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01. Aug. 2003

Was Demokratie fördert

Mittelosteuropa und Lateinamerika im Vergleich

Zwei Weltregionen, nämlich Mittel-/Osteuropa und Lateinamerika, haben seit Beginn der neunziger Jahre große Fortschritte beim Aufbau stabiler und funktionierender Demokratien gemacht. Die Autoren untersuchen, welche Faktoren diese Erfolge ermöglicht haben und ob sich aus dieser Analyse Lehren für künftige Transformations-Prozesse kondensieren lassen.

Der weltweite Demokratisierungsschub seit den achtziger Jahren ließ die Hoffnung aufkeimen, dass in absehbarer Zeit die Mehrzahl der Staaten nicht mehr autokratisch regiert und so auch ein wesentlicher Baustein für den „demokratischen Frieden“ im internationalen System gelegt würde. Die Ereignisse in Afghanistan und Irak haben aber erneut gezeigt, dass autoritäre Regime zwar durch militärische Gewalt relativ leicht abgelöst werden können, die angestrebten Demokratisierungsprozesse jedoch schnell ins Stocken geraten oder gar vom Scheitern bedroht sind. Auch jenseits der OECD-Welt stellt Demokratie zwar nicht die Ausnahme dar, doch ist sie in vielen Ländern nur von geringer Qualität und es sind viele Rückschläge zu verzeichnen – vor allem im Nahen Osten, den GUS-Staaten, Afrika und Asien.

Zwei Regionen heben sich deutlich von diesem sehr ambivalenten Szenario ab, nämlich Mittel-/Osteuropa und Lateinamerika. Welche Lehren lassen sich daraus für anstehende und zukünftige Demokratisierungsprozesse ziehen, welche Faktoren sind für die Erfolge, Verzögerungen und Misserfolge verantwortlich?

Mittel- und Osteuropa (MOE) bezeichnet eine Weltregion, die in ihrer historischen Entwicklung westeuropäischen, russisch-asiatischen und osmanischen Einflüssen ausgesetzt war und in ihren Grenzen auf Grund verspäteter Nationalstaatsbildungen und wechselnder territorialer Zugehörigkeiten unscharf geblieben ist. Innerhalb der 15 Länder umfassenden Region lassen sich drei Teilregionen unterscheiden: eine südosteuropäische, eine ostmitteleuropäische und eine baltische, deren Demokratisierungspfade und heutigen Konsolidierungsniveaus voneinander abweichen.1

Alle diese Länder haben seit 1989/90 große Fortschritte beim Aufbau stabiler und funktionierender Demokratien gemacht. In der Mehrzahl der mittel- und osteuropäischen Länder besteht heute Klarheit über die nationale Staatlichkeit, und staatliche Machtstrukturen sind nicht nur etabliert, sondern auch hinreichend differenziert. Damit sind wesentliche Bedingungen für das Funktionieren demokratischer Prozesse gegeben. In allen Ländern der Region bestimmt die Bevölkerung die Herrschaftsträger in freien und fairen Wahlen und verfügt über die für eine Demokratie grundlegenden politischen Freiheitsrechte. Während aber die ostmitteleuropäischen Länder rechtsstaatliche Grundsätze trotz großer Korruptionsprobleme insgesamt gewährleisten, sind die Defizite der südosteuropäischen Länder hier deutlicher ausgeprägt. Dies betrifft nicht nur die Ahndung des Amtsmissbrauchs, sondern auch die Gewaltenteilung und die Geltendmachung von bürgerlichen Freiheitsrechten.

In den ostmitteleuropäischen Ländern sind die demokratischen Institutionen hinreichend akzeptiert und leistungsfähig, auch wenn es zu Reibungsverlusten im Zusammenwirken der Institutionen kommt. In Südosteuropa dagegen sind die Effizienz und Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen stärker beeinträchtigt, und in Bosnien-Herzegowina, Serbien-Montenegro (Kosovo) sowie Mazedonien akzeptieren starke Vetoakteure die grundlegenden staatlichen Institutionen infolge der ethnopolitischen Konflikte in diesen Ländern nicht.

