und in ihr eine Chance sehen, und denen, die ihre Existenz verwerfen – ein Kampf zwischen Optimismus und Hoffnung auf der einen Seite, Pessimismus und Angst auf der anderen.“

Das ist die pathetischste Version der Idee vom neuen kalten und heißen Krieg gegen einen neuen Totalitarismus, über alle religiöse und kulturelle Konkretion hinaus ins Universale (und Apokalyptische) gesteigert. Aber es ist nicht die neue Weltformel. Im Kern bleibt es, trotz Blairs Universalisierungsversuchen, eine amerikanische Perspektive, die sich nicht dem ganzen Globus überstülpen lässt.

Was die Europäer am Islam beunruhigt, sind weniger der Terrorismus und der iranische Gottesstaat als die Einwanderung. Die Bombenanschläge von Madrid 2004 und von London 2005 sind nicht „das europäische 9/11“ geworden, keine Epochenwende, wie es der Anschlag auf New York und Washington für die Vereinigten Staaten war. Ein Brasilianer, Kongolese oder Koreaner fühlt sich wegen Osama Bin Laden oder der libanesischen Hisbollah erst recht nicht im vierten Weltkrieg. Die Russen fürchten den Islam im Kaukasus, die Chinesen in der Westprovinz Xinjiang, wo sie das muslimische Volk der Uiguren des „Separatismus“ verdächtigen – trotzdem sind Russland und China keine verlässlichen Verbündeten der Amerikaner geworden, sondern mehr denn je ihre Konkurrenten. Für Milliarden von Menschen und für die meisten Länder in der UN-Generalversammlung sind Hunger, Seuchen und Umweltrisiken dringendere Nöte als der „war on terror“. Die epochale Überhöhung des Kampfes mit den Muslim-Radikalen ist weltpolitisch und welthistorisch provinziell – der Provinzialismus einer Supermacht, aber Provinzialismus gleichwohl.

Der amerikanische Starjournalist Thomas Friedman, der außenpolitische Kolumnist der New York Times, hat das Problem des blinden Fleckes am eigenen Beispiel beschrieben. Friedman hatte 1999 ein Buch über die Globalisierung veröffentlicht, das zum Bestseller wurde. Nach 9/11 kehrte er, der in den achtziger Jahren Korrespondent in Beirut und Jerusalem war, zum Nahost-Thema zurück. Als er dann im Februar 2004 in Bangalore, dem „indischen Silicon Valley“, den hypermodernen Campus der Softwarefirma Infosys besuchte, kam es Friedman vor, als habe er die letzten Jahre verschlafen. Der Weg vom Stadtzentrum zum Firmengelände war eine Straße mit Schlaglöchern, Pferdekarren und heiligen Kühen am Rand gewesen, im Sitzungssaal von Infosys dann zeigte der Vorstandschef stolz den größten Flachbildschirm Asiens, für globale Videokonferenzen mit Programmierern, Designern oder Produzenten in Boston, London und Singapur. Die Globalisierung war weitergegangen, und indische Ingenieure und Manager waren plötzlich eine ihrer treibenden Kräfte. Im selben Augenblick, da der Westen sich auf den „clash of civilizations“ eingeschossen hatte, stiegen in Asien neue Weltmächte auf – wirtschaftlich, technologisch und bald auch politisch.

Während Amerika seinen imaginären dritten oder vierten Weltkrieg führt und im Irak seine Kräfte verschleißt, während Europa auf dieses kriegerische Amerika fixiert ist und die „Cowboys“ zu belehren und zu zähmen versucht, streichen China und Indien die Friedensdividende ein. Während der Orient für den Westen Antiterrorkampf oder Kulturdialog bedeutet, ist in Dubai, Doha, Abu Dhabi und Riad längst eine neue arabische Wirtschaftsmacht entstanden – Staatsfonds, mit Ölmilliarden gespeist, die global auf Einkaufs- und Investitionstour gehen. Während Russland für uns der schäbige Rest der Sowjetunion oder ein „Transformationsland“ auf dem Weg zur Demokratie war, hat Wladimir Putin eine Energie-Großmacht geschaffen, an deren Gaspipelines Europa wie an einem ökonomischen Sauerstoffschlauch hängt. Das Weltzentrum verschiebt sich vom Westen nach Osten – in den islamischen Problem- und Gewalt-Osten, den russischen Revanche-Osten, den asiatischen Boom-Osten. Das ist die wirkliche Geschichte dieser Jahre.

