Am Scheideweg
Zwischen klassischer Entwicklungshilfe und Sicherheitspolitik
Die Handlungsspielräume der bilateralen ebenso wie der multilateralen Entwicklungspolitik
haben sich verändert. Auf der Seite der Entwicklungsländer sind zu den alten,
oftmals ungelösten Problemen neue hinzugekommen; die Industrieländer versuchen zunehmend,
Entwicklungspolitik auch unter sicherheitspolitischen Aspekten zu bestimmen. Peter
Thiery stellt drei Bücher vor, die sich mit der Neujustierung der Entwicklungspolitik auseinandersetzen.
Die weltpolitische Entwicklung hat spätestens nach dem 11. September 2001 auch für die bilaterale und multilaterale Entwicklungspolitik die Handlungsspielräume und -bedingungen verändert. Zwei Punkte sind hervorzuheben: Auf der Seite der Entwicklungsländer sind zu den alten, oftmals ungelösten Entwicklungsproblemen neue hinzugekommen. Neben den Folgen einer beschleunigten Globalisierung sind hier vor allem jene Risiken zu nennen, die durch schwache oder zerfallende Staaten entstehen. Dies verweist – zweitens – auf die Veränderungen auf der „Angebotsseite“. Denn die Industrieländer, die in den neunziger Jahren ihre Entwicklungspolitik zunehmend mit politischer Konditionalität verknüpften, versuchen mittlerweile, dieses Politikfeld auch unter sicherheitspolitischen Aspekten zu gestalten. Die Entwicklungspolitik steht somit vor der Aufgabe, Ziele, Strategien und Instrumente neu zu justieren.
Drei neuere Publikationen spiegeln diese Problematik wider, auch wenn sie an recht unterschiedlichen Punkten ansetzen. Francis Fukuyamas neues Buch „Staaten bauen“ weckt große Erwartungen, kreist es doch um eines der Kardinalprobleme der internationalen wie der Entwicklungspolitik unserer Tage. Fukuyama spitzt es derart zu, dass es für ihn zum zentralen Problem überhaupt wird: Schwache, zerfallende und vor allem zerfallene Staaten sind für ihn die Hauptursache des Terrorismus – und nicht etwa Armut. Doch auch die Mehrzahl der übrigen Entwicklungsländer leidet an einem Mangel an Staatlichkeit, wie etwa auch der Bertelsmann Transformation Index (BTI) bestätigt, der Staatlichkeit zu den zentralen Herausforderungen politischer, wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung zählt.
Anliegen Fukuyamas ist es somit zu klären, wie Entwicklungsländern zu tatkräftigeren staatlichen Institutionen verholfen werden kann. Dabei konzentriert er sich mehr auf die Bedingungen und Hindernisse, die einen gewünschten Institutionentransfer ermöglichen bzw. erschweren. Insgesamt kritisiert er das Scheitern der Entwicklungspolitik auf diesem Gebiet auf breiter Front: Weder die westlichen Regierungen noch die internationalen Finanzinstitutionen hätten den Entwicklungsländern bisher wirkungsvoll helfen können. Dabei grenzt er solche (institutionelle) Stärke des Staates von einem „großen“ Staat ab, der eine oft zu große Bandbreite von Staatsaufgaben übernommen hätte. Im Zuge der neoliberalen Reformen sei dies aber allzu oft vermengt worden – mit der Folge, dass neben der Beschneidung der Tätigkeitsbereiche oft auch seine Kernfunktionen Schaden nahmen.