Alle mittel- und osteuropäischen Länder lassen noch Defizite in der Konsolidierung von Interessenvertretung und Bürgerkultur erkennen. In keinem der Länder findet man ein gesellschaftlich verankertes Parteiensystem im Sinne stabiler, hoher Mitgliederzahlen und stabil konturierter Wählermilieus. In allen Ländern der Region unterstützen klare Bevölkerungsmehrheiten die Demokratie, auch wenn die Zustimmung zu einzelnen demokratischen Institutionen niedriger ist als in Westeuropa. Ein Konsolidierungsfortschritt ist insofern festzustellen, als die Zustimmung zur Demokratie von der wesentlich negativeren Einschätzung der herrschenden politischen Elite weitgehend entkoppelt ist.

In Lateinamerika verlief die Demokratisierung ganz anders. Abgesehen von Costa Rica, das seit 1949 ununterbrochen demokratisch regiert wird, vergingen in der jüngsten Demokratiewelle etwa 20 Jahre zwischen den ersten Übergängen (Ecuador 1979, Peru 1980) und dem bislang letzten (Mexiko 1997/2000). Auch das Erscheinungsbild der politischen Regime ist sehr heterogen: Haiti ist nach dem Demokratieversuch der neunziger Jahre sukzessive wieder zu einem autoritären System zurückgekehrt, während Kuba bislang gegenüber substanziellen demokratischen Reformen resistent geblieben ist.

Schließlich ist auch die Demokratiequalität in Lateinamerika heterogener als in Mittel- und Osteuropa: Nur die beiden kleinen Länder Costa Rica und Uruguay können als konsolidierte Demokratien angesehen werden, und immerhin kann auch Chile trotz der noch verbliebenen autoritären Enklaven seit 1990 eine kontinuierlich positive Entwicklung der Demokratie verzeichnen. Doch auch das verbleibende Universum der „defekten Demokratien“2 bietet im Hinblick auf Funktionsweise und Stabilität kein einheitliches Bild. Als latent oder offen instabil sind vor allem die fünf Anden-Länder und Zentralamerika anzusehen, und in fast alle politischen Regime haben sich Defektsyndrome eingenistet, auch wenn sie in Ausprägung und Schwere variieren.

Die Stärke dieser Demokratien liegt ohne Zweifel in der festen Etablierung freier und fairer Wahlen, die zu einer erfreulichen Routine geworden sind – lediglich Kolumbien (Bürgerkrieg), Venezuela unter Hugo Chávez und Paraguay fallen hier aus dem Rahmen. Diese „Wahldemokratie“ und die dadurch generierten politischen Herrschaftspositionen sind jedoch in den meisten Ländern nicht hinreichend in kontrollierende Strukturen eingebettet. Mit wenigen Ausnahmen liegen Einschränkungen der Staatlichkeit vor, die sich in der Präsenz von Guerrillagruppen, Machtlosigkeit gegenüber der Drogenmafia oder wenig kontrollierter Kriminalität äußern.

Ihren niedrigsten Wert erreichen die lateinamerikanischen Länder hingegen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit – sei es auf Grund der Aushebelung der Gewaltenteilung und damit einhergehender Hyperkorruption, die delegative Praktiken ergeben (u.a. Argentinien, Venezuela), oder sei es auf Grund der Beschädigung der bürgerlichen Freiheitsrechte, die sich in einer „low intensity citizenship“ bzw. als illiberale Demokratien3 äußern (Zentralamerika, Anden-Länder, Mexiko, Brasilien). Neben Schwächen in der Stabilität der demokratischen Institutionen sind auch die labilen Strukturen politischer und gesellschaftlicher Repräsentation hervorzuheben, die sich u.a. im Zusammenbruch von etablierten Parteiensystemen (Peru, Venezuela) oder dem ungefilterten Ausbruch sozialer Unzufriedenheit äußerten.