Innerwestlicher Familienzwist

Man erfasst den Macht- und Bedeutungsverlust des Westens sofort, wenn man die zwei großen weltpolitischen Krisenthemen der Jahre nach 9/11 vergleicht, den Streit um den Irak-Krieg 2002 und 2003 und den Konflikt um das iranische Atomprogramm. Der Irak-Krieg hat uns gar nicht so sehr wegen des Irak beschäftigt – das Land selbst war den meisten, die sich über das Für und Wider einer Invasion ereiferten, ziemlich gleichgültig. Es ist etwas anderes gewesen, das damals so erregte: die Spaltung des Westens. Plötzlich standen Bush und Blair gegen Chirac und Schröder, Angelsachsen gegen Kontinentaleuropäer, „new Europe“ gegen „old Europe“. (...) Diese Spaltung des Westens war der eigentliche Skandal – das Auseinanderdriften einer „Wertegemeinschaft“, die ein halbes Jahrhundert lang nicht nur, wie es immer gebetsmühlenartig hieß, Frieden und Freiheit gesichert, sondern den Denk- und Handlungsrahmen für alle Politik abgegeben hatte. (...)

Im Grunde aber war diese Spaltung des Westens noch eine Idylle. Im Schrecken und in der Sorge über das transatlantische Schisma steckte umgekehrt die selbstverständliche Hoffnung, dass die Welt zurück ins Lot kommen würde, wenn Amerika und Europa nur wieder einig wären, wenn eine „Rekonstruktion des Westens“, wie Joschka Fischer es formulierte, gelingen würde. (Robert) Kagans Dualismus von „Mars“ und „Venus“ war ein innerwestlicher Familienzwist, irgendwelche Völker, Mächte und Kulturen außerhalb der abendländischen Sippe kamen in diesem Zweipersonenstück verkrachter Partner überhaupt nicht vor. Wenn Bush und Blair sich mit Chirac und Schröder in der Irak-Frage auf eine gemeinsame Linie verständigt hätten, wäre das die Weltmeinung gewesen, und von Moskau, Peking oder Neu-Delhi aus hätte niemand versucht, eine grundsätzlich andere Politik zu propagieren und durchzusetzen.

Der Irak-Feldzug war auch in Asien und Lateinamerika unpopulär, aber wirklich herausgefordert und verantwortlich fühlte man sich dort nicht. (...) Der Irak-Krieg, die Stunde der Selbstzerfleischung, ist zugleich das letzte Hurra der westlichen Selbstherrlichkeit gewesen.

Beim Thema Iran waren Amerikaner und Europäer sich einig: Die Mullahs sollten die Bombe nicht bekommen, und auch keine Technologie, die ihnen den Weg dahin ebnet. Aber auf einmal genügte die amerikanisch-europäische Einigkeit nicht mehr, um den gemeinsamen Willen durchzusetzen. Der Westen hatte um die Russen und Chinesen zu werben, die im UN-Sicherheitsrat Vetorecht besitzen und ihre Geschäftsbeziehungen zu Teheran nicht aufgeben wollten. Schwellenländer wie Indien, Brasilien und Südafrika mussten überzeugt werden, dass das Nein zur iranischen Nuklearrüstung kein kolonialistisches Diktat war, um aufstrebenden Nationen des Südens Fortschritt, Wohlstand und Ebenbürtigkeit zu verweigern. Die Iraner selbst gaben zu verstehen, dass sie dem Westen auch den Rücken kehren und sich dem boomenden Asien zuwenden könnten, wo ihr Öl genauso gebraucht wurde und sie weniger lästige Belehrungen über die Bombe und gar keine über Menschenrechte und Demokratie zu erwarten hatten. Ein antiamerikanischer Störenfried vom anderen Ende der Welt, der venezolanische Staatschef Hugo Chávez, ergriff Partei für die Teheraner Atomambitionen, und der iranische Präsident Achmadinedschad ließ sich in Indonesien von Studenten als Held eines neuen muslimischen Selbstbewusstseins feiern.