Diese nicht ganz neue Bestandsaufnahme, die auch Fukuyama selbst als eine Allerweltsweisheit bezeichnet, führt ihn gleichwohl zur brennenden Hauptfrage: Wie nämlich lässt sich das vorhandene Wissen so in Entwicklungsländer transferieren, dass dort auf Dauer funktionierende Institutionen entstehen – Institutionen also, die auch dann noch ihre Funktionen erfüllen, wenn externe Unterstützung nicht mehr für sie verantwortlich zeichnet? Dabei verdeutlicht er, dass der Aufbau von Staatlichkeit nicht nur die rein institutionell-organisatorischen Aspekte umfasst, sondern auch den Aufbau des politischen Systems, die Legitimitätsbasis des Staates bis hin zu kulturellen und strukturellen Faktoren. Gerade über diese komplementären Elemente allerdings – so Fukuyama – hätten die Sozialwissenschaften bis dato kein hinreichend systematisches, d.h. transferierbares Wissen bereitgestellt. Somit bestehen schon auf der „Angebotsseite“ keine günstigen Voraussetzungen für die Neuschaffung bzw. Reform von Institutionen. Noch düsterer sehe es allerdings auf der „Nachfrageseite“ aus, denn ohne Bedarf (d.h. ohne Reformwillen) werde es in keinem Land Anreize für die Schaffung neuer, stabiler und sich selbst tragender Institutionen geben. In solchen Fällen, so konstatiert er an anderer Stelle, sei es vergeblich, staatliche Institutionen aufbauen zu wollen. Doch auch in vielen anderen Ländern gebe es vermutlich immer nur kurze Transformationsfenster, die man für Reformen nutzen könne.
Extern gesteuerten Versuchen zur Institutionenbildung erteilt Fukuyama eine Absage, sei es über Konditionalität oder gar über Protektorate. Doch er geht noch einen Schritt weiter, wenn er den Geberländern nicht nur Konzeptions- und Hilflosigkeit beim „state building“ attestiert, sondern ihnen auch die Schuld für die Zerstörung institutioneller Kapazitäten in manchen Ländern zuschreibt. Den Grund sieht er in widersprüchlichen Zielen der Gebergemeinde, die oft genug zu „trade-offs“ führen: Während auf der einen Seite unter der Flagge der „good governance“ die Stärkung der Regierungskapazität propagiert und mit entsprechenden Unterstützungsmaßnahmen versehen wird, geht es ihnen auf der anderen Seite auch um den effizienten Einsatz ihrer Hilfen für die Betroffenen. Dies aber können die lokalen Institutionen zumeist (noch) nicht leisten, wodurch die Neigung entsteht, diese Funktionen selbst zu übernehmen – mit der Folge, dass die örtlichen Institutionen geschwächt werden.
Was aber ist dann machbar? Am ehesten sieht Fukuyama Transferchancen beim Aufbau öffentlicher Verwaltungen. In seinem zweiten Großkapitel sucht er Antworten auf die Transferfrage folgerichtig in den neueren Theorien über Institutionen und Organisationen, die seit den neunziger Jahren in den Sozialwissenschaften für Furore gesorgt haben. Seine Tour d’Horizon durch die Neue Institutionenökonomik, die Transaktionskostenökonomie, den Principal-Agent-Ansatz und andere führen jedoch auch zu einer eher ernüchternden Bilanz. Sie bringt ihn zu dem Schluss, dass ein Transfer formaler Institutionen nur in den seltensten Fällen gelingt, wenn nicht der Kontext der internalisierten Normen berücksichtigt wird – sprich die Akteure vor Ort, die die Institutionen tragen sollen. „Best practices“ aus anderen Ländern werden deshalb dysfunktional, wenn man nicht mit Hilfe lokalen Wissens auch zu lokalen Lösungen kommt.
Hier liegen allerdings auch die Schwächen des Buches. Zwar zeigt Fukuyama die zahlreichen Hindernisse auf, doch fehlt letztlich die Brücke zu einer Strategie des Staatsbildung.Eine weitere Ungereimtheit liegt in der mangelnden Differenzierung der Ursachen erodierter Staatlichkeit. Dies wird besonders deutlich im dritten Teil, wo er auf internationale Aspekte prekärer Staatlichkeit eingeht. So mag es zwar richtig sein, dass nach Ende des Ost-West-Konflikts unter dem Signum „humanitärer Interventionen“ das Prinzip der Souveränität erodierte. Dies ist jedoch erstens in einer Wechselwirkung zu sehen, und zweitens unterscheidet sich diese Form der Erosion von Souveränität von den internen Ursachen mangelnder Staatlichkeit und von Staatszerfall.