Im Unterschied zu Lateinamerika erlebten die meisten Länder Mittel- und Osteuropas eine simultane politische, ökonomische und nationalstaatliche Transformation. Dies lag zum einen daran, dass die staatssozialistischen Herrschaftsmodelle in der Region auf einer staatlichen Steuerung und politischen Kontrolle des Wirtschaftssystems beruhten. Mit der Demokratisierung entfiel auch die Legitimitationsgrundlage der staatssozialistischen Wirtschaftsmodelle, verbunden mit der Konsequenz, dass planwirtschaftliche Koordinationsmechanismen durch Märkte und private Eigentumsbeziehungen ersetzt wurden.

Zum andern waren die alten Regime eng mit drei föderativen Staatsformen verknüpft – die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien und die Tschechoslowakische Sozialistische Föderation. Die Demokratisierung beseitigte die im politischen Herrschaftsmodell angelegten Existenzgründe dieser staatssozialistischen Föderationen und setzte staatszerstörende nationalistische Dynamiken frei.

Wie die Tabelle zeigt, haben die 15 MOE-Länder im Durchschnitt ein deutlich höheres Demokratie- und Konsolidierungsniveau erreicht als die 20 Länder Lateinamerikas. Die Spitzengruppe bilden acht Länder, die als konsolidierte Demokratien gelten können, davon nur zwei aus Lateinamerika (Costa Rica, Uruguay). Ihnen folgt eine Ländergruppe, die im Konsolidierungsprozess weit fortgeschritten ist und insbesondere bei der Stabilität der demokratischen Institutionen hohe Werte erreicht – auch hier sind die Länder Mittel- und Osteuropas in der Überzahl. Das Gros der Länder Lateinamerikas sowie Jugoslawien, Mazedonien und Albanien sind durch ein mittleres Demokratieniveau gekennzeichnet, was bedeutet, dass die grundlegenden demokratischen Institutionen zwar funktionieren, aber zum Teil große Mängel aufweisen. Während Staatlichkeitsdefizite in diesen MOE-Ländern typischerweise aus ungelösten ethnopolitischen Problemen und Konflikten resultieren, bestehen in den lateinamerikanischen Ländern häufiger Probleme mit der Ausdehnung des staatlichen Gewaltmonopols und der Rechtsstaatlichkeit. Diese und weitere Defekte kennzeichnen auch die Gruppe der schwächsten Demokratien, die zudem von erhöhter Instabilität geprägt sind. Zu ihnen zählt in Osteuropa nur Bosnien-Herzegowina, in Lateinamerika sind es immerhin fünf Länder.

Der Blick auf die Unterkategorien der Demokratiequalität zeigt, dass die größten Unterschiede zwischen den beiden Regionen in der Rechtsstaatlichkeit bestehen, die in Lateinamerika der Entwicklung des Wahlwettbewerbs deutlich hinterher hinkt. Es gibt aber noch größere Unterschiede bei jenen Kriterien, die das Konsolidierungsniveau von Demokratien anzeigen. Sowohl im Hinblick auf die Stabilität der demokratischen Institutionen als auch auf die politische und gesellschaftliche Integration klafft zwischen beiden Regionen die größte Lücke: nur drei Länder Lateinamerikas erreichen hier das durchschnittliche Niveau Mittel- und Osteuropas.

Schlüsselfaktoren

Was erklärt den Erfolg der Demokratisierung in Mittel- und Osteuropa? Erstens besaßen die politischen Akteure keine glaubwürdigen Alternativen zur liberalen Demokratie. Die alten staatssozialistischen Systeme hatten ihre sozioökonomische und ideologische Legitimationskraft seit den siebziger Jahren verloren. Materieller Wohlstand verband sich in Westeuropa mit dem Systemtyp der Demokratie, während die im GUS-Raum entstehenden semiautoritären Systeme mit der eigenen autoritären Vergangenheit unter sowjetischer Hegemonie identifiziert wurden und keine überzeugende Alternative darstellten.

Zweitens hatten die staatssozialistischen Systeme eine relativ egalitäre Sozialstruktur im Hinblick auf Einkommen, Vermögen, Bildung, Erwerbs- und Familienmodelle geschaffen, die es den MOE-Ländern ermöglichte, die sozialen Kosten der ökonomischen Transformation (Arbeitslosigkeit und Armut) relativ konfliktfrei zu absorbieren und die Modernisierungsgewinne relativ schnell einer relativ breiten Bevölkerungsgruppe zugänglich zu machen.