Nicht mit Paukenschlägen, wie der Fall der Berliner Mauer oder der Anschlag auf das World Trade Center es waren, sondern in einer schleichenden Revolution kündigt sich die veränderte Weltordnung des 21. Jahrhunderts an. Irgendwann im Laufe der vielen Iran-Beratungen war in New York wieder ein Treffen der sechs Staaten anberaumt, die mit Teheran über die Atomfrage verhandelten: die USA, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Russland und China. Die Gespräche dauerten endlos, die Delegationen kamen erst tief in der Nacht wieder heraus, und es war nicht mehr viel Kraft und Lust zu ausführlicher Nacharbeit übrig. Aber ein Anblick und Erlebnis schienen sich den Diplomaten tief eingeprägt zu haben: der chinesische Außenminister, der in der stundenlangen Sitzung zur Sache kein einziges Wort gesagt und nur am Ende das Essen gelobt hatte. Es hätte Zeiten gegeben, wo man das als Ausdruck des Desinteresses oder der Randständigkeit interpretiert hätte, als Zeichen, dass Peking fürs Mitreden bei den ganz großen Fragen noch nicht reif sei. Mit solchen Gedanken konnte sich nun keiner mehr zufrieden geben. Jetzt beschäftigte der schweigende Chinese die Phantasie als Bild und Inbegriff einer sphinxhaften Macht, die kein Auftrumpfen nötig hat.

In den internationalen Beziehungen, in den globalen Verhältnissen überhaupt, ist eine grundstürzende Umwälzung im Gange. (...) Das amerikanisch-europäische Macht- und Deutungsmonopol über die Weltpolitik ist zerbrochen. Wir leben nicht mehr im Zeichen des gespaltenen, sondern des geschwächten Westens. (...)

Was bleibt uns?

Die Epoche der westlichen Vorherrschaft über den Erdball geht zu Ende. Die Machtverschiebung ist im Gange, ökonomisch und demographisch zuerst, dann auch politisch und militärisch; die Institutionen und Spielregeln werden folgen: die Art, wie die Welt regiert wird. Amerika und Europa werden Platz machen, Raum schaffen müssen. Es geht nicht an, dass sie weiter die Chefposten in der Weltbank und im Internationalen Währungsfonds untereinander aufteilen; es geht nicht an, dass China der einzige „südliche“ Staat mit ständigem Sitz im UN-Sicherheitsrat ist. In den Kreis der anerkannten Nuklearmächte hat sich Indien schon vorgekämpft. Die Gruppe der führenden Industrienationen, die „Weltwirtschaftsgipfel“ veranstaltet, wird nicht mehr lange „G-7“ oder (mit Russland) „G-8“ heißen; sie wird neun, zehn oder noch ein paar Mitglieder mehr haben. Die Clubs der Reichen und Mächtigen müssen sich öffnen – oder es wird ihnen von draußen die Tür eingedrückt.

Die Lage des Westens ist nicht verzweifelt. Seine Bürger werden noch lange wohlhabender sein als der Rest der Welt, seine Forschung und Wissenschaft unerreicht, das Militär der Vereinigten Staaten unschlagbar in jedem großen Krieg. An den Flüchtlingsströmen, den Green-Card-Anträgen und den Schlangen vor den Visaschaltern der westlichen Konsulate lässt sich die ungebrochene Anziehungskraft einer Lebensform ablesen, die nicht nur Wohlstand verspricht, sondern auch Emanzipation und Selbstbestimmung. Vor keinem der Konkurrenten ist die Siegerstraße gebahnt. China kann implodieren, Indien ins Chaos zurücksinken; Russlands Renaissance dürfte eine Scheinblüte sein. Die islamische Welt ist eine Gefahr für sich selbst mehr als für die amerikanisch-europäische Hegemonie.