Zwei andere Publikationen setzen jede auf ihre Art deutlich andere und differenzierte Akzente. So zeigt der am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik entstandene, von Dirk Messner und Imme Scholz herausgegebene Sammelband zu den „Zukunftsfragen der Entwicklungspolitik“, dass dieses Politikfeld unter den Bedingungen einer komplexen Globalisierung bereits deutlich im Wandel begriffen ist, ohne allerdings seine Kontur für das 21. Jahrhundert bereits gefunden zu haben. Anders als Fukuyama sehen die Autoren die Notwendigkeit, Entwicklungspolitik in den Chancen, Risiken und Widersprüchen der gegenwärtigen internationalen Politik zu verankern und sie als Bestandteil einer globalen Friedenspolitik zu konzipieren. Denn es liege im „aufgeklärten Eigeninteresse“ der Industrieländer, in den Arenen der Entwicklungspolitik für konstruktivere Kooperation zu sorgen, um letztlich die Probleme einer verdichteten Globalisierung auf Dauer gestalten zu können.
Die Beiträge zeichnen zugleich eine vorsichtige Bilanz, wie weit die entwicklungspolitische Neuorientierung bereits gediehen ist. Insbesondere die Frage, ob Entwicklungspolitik heute konzeptionell, strategisch und institutionell-organisatorisch für diese Zukunftsaufgabe vorbereitet ist, ist nur verhalten positiv zu beantworten. Wie die Herausgeber einleitend skizzieren, müssen die Anpassungen der Entwicklungspolitik noch weiter (und schneller) gehen, will man sie als Ansatz einer globalen Strukturpolitik ernst nehmen. Damit argumentieren sie implizit gegen Fukuyama, der in Sorge um eine zerfallende Staatenwelt zu eng auf das Problem (souveräner) Staatlichkeit fokussiert. Gleichwohl werden auch die Probleme gesehen, die das Konzept einer globalen Friedenspolitik mit sich bringt. Denn will man den Rückzug in die Nische einer reinen Armutsbekämpfung vermeiden, stellen sich die bereits bekannten Probleme der „Feudalisierung“ des Politikfelds umso dringlicher, wie etwa die interne und externe Kohärenz, die Frage der Geberkoordinierung und nicht zuletzt eine geeignetere Abstimmung mit den Empfängerländern (Politikdialog).
Dass diese Aufgaben einer wirksameren Entwicklungspolitik allerdings enorm sind und in vielen Bereichen erst ein kleiner Teil der Wegstrecke zurückgelegt ist, wird in dem umfangreichen Band detailliert dokumentiert. So zeigt der Beitrag von Guido Ashoff, dass die externe Kohärenz, d.h. die Einpassung entwicklungspolitischer Ziele und Strategien in andere Politiken, zwar ein mittlerweile erkanntes Problem darstellt, aber noch viele Trial-and-error-Prozesse notwendig sein werden, um zumindest gravierende Inkohärenzen zu vermeiden. Mit der neuen Sicherheitsstrategie der EU, die eine enge Verzahnung von Außen- und Sicherheitspolitik mit der Entwicklungspolitik empfiehlt, ist diese Herausforderung noch größer geworden. Wie Jörg Faust und Messner argumentieren, muss die Entwicklungspolitik sich organisatorisch und finanziell umstellen, will sie ihre spezifischen Kompetenzen aktiv einbringen.