Drittens wurde der Systemwechsel vor allem in den ostmitteleuropäischen Ländern von einer vergleichsweise starken Zivilgesellschaft getragen, die die Entwicklung verantwortlicher politischer Eliten förderte und in der Folge auch autoritäre Praktiken der neuen Herrschaftsträger der öffentlichen Kritik aussetzte. Die MOE-Länder konnten sich dabei auf das kulturelle Erbe aus der kommunistischen und vorkommunistischen Zeit stützen.

Viertens führten die ersten demokratischen Wahlen in den MOE- und den baltischen Ländern zur Absetzung der alten kommunistischen Führungskader, die sich entweder aus dem politischen Leben zurückzogen oder ihre politischen Machtpositionen in ökonomische Führungspositionen umwandelten oder sich auf eine „sozialdemokratische“ Oppositionsrolle beschränkten. In den südosteuropäischen Ländern konnten sich die alten Eliten in den ersten demokratischen Wahlen behaupten, was die ökonomische Transformation und die demokratische Konsolidierung um mehrere Jahre verzögerte.

Fünftens schufen die Runden Tische und verfassungsgebenden Gremien zu Beginn der neunziger Jahre die richtigen institutionellen Weichenstellungen, die zur Stabilisierung der Demokratie beitrugen. Sie entschieden sich gegen ein präsidentielles Regierungssystem sowie gegen mehrheitsdemokratische Grundsätze und stimmten überwiegend für die parlamentarische Demokratie, aufbauend auf einem Verhältniswahlrecht mit Sicherungen gegen eine übermäßige Zersplitterung des Parlaments. Polen und Kroatien reduzierten nachträglich die Machtfülle des Präsidenten innerhalb ihrer parlamentarisch-präsidentiellen Systeme. Semipräsidentielle Systeme bewährten sich in den MOE-Ländern nicht, da sie die Konsolidierung eines programmatischen, moderat polarisierten und fragmentierten Parteiensystems behinderten und zusätzliche Möglichkeiten für populistische und ethnonationalistische Mobilisierung boten.

Sechstens stellte die ethnische Homogenität der Gesellschaft einen Schlüsselfaktor für eine erfolgreiche Demokratisierung dar. Ein Konsens über ethnische Zugehörigkeit und nationalstaatliche Integration erleichterte die Transformation wesentlich, ethnische Heterogenität schuf dagegen Anreize für „Unternehmer“, die ethnische Konfliktlinien aktivierten und ihre eigenen Nationalstaatsprojekte verwirklichten.

Siebtens übernahmen die westeuropäischen Länder und die Europäische Union eine wichtige Ankerfunktion für die Demokratisierungsprozesse in den MOE-Ländern. Die Perspektive des EU-Beitritts vermittelte den politischen Eliten und den Bürgern ein allgemeines Leitbild für die Reformen, und der Austausch mit Westeuropa stieß vielfältige Lernprozesse in der Region an, die folgenreicher waren als die beschränkte finanzielle Hilfe des Westens.

Dieses stabilisierende Gravitationsfeld mit einer Art wohlwollendem Aufseher fehlte den Ländern südlich des Rio Grande, auch wenn die Außenpolitik der USA entschiedener prodemokratisch wurde. Die anderen Schlüsselfaktoren besitzen jedoch auch für die Demokratisierung in Lateinamerika Gültigkeit, wie die bis dato erfolgreichen Demokratisierungsprozesse in Costa Rica und Uruguay zeigen. Allerdings mussten hierfür mehrere begünstigende Faktoren zusammenspielen. Zu ihnen zählt erstens die demokratischen Erfahrungen, die vor allem in Uruguay und Costa Rica, teilweise aber auch in Chile und – mit Abstrichen – in Argentinien das Entstehen bzw. Weiterbestehen einer demokratischen politischen Kultur förderten.