Noch hat der Westen sein Kapital als globale Ordnungskraft nicht aufgebraucht, als Hüter minimaler Zivilisationsstandards im Dschungel von Machtkampf und Wirtschaftswettbewerb. „Wenn es in der Meerenge von Taiwan eine Krise gibt“, hat der britische Diplomat und Autor Robert Cooper über die Unentbehrlichkeit der USA bemerkt, „ist es die amerikanische Flotte, die erscheint.“ (...) Und wenn irgendwo auf der Welt Blei in der Spielzeugbemalung oder Formaldehyd in Kinderschlafanzügen aus chinesischer Produktion festgestellt wird, orientieren sich die Behörden über die zulässigen Richtwerte in den Verbraucherschutzbestimmungen der Europäischen Union. Niemand würde einstweilen auf die Idee kommen, sich an Moskau oder Neu-Delhi zu wenden.

„Am wichtigsten“, hat der amerikanische Expräsident Bill Clinton schon im Sommer 2004 geahnt, als es um die Vereinigten Staaten noch besser zu stehen schien, „ist nicht, alle Probleme der Welt zu lösen. Das können wir nicht. Am wichtigsten ist es, eine Welt zu schaffen, in der wir auch dann noch leben mögen, wenn wir nicht mehr ihre einzige Supermacht sind.“ Das ist die Aufgabe, die sich jetzt dem gesamten Westen stellt. Zwei Jahrzehnte zum Prägen der globalen Agenda bleiben ihm gewiss. Er muss sie nutzen, um die Aufsteigermächte von den Vorzügen eines internationalen Rechtszustands zu überzeugen – davon, dass Normen und Regeln auch für die neuen Starken besser sind als das Gesetz der Stärke allein. Noch ist Zeit, einer opportunistischen Droh- und Erpressungspolitik wie der russischen die kalte Schulter zu zeigen und sie vor der Weltgemeinschaft anzuprangern, bevor sie als normal akzeptiert wird. Noch kann man deutlich machen, dass Taiwan nicht die Maus für die chinesische Katze ist.

Auf Regeln freilich wird der Westen nur bestehen können, wenn er selbst sich ihnen unterwirft. Kein Stopp der Atomwaffenverbreitung ohne Abrüstungsbereitschaft der etablierten Nuklearstaaten. Kein Energiesparen der Schwellenländer, wenn die Reichen nicht ihren benzinverjubelnden Lebensstil einschränken. Kein chinesischer oder indischer Verzicht auf egoistische Großmachtpolitik, wenn die USA sich an die Selbstherrlichkeit der Bush-Jahre klammern.

Es sind nicht einfach andere Mächte, die neben dem Westen auf den Plan treten, es sind Abermillionen von Menschen im Osten und Süden, die sich politisch bewusst werden und Fairness in den Weltverhältnissen verlangen. Dieses Gerechtigkeitsbedürfnis kann bizarre, hysterische und gefährliche Formen annehmen, wie das Verlangen nach einer „islamischen Bombe“, den Jubel für Chávez und Achmadinedschad oder die chauvinistische Wut, mit der die Chinesen seinerzeit auf die irrtümliche Zerstörung ihrer Belgrader Botschaft reagierten. Aber das „politische Erwachen“ (Zbigniew Brzezinski) der Weltmehrheit, ihr allgegenwärtiges Mithören, Zuschauen und Mitredenwollen, ist eine fundamentale, unumstößliche Tatsache. Eine globale Klassengesellschaft wird nicht mehr akzeptiert. Für ihren ganzen Idealismus, ob europäisch-wohlfahrtsstaatlich oder amerikanisch-freiheitspathetisch, werden die Westler keine Abnehmer finden, wenn sie als doppelmoralische Heuchler oder als arrogante internationale Möchtegern-Aristokratie wahrgenommen werden.

