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29. Mai 2008

Warum ich nie mehr in Belgrad war

Flucht aus der Vergangenheit? Ein Essay über die Pflicht zum Fragen

Die Kriege auf dem Balkan haben Wunden in den Seelen der Menschen hinterlassen. Was ist aus den Feinden von einst geworden, was aus den Freunden? Welche Rolle spielen die Nachgeborenen, haben sie wirklich nichts mit der Vergangenheit zu tun? Auf Spurensuche in einer zerrissenen Region.

Am ersten Frühlingstag, der mit heftigen, kalten Windböen kam, ging ich die Mariahilfer Straße in Wien entlang. Dabei bekam ich zufällig das Gespräch dreier junger Leute mit. Sie unterhielten sich auf Serbisch über eine auch von Bosniaken und Kroaten besuchte Veranstaltung. Was mich aufhorchen ließ, war nicht ihre Sprache an sich, die hört man heutzutage überall in den U-Bahnen und Straßen von Wien. Es war ein Ausdruck, den einer von ihnen verwendete. „Ich hätte nicht erwartet, heute Abend so viele Leute zu treffen, die unsere Sprache sprechen“, sagte er. Für mich war ersichtlich, dass er mit „unsere Sprache“ nicht eine bestimmte meinte, wie das Serbische, Bosnische oder Kroatische. Es ging vielmehr darum, dass der junge Mann absichtlich „unsere Sprache“ sagte, statt diese Sprache beim Namen zu nennen, was politisch korrekt gewesen wäre.

„Unsere Sprache“ ist nämlich der Ausdruck, den Flüchtlinge und Immigranten – oder ganz allgemein eine gemischte Gruppe von Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die sich im Ausland treffen – gewöhnlich verwenden, um ihre verschiedenen Umgangssprachen zu bezeichnen.

Andeutung guter Absichten

Die Wahrheit ist, dass ihre Verkehrssprache, die Sprache, die ihrer gemeinsamen Verständigung diente, keinen gemeinsamen Namen mehr hat. Es ist nicht mehr das Serbokroatische von einst. Wenn also einer der jungen Leute „unsere Sprache“ sagte, so bezeichnete er damit den kleinsten gemeinsamen Nenner, der sich nach all den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien als eine Art Norm herausgebildet hat. Tatsächlich dient er als verschlüsselte Andeutung guter Absichten: Wir sind keine Feinde; trotz allem, was geschehen ist, können wir uns immer noch verständigen.

Überrascht verspürte ich bei diesen Worten eine körperliche Reaktion, eine warme Woge, die mich durchflutete. Egal in welcher Sprache, diese jungen Leute verständigen sich, und das ist das Wichtigste, dachte ich, während mein Blick dem lebhaften Gang der drei in ihrem modischem schwarzen Outfit folgte. Sie sind noch sehr jung, Teenager. Vermutlich sind sie aus Serbien herübergekommen, um Wien einen Besuch abzustatten. Doch plötzlich traf mich die Erkenntnis, dass sie so unglaublich jung waren, dass sie einer Generation angehörten, die nach Ausbruch der Kriege in Jugoslawien herangewachsen war, wie ein Faustschlag in den Magen. Waren sie vielleicht gar erst geboren, nachdem ich Belgrad vor 17 Jahren zum letzten Mal aufgesucht hatte?

Als sie an mir vorbeigingen, stieg wieder die alte Mischung aus Schuld und Angst in mir auf, die mich von Zeit zu Zeit heimsucht. Wie oft bin ich in den letzten 17 Jahren nach Belgrad eingeladen worden? Von Freunden, meinem Verleger, Veranstaltern verschiedener internationaler Tagungen und Institutionen unterschiedlicher Art? Und jedes Mal fand ich einen plausiblen Grund, abzulehnen, die Einladung höflich auszuschlagen. Um Ausflüchte war ich nie verlegen. Der Wind ließ nach, als habe er sich verausgabt, und ich verlangsamte meine Schritte. Ich konnte nicht umhin, mir wieder die alte Frage zu stellen: Warum war ich all die Jahre nie in Belgrad gewesen? Wenn meine Freunde mich das fragten, antwortete ich üblicherweise, ich wisse es nicht. Dabei war mir durchaus klar, dass mich der Gedanke, wieder dorthin zu fahren, ängstigte und dass ich Belgrad nach Beginn des Krieges gemieden hatte, als sei die Stadt eine Metapher für den Krieg geworden.