Eng damit verknüpft ist zweitens, dass Uruguay und Costa Rica nicht nur über ein relativ günstiges Entwicklungsniveau, sondern auch ein für Lateinamerika geringes Maß an gesellschaftlicher Ungleichheit verfügten und verfügen. Dieses hohe Maß an sozialer Homogenität und Integration wurde durch tragfähige Wohlfahrtsvereinbarungen stabilisiert. Es sorgte für eine günstige Verteilung der gesellschaftlichen Macht und für weniger soziale und politische Konflikte. Dies begünstigte das Entstehen einer starken Zivilgesellschaft, stärkte die politische Kultur und war begleitet von der Herausbildung relativ stabiler Parteiensysteme.

Chile hat die besten Aussichten, zu den beiden konsolidierten Demokratien aufzuschließen. Zwar wurden nach 1973 die Entfaltung einer sozial ausgeglicheneren Gesellschaftsentwicklung gestoppt, die starken wohlfahrtsstaatlichen Institutionen abgebaut und der Weg bereitet für eine der ungleichsten Einkommensverteilungen in Lateinamerika. Dass dies bislang die positive Demokratieentwicklung seit 1990 nicht beeinträchtigt hat, liegt vor allem an zwei Faktoren: an der gefestigten und weiter ausgebauten Rechtsstaatlichkeit und an den Maßnahmen zum sozialen Ausgleich, die die Ungleichheit abzufedern versuchen. Beide Faktoren haben illiberale Tendenzen in Chile bislang verhindert, und beide stehen in engem Zusammenhang mit dem guten Management der demokratischen Regierungen. Die Entwicklung in Argentinien zeigt hingegen, dass schlechtes Management die vorhandenen positiven Faktoren aufheben kann, vor allem wenn es mit Defiziten an Staatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit verknüpft ist.

Die Gültigkeit dieser positiven Faktoren zeigt sich fast noch deutlicher am Kehrbild der stagnierenden Demokratieprozesse in Lateinamerika. Sie kombinieren allesamt starke Defizite an Staatlichkeit und rechtsstaatlicher Tradition, an wirtschaftlicher Entwicklungsdynamik, zivilgesellschaftlicher Organisation und gefestigten politischen Repräsentationsmustern. Vor allem aber unterliegt ihnen ein hohes bis extremes Maß an sozialer Ungleichheit, das sich negativ auf Qualität und Stabilität der Demokratie auswirkt.4 Die Mehrheit dieser Länder sind „blockierte“, strukturkonservative und segmentierte Klassengesellschaften, in denen formale und informelle Vereinbarungen genutzt werden, um politische und gesellschaftliche Machtbeziehungen zu festigen und die hierfür notwendigen politischen Verfügungsrechte möglichst unangetastet zu lassen.

Am deutlichsten zeigt sich dies in Kolumbien und Venezuela, die lange Zeit als Demokratien galten, im Kern aber von exklusiven Verteilungskoalitionen regiert wurden. Sie hatten wenig Interesse, die Demokratisierungsfalle einer halbierten Volkssouveränität zu beseitigen. Die Gegenkräfte wiederum, die das „Versprechen“ einer Komplettierung der Demokratie in Anspruch nehmen, sind im Allgemeinen zu schwach auf Grund einer starken Entfaltung der Wahldemokratie. Auch im Peru der achtziger Jahre zeigten insbesondere die weißen Ober- und Mittelschichten Limas, die über das alte Parteiensystem auch die nationale Politik dominierten, wenig Interesse an grundlegenden Veränderungen, noch nahmen sie gar die Welt des „profunden“ Peru richtig zur Kenntnis – bis zur „Revolution per Stimmzettel“ 1990.

Zentrale Lehren

Mittel- und Osteuropa stellen eine Weltregion dar, in der mehrere begünstigende Faktoren, die für andere Weltregionen nicht gelten, eine Bewältigung der komplexen und simultanen Transformationsprozesse ermöglichten – Faktoren wie die Delegitimierung nichtdemokratischer Alternativen, das sozialstrukturelle Erbe des Staatssozialismus und die Ankerfunktion der EU.