Falsche Alternative

Das Projekt des gewaltsamen Demokratieexports ist gescheitert und diskreditiert. Doch heißt das nicht, dass nun die Rückkehr zur kaltschnäuzigen Macht- und Realpolitik richtig wäre. Man lässt sich leicht eine Alternative von Weltmission oder Zynismus einreden, aber diese Alternative ist falsch. Der Westen hat das übrigens schon einmal gewusst, ihm war klar, dass „Idealismus“ nicht einfach den blauäugigen Kreuzzug für Markt und Demokratie bedeutet, wie George W. Bush ihn verstand. Als der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt 1941 der Anti-Hitler-Allianz eine moralische Basis geben und die Aussicht auf eine bessere Nachkriegszeit eröffnen wollte, proklamierte er „vier Freiheiten“, die jedem Menschen zustehen sollten: die Freiheit der Rede, die Freiheit der Religion, die Freiheit von Not und die Freiheit von Furcht. Nur die ersten beiden, die Meinungs- und die Glaubensfreiheit, waren klassische, liberale Freiheiten – in den zwei anderen steckte die Einsicht, dass zur Menschenwürde auch eine soziale Dimension gehört, ein Recht auf Schutz und Entfaltung, das über die altbürgerliche Abwehr von Staatseingriffen hinausreicht. Diesen weiteren Freiheitsbegriff muss der Westen wiederentdecken, wenn er in einer Welt Gehör finden will, aus der Unterentwicklung, Armut, Krankheit und Gewalt nicht verschwunden sind.Der scheinbar hartgesottene Realismus dagegen ist selbst eine Illusion. Man könnte nichts Törichteres tun, als in einem Augenblick der eigenen Schwächung ausgerechnet auf eine prinzipienferne Politik der Stärke zu setzen. Mit ihren Werten stehen Amerika und Europa langfristig besser da als mit ihrer Macht. (...)

Willkommen im Club

Die „freie Welt“ ist schon heute größer als das atlantische Bündnis, das sich zu Zeiten des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion so nennen durfte; Indien und Südafrika, die Philippinen oder Indonesien gehören auch zur demokratischen Familie. Die Herrschenden in Peking sollten nicht hoffen, und wir müssen nicht fürchten, dass China auf Dauer außerhalb dieses Kreises bleibt. Das „politische Erwachen“ im Osten und Süden kann kurzfristig wie eine Gefahr für unsere Freiheits- und Humanitätsvorstellungen wirken, weil es Weltgegenden jenseits der Traditionen von Christentum und Aufklärung, jenseits des abendländischen Individualismus ins Spiel bringt. Doch auf Dauer wird die liberale Idee, die Sache von Selbstbestimmung und Menschenrechten, durch die globale Mobilisierung nicht verlieren, sondern gewinnen.

So wie sie als Konsumenten und Arbeitskräfte die Weltwirtschaft revolutionieren, werden die Abermillionen nichtwestlichen Neubürger der Moderne auch als politische Nachfrager ihre Marktmacht zur Geltung bringen – und sie werden Qualitätsprodukte verlangen: unkorrumpierte Verwaltung, unzensierte Informationen, unabhängige Gerichte, unverfälschte Wahlergebnisse. Der iranische Regime-Apologet, der mit seiner Formel „keine Demokratie in den Staaten ohne Demokratie unter den Staaten“ das amerikanische Befreiungsprojekt abtun und die nationale Souveränität zur Hauptsache erklären wollte, hat allenfalls die halbe Wahrheit gesagt.

Das Umgekehrte gilt mindestens ebenso: Keine Demokratie unter den Staaten ohne Demokratie in den Staaten. Denn die multipolare Welt mit ihren neuen Macht- und Wachstumszentren bringt auch ein gewaltiges neues Potenzial von Weltbürgern hervor, die ihre persönlichen und politischen Ansprüche anmelden werden. Es ist ein Ammenmärchen, dass irgendwo auf dem Erdball Menschen aus irgendwelchen kulturellen Gründen die Unterdrückung schätzen oder bereitwillig dulden würden, genauer: Es ist eine Lüge, die von den Unterdrückern in die Welt gesetzt wird. Sie wird sich im 21. Jahrhundert nicht lange aufrechterhalten lassen. Die Herrschenden der Aufsteiger- und Unruheregionen werden den Einflussgewinn, den sie aus dem relativen Niedergang des Westens ziehen, nicht für sich behalten können, er wird an ihre Völker weiterfließen, sie werden sich ihren Anteil daran sichern.