Auch im Hinblick auf geeignetere entwicklungspolitische Instrumente kann gezeigt werden, dass bereits neue Wege beschritten worden sind. Insbesondere betrifft dies die Umstellung auf programmbasierte Ansätze über die Finanzierung von Budgets in den Empfängerländern, die insbesondere im subsaharischen Afrika in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat (Stephan Klingebiel/ Stefan Leiderer/Petra Schmidt). In diese Umstellung ist die Erfahrung eingeflossen, dass die Ex-ante-Konditionalität und die Strukturanpassungen der neunziger Jahre nicht erfolgreich waren. Zudem wäre ein solcher Ansatz geeigneter, um etwa dem Prinzip der „ownership“ gerecht zu werden. Allerdings macht sich hier auch das von Fukuyama skizzierte Dilemma zwischen unzureichender institutioneller Kapazität und der Effizienz der Entwicklungshilfe bemerkbar.
Kein anderer Kontinent bedarf neuer entwicklungspolitischer Strategien so dringend wie Afrika. Der von dem Münchener Politikwissenschaftler Mir A. Ferdowsi herausgegebene Band zum Stand der Transformation in Afrika vermittelt eindringlich, welche Schwierigkeiten Europas Nachbarkontinent auf nahezu allen Ebenen gesellschaftlicher Entwicklung hat und vermutlich auf längere Sicht noch haben wird – zu groß ist die Akkumulation ererbter und selbst geschaffener Problemlagen seit der Unabhängigkeit.
Ist Afrika also ein „verlorener Kontinent“, wie der Untertitel des Buches fragt? Die Analysen scheinen dies ein ums andere Mal zu belegen – sei es im Bereich politischer Herrschaft (Rainer Tetzlaff), der ökonomischen Misere (Cord Jakobeit), der Flüchtlingsproblematik (Denis M. Tull) oder der regionalen Konfliktbearbeitung (Volker Matthies). Auch die Ansätze zur regionalen Kooperation scheinen dabei unter einem ungünstigen Stern zu stehen, wenngleich sich hier auch Afrikas schlechte Position im Globalisierungsprozess auswirkt (Rolf Hofmeier).
Zentrales Problem ist in der Tat das Problem der Staatlichkeit. Wie Stefan Mair darlegt, ist Staatsverfall in Afrika ein Prozess, der in der einen oder anderen Form in jedem Staat auftritt. Die Hauptursachen dafür seien dieselben, die auch für die Ausbreitung der Demokratie in der Region mitverantwortlich waren, nämlich das Ende des Ost-West-Konflikts, die anhaltende Ressourcenknappheit und der soziale Wandel. Mairs Prognose ist eher düster, denn es drohe eher ein Teufelskreis aus staatlicher Schwäche und Legitimationsentzug.
Dennoch: Gemessen an der Ausgangslage zu Ende der achtziger Jahre und am Schwierigkeitsgrad der politischen und ökonomischen Transformation wäre es vermessen, Afrika erstens als Kontinent der Stagnation und zweitens gar als eine Art Sozialfall zu betrachten. Berücksichtigt man die Geschichte des Kontinents, so kann durchaus eine verhalten positive Bilanz der Demokratisierungsbemühungen gezogen werden. Auch neuere gemeinsame Anstrengungen wie die „Afrikanische Union“ belegen die neue politische Dynamik hin zur „good governance“. Allerdings gibt uns dieser Band auch mit auf den Weg, dass die Gefahr eines Wettlaufs zwischen Demokratiedynamik und zerfallender Staatlichkeit besteht und unterstützendes Handeln auch für solche Initiativen dringend erforderlich ist.
Francis Fukuyama, Staaten bauen. Die neue Herausforderung internationaler Politik, Berlin: Propyläen Verlag 2004, 192 S., 20,00 EUR. Dirk Messner/Imme Scholz (Hrsg.), Zukunftsfragen der Entwicklungspolitik, Baden-Baden: Nomos 2004, 410 S., 59,00 EUR. Mir A. Ferdowsi (Hrsg.), Afrika – ein verlorener Kontinent?, München: Wilhelm Fink Verlag (UTB) 2004, 382 S., 31,90 EUR.
Internationale Politik 11-12, November/Dezember 2004, S. 167-171
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