Eine zentrale Lehre aus den mittel- und osteuropäischen Transformationsprozessen besteht darin, Strategien zu entwickeln, um eine Politisierung und Polarisierung ethnischer Unterschiede zu verhindern oder wenigstens zu kanalisieren. Wenn ethnopolitische Konflikte aufbrechen, können sie die politische und wirtschaftliche Transformation blockieren und Gesellschaften zerstören. In Mittel- und Osteuropa war die Existenz ethnopolitischer Konflikte der entscheidende Faktor für Scheitern bzw. Erfolg der Demokratisierung. Zur Einhegung ethnopolitischer Konflikte reicht das herkömmliche Instrumentarium internationalen Konfliktmanagements nicht aus; vielmehr sollte ein umfassender Ansatz entwickelt werden, der vom Verfassungsdesign über die internationale Demokratisierungshilfe bis zur Wirtschaftskooperation darauf ausgerichtet und abgestimmt ist, Anreize und Strukturen für ethnienübergreifende Integration sowie interethnische Konsensbildung aufzubauen.5

Die zentrale Lehre aus den lateinamerikanischen Transformationsprozessen mit ihrer halbierten Volkssouveränität besteht darin, die gesamtsystemische Qualität der Demokratisierung stärker zu berücksichtigen. Notwendig ist zum einen die Einbettung der „Wahldemokratie“ in funktionsfähige institutionelle und konstitutionelle Arrangements. Zum andern ist für eine nachhaltige Demokratisierung aber auch die Einbettung in passende soziale, kulturelle und wirtschaftliche Strukturen von Bedeutung, wobei vor allem das Durchbrechen krasser sozialer Ungleichheit einen Dreh- und Angelpunkt darstellt. Nur so können auch die notwendigen Synergieeffekte für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung erzeugt werden. Wird dies allerdings nicht berücksichtigt, sind Entwicklungsblockaden und Instabilität vorgezeichnet wie in den Anden-Ländern und Zentralamerika. Jedenfalls reichen die Wurzeln der demokratischen Schwierigkeiten tiefer in sozioökonomische Strukturdefizite hinein, als viele – auch externe – Akteure wahrhaben wollen. Je größer diese Defizite sind, desto höher entwickelt muss auch das Transformationsmanagement sein.

Ein einfaches Rezept für erfolgreiche Demokratisierung existiert somit nicht, denn zu unterschiedlich ist das Zusammenspiel vorhandener Strukturen, der Konstellation der Akteure und geeigneter Institutionen. Wie auch immer aber der auslösende Impuls eines Übergangs gesetzt wird – durch Evolution, Verhandlung, Kollaps oder Invasion: Die Qualität des Transformationsmanagements durch die politischen Eliten ist bei ansonsten gleicher Ausstattung der entscheidende Unterschied für den langfristigen Erfolg oder Misserfolg der Demokratie. Die internationale Gemeinschaft sollte sich deshalb in Zukunft nicht scheuen, ein gutes Übergangsmanagement großzügig zu honorieren.

Anmerkungen

1  Vgl. Jon Elster/Claus Offe/Ulrich K. Preuss, 1998: Institutional Design in Post-communist Societies. Rebuilding the Ship at Sea, Cambridge/New York/Oakleigh.

2  Vgl. Wolfgang Merkel/Hans-Jürgen Puhle u.a.: Defekte Demokratien, 2 Bde., Opladen 2003 (i.E.).

3  Vgl. ebd., Bd. 1, S.65 ff.

4  Vgl. Terry Karl, The vicious circle of inequality in Latin America, Working Paper 2000/177, Instituto Juan March, Madrid 2002.

5  Vgl. Brusis/Josef Janning, „Verhinderte Nationen“. Über den Umgang mit ethnischen Minderheiten, in: Internationale Politik, 9/1999, S. 1–6.

Dr. Martin Brusis und Dr. Peter Thiery arbeiten gemeinsam an dem Projekt: Transformation. Die Steuerung des Systemwandels, das von der Bertelsmann Stiftung zusammen mit dem Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) durchgeführt wird.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 8, August 2003, S. 19 - 26

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