Für uns ist das nicht in jeder Hinsicht angenehm, denn es bedeutet: abgeben. Aber für unsere Prinzipien, wenn wir es denn ernst mit ihnen meinen, ist es ein Triumph. Auf längere Sicht wird sich Prinzipientreue bewähren. Es ist bedauerlich und bedrohlich, wenn bei freien Wahlen in der islamischen Welt unversöhnliche Radikale an die Macht kommen, wie es 2006 mit der militanten Hamas-Bewegung bei den Palästinensern geschehen ist. Mit ihrer Gewaltbereitschaft und ihrem Hass auf Israel darf der Westen keine Nachsicht üben, so wenig wir bei Muslimen in unseren Städten dulden können, dass echte oder vermeintliche Vorschriften des Korans über Recht, Gesetz und Verfassung gestellt werden. Aber es ist nicht viel daran zu ändern, dass der Weg zur Entwicklung und Emanzipation in der muslimischen Welt über den politischen Islam verlaufen wird. Wo immer der Orient derzeit die Chance zum Selbstausdruck erhält, artikuliert er sich in dieser religiös-kulturellen Sprache. Das wird nicht immer so bleiben; es ist das Produkt einer teils eingebildeten, teils realen Bedrängnis- und Demütigungssituation, in der der Glaube zum Inbegriff der sonst überall verletzten Würde wird.

Die Islamisierung kanalisieren

Wir mögen darauf hinarbeiten, diesen Islamisierungsprozess zu kanalisieren, doch wir sollten nicht versuchen, ihn aufzuhalten. Dann kann es zur Katastrophe kommen, wie 1991 in Algerien, als die Armee gegen einen absehbaren Wahlsieg der „Islamischen Heilsfront“ putschte und das Land in einen jahrelangen Bürgerkrieg versank, mit Zehntausenden von Toten. Es ist ein Fehler, aus Angst vor einer grünen Gefahr arabischen Diktatoren die Stange zu halten, die dem Westen weismachen wollen, sie seien die letzte Bastion gegen die muslimischen Fanatiker. (...) Man kann die Demokratie, wie die Vereinigten Staaten erfahren haben, nicht mit dem Bajonett einführen, man kann aber ebensowenig die Moderne mit dem Bajonett durchsetzen. Auch nicht bei uns in Europa mit einem Kopftuchverbot.

Nicht die Unterdrückung des politischen und des strenggläubigen Islams wird seine destruktiven Energien bändigen, sondern die Islamisierten selbst werden es tun. Die Kopftuchträgerin, die hinter der Kasse im Supermarkt oder als Verkäuferin ihr eigenes Geld verdient und mit einem bunten Publikum in Berührung kommt, wird sich von Vätern, Brüdern oder dem Ehemann weniger herumkommandieren lassen, als wenn sie wegen ihrer Bekenntniskleidung keinen Job finden würde und zu Hause bleiben müsste.

Es kommt darauf an, die Islamisierung zum Durchgangsstadium zu machen, nicht zum Endpunkt. Keine mittelöstliche Gesellschaft dürfte inzwischen so starke Gegenkräfte gegen die Ideologie der Gottesstaatlichkeit entwickelt haben wie die iranische, die den Weg von der Revolutionsbegeisterung bis zur Sklerose und Korruption des heutigen Mullah-Regimes tatsächlich zurückgelegt hat. Am Ende finden die Leute schon heraus, was gut für sie ist. Demokratie ist nicht alles – die Tyrannei der Mehrheit kann furchtbaren Terror gegen Außenseiter und Minderheiten ausüben, und auch Hitler ist bekanntlich durch freie Wahlen an die Macht gekommen. Der Westen wird immer deutlich machen, dass Rechtsstaat, sozialer Pluralismus und liberale Freiheiten für ihn unverhandelbar sind. Aber die Volkssouveränität nur deshalb missachten, weil ihre Präferenzen ihm nicht passen – das kann er nicht.