Der Koffer der Erinnerung

Wovor hatte ich Angst? Vor „ihnen“? Vor dem, was „sie“ „uns“ angetan hatten? Oder vor dem, was die Serben sich selbst angetan hatten? Vielleicht davor, mit Fragen konfrontiert zu werden, mit denen ich nicht konfrontiert werden wollte? Mir war bewusst, dass ich, sollte ich die Reise antreten, die Last dieser 17 Jahre wie einen schweren Koffer mit mir herumschleppen würde. Und wenn ich ihn öffnete, würde alles herausquellen – Gesichter, Erinnerungen, Bilder, Wörter. Wer würde sie aufsammeln und wieder in den Koffer stopfen? Trotzdem, den Besuch aufzuschieben, bis die neue Generation in Serbien endgültig herangewachsen war, erschien mir plötzlich seltsam. Als wäre ich mir dessen nicht richtig bewusst gewesen, bevor ich diese Unterhaltung in der Mariahilfer Straße mithörte, die das vertraute Gefühl der Angst auslöste.

Ich erinnere mich noch an meinen letzten Besuch in Belgrad, im Juni 1991, kurz bevor Kroatien seine Unabhängigkeit erklärte. Einer dieser drei jungen Leute mochte damals geboren worden sein, vielleicht genau in diesem Monat. Das Mädchen vielleicht? Seine Eltern könnten im Stadtzentrum gelebt haben, in der Nähe des Bahnhofs, wo ich bei meiner Freundin Mirjana wohnte. Vermutlich kaufte ihre Mutter das Brot in derselben Bäckerei um die Ecke und besuchte samstagmorgens den Flohmarkt auf der Kalenica pijaca.

Inzwischen ist meine Freundin Mirjana an einer schweren Krankheit gestorben. Boris, ein anderer Freund, mit dem ich am letzten Tag meines Besuchs Kaffee trank, hat geheiratet. Als ich ihn zehn Jahre später auf dem Frankfurter Flughafen traf, ging sein Sohn schon zur Schule. Und Ana, auch eine Freundin, hatte Belgrad verlassen und war nach Paris gezogen, dann nach Sarajewo. Ljubica ging nach Slowenien, dann nach Schweden, später nach Belgien und kam erst vor kurzem zurück, des Umherziehens überdrüssig. Ein Kollege, ein Journalist, der früher häufig nach Zagreb kam, wurde Informationsminister in der Regierung von Slobodan Miloševic. Ein anderer wurde Intendant des staatlichen serbischen Fernsehens – des wichtigsten nationalistischen Propagandaapparats. Ein dritter begleitete General Ratko Mladic nach Srebrenica und dokumentierte dort dessen mörderischen Sieg.

In der Zwischenzeit erreichten uns Bruchstücke von Informationen, die bewiesen, wie wir uns verändert hatten, wie dieser oder jener Freund … ja, was geworden war? Ein Feind? Oder jemand, der sich bis zur Unkenntlichkeit gewandelt hatte, als Minister, als Verfasser nationalistischer Ergüsse, als Hassprediger? Hatte ich sie jemals wirklich gekannt? Kann man Menschen überhaupt kennen, vertrauen? Niedergeschlagenheit überkam mich bei diesen Fragen, zeigten sie doch die hässliche Seite der menschlichen Natur. Wenn ich in den Spiegel blickte, suchte ich auch bei mir nach Zeichen einer Veränderung. Die Furcht vor anderen ist immer zugleich die Furcht vor sich selbst.

Ich wusste, dass ein Besuch Belgrads wieder halb vergessene Bilder und Gefühle heraufbeschwören würde. Wie die Worte jener muslimischen Frau aus Srebrenica, deren Sohn in ihren Armen von einem serbischen Soldaten abgeschlachtet wurde: „Ich wurde gezwungen, das Blut meines Sohnes zu trinken“, sagte sie. Seit 13 Jahren sind ihre Worte jetzt in meinem Gedächtnis begraben.

Wie das Foto auf der Titelseite der Zeitschrift Dani aus Sarajewo: ein junger Mann in Jeans, Turnschuhen und einem weißen T-Shirt, der sich über ein Geländer beugt. Das Foto hätte nichts Besonderes, wäre da nicht das riesige Loch an der Stelle, wo eigentlich seine Brust sein müsste. Wie seltsam, dachte ich, als ich es sah, dieses Loch in seinem Leib, durch das man die Eisenschiene sieht. Absichtlich fixierte ich diese Schiene, weil die ganze Szene dadurch so unwirklich wurde …

Wollte ich mir, wie alle anderen, die Konfrontation mit meinen Gefühlen für ehemalige Freunde in Belgrad ersparen? Dachte ich, es sei besser, wegzubleiben, besser, nicht dorthin zu gehen? Andererseits, warum sollte eine Reise nach Belgrad etwas anderes sein als etwa die Rückkehr nach Zagreb? Im Gegenteil, ich musste mich dort auf Leute vom gleichen Schlage gefasst machen – alte Freunde und Kollegen, die Nationalisten geworden waren, und andere, die einfach Opportunisten waren. Ich musste mich darauf gefasst machen, dass viele liebgewonnene Menschen das Land verlassen hatten. So gesehen, müsste ein Besuch in Belgrad genau das Gleiche sein. Ist es aber nicht. Ich lebe und arbeite in Zagreb. Es ist meine Stadt, und es gab für mich keine Möglichkeit, der Begegnung mit Zagrebs Nachkriegswirklichkeit auszuweichen. Es sei denn, ich wäre bereit, es zu verlassen und nie wieder zurückzukehren.