Die Chance des Westens liegt in etwas sehr Einfachem; fast klingt es banal: Er muss sich mit den Menschen verbünden. (...) Es ist nicht die Ebene der Staaten, auf der die Partie letztlich gewonnen oder verloren wird. Es ist die Ebene der Bürger. Der autoritäre Kapitalismus in China, Russland oder in Präsident Nasarbajews Kasachstan, der auf einmal als Alternative zur Demokratie so stark erscheint, kann Amerika und Europa wirtschaftlich und strategisch in die Defensive drängen. Aber er kann keine Ordnung bieten, in der die Bedürfnisse und Lebenschancen des Einzelnen im Mittelpunkt stünden. Die Macht- und Wachstumsmaschine hat Vorrang vor dem von V.S. Naipaul zitierten „pursuit of happiness“. Die eigenen Bürger bleiben für solche Systeme ein Risikofaktor und Unruhepotenzial – für eine wirklich „universale Zivilisation“, die ihre kolonialen und imperialistischen Hypotheken abgeworfen hat, sind sie dagegen ein ansprechbares Publikum, potenzielle Alliierte. Wenn iranische Jungen und Mädchen in Chicago oder Heidelberg studieren können, wenn westliche Gewerkschaften gegen die Ausbeutung chinesischer Arbeiter protestieren und arabische Eltern erfahren, dass die Bücher und Internetanschlüsse in den Schulen ihrer Kinder von der Europäischen Union gesponsert wurden – dann braucht uns um unser Ansehen und letztlich auch um unseren Einfluss in der Welt des 21. Jahrhunderts nicht bange zu sein.

Was der Westen dazu überwinden muss, ist das Gefühl, das ihn derzeit von allen Seiten anfasst: die Angst, die hundertfältige, vielgesichtige Angst – vor der Einwanderung, vor dem Islam, vor dem Terrorismus, vor der chinesischen Konkurrenz, vor Jobverlust und Wohlstandsminderung, vor der eige-nen Identitätsschwäche und Standpunktlosigkeit. Auch die Versuche der Selbstbehauptung, das Pochen auf -Leitkultur und Fortschrittsniveau, wirken allzu oft angstgetrieben. Angst aber macht kleinlich, und Kleinlichkeit macht hässlich. Ohne Großzügigkeit werden wir nicht für uns werben und einnehmen können. Darum bleibt Amerika so wichtig – letztlich nicht wegen seiner Macht, sondern wegen seines am Ende unheilbaren, unzerstörbaren Optimismus. Und darum, um der Transzendenz und Weitherzigkeit willen, nicht als Stärkungsmittel oder Feldzeichen, braucht der Westen auch das Christentum.

Wenn Bill Clinton als amerikanischer Präsident auf Reisen ging, jubelten die Leute ihm zu. (...) Die Leute jubelten auch, wenn Johannes Paul II. sie besuchte. Der Papst und der Präsident hätten verschiedener nicht sein können, nicht in ihren Ansichten und nicht in ihrer moralischen Statur. Aber etwas Gemeinsames gab es doch, und es hatte mit dem Menschen zu tun, mit der Freiheit, der Hoffnung und offenen Horizonten. Irgendwo zwischen Washington und Rom liegt noch immer ein Gravitationszentrum der Humanität, und seine Kraft hat nicht zu wirken aufgehört.

JAN ROSS, geb. 1965, ist Redakteur im Hauptstadtbüro der Zeit. Der vorliegende Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus seinem aktuellen Buch „Was bleibt von uns? Das Ende der westlichen Weltherrschaft“. Es erscheint am 7. März bei Rowohlt Berlin.