„Belgrad kann ich meiden“, dachte ich. „Aber Belgrad gehört genauso zu deiner Vergangenheit“, sagte Boris zu mir, als ich ihn vor kurzem traf. Er ist schon vor Jahren aus den Vereinigten Staaten nach Belgrad zurückgekehrt. Wie üblich fand unser Treffen nicht in meiner Stadt, Zagreb, oder seiner, Belgrad, statt, sondern in Wien. Natürlich wieder auf einer dieser Konferenzen. Wir sprachen über unser Unbehagen bei der Rückkehr an die alten Orte, die einst die unseren waren, es aber nicht mehr sind. Er erzählte mir von seiner ersten Nachkriegsreise nach Dubrovnik. Es sei schmerzlich gewesen, sagte er, aber nicht nur wegen der nostalgischen Erinnerungen an die Sommer, die er dort auf den Pflasterstraßen verlebt habe. Oder weil er gesehen habe, was die Bomben dieser schönen mittelalterlichen Stadt angetan hätten. Es sei traurig gewesen, weil er sich dort habe klar machen müssen, dass die jugoslawische Soldateska es auch in seinem Namen getan habe. „Du musst kommen und dir Belgrad und die Menschen ansehen. Städte sind schließlich Menschen“, sagte er.

Die Schuld der Väter

Dann zeigte Boris mir ein Foto von seinem inzwischen erwachsenen Sohn, einem hochgewachsenen, gutaussehenden jungen Mann im Anzug. Kaum zu glauben, dass der kleine Junge, den ich am Frankfurter Flughafen und später zu Hause bei ihnen in den Vereinigten Staaten kennengelernt hatte, jetzt Jurastudent ist. Das war kurz nachdem ich das Gespräch in der Mariahilfer Straße mitgehört hatte, und wieder wurde ich daran erinnert, dass es dort eine neue Generation gibt, die demnächst wahlberechtigt sein wird. Boris’ Foto machte mir erneut klar, dass ich mich der Wirklichkeit dieser jungen Leute noch nicht gestellt hatte. Etwas Wesentliches war mir entgangen: sie aufwachsen zu sehen. Was wusste ich über sie? Dass sie ein Visum brauchen, um ins Ausland zu reisen, dass sie London oder Paris nicht sehen können, noch nicht einmal Triest. Selbst nach Bukarest oder Sofia dürfen sie nicht mehr fahren.

Wie traurig und absurd ist ihre Situation, dachte ich, wie demütigend, und ich erinnerte mich an den alten roten Pass Jugoslawiens, mit dem meine Generation einst ohne Visa durch Europa reiste. Er war ein Gegenstand unseres Stolzes, eine differentia specifica, die uns von den anderen Ostblockländern unterschied. Sie beneideten uns, wenn wir in den Siebzigern nach Italien und Frankreich, nach Großbritannien und Schweden reisten, um während der Sommermonate Erdbeeren zu pflücken und Geld zu verdienen. Als Studentin arbeitete ich in Schweden drei Monate in einem Lagerhaus und kehrte mit dem Geld für ein ganzes Jahr zurück. Vor allem aber beneidete man uns, weil wir Bluejeans, elegante italienische Schuhe, ausländische Bücher und Schallplatten kaufen konnten. Die andere Seite dieser Reisefreiheit war jedoch, dass sie zu einem der Gründe wurde, das politische System zu akzeptieren, dass sie in gewisser Weise als Köder gedacht war, der uns glauben machen sollte, der „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ sei sinnvoll und könne funktionieren. Wir stellten ihn nicht in Frage.

Bei der Konferenz in Wien ging mir auf, dass die Jugendlichen, die am Tag zuvor auf der Mariahilfer Straße Serbisch gesprochen hatten, wohl keine Serben aus Serbien waren; wären sie es gewesen, hätten sie zu den wenigen Glücklichen gehört, denen es gelang, Visa zu bekommen. In letzter Zeit höre ich immer wieder Diskussionen über das Visaproblem junger Europäer außerhalb der EU. Visa seien schwer zu bekommen, besonders für Serben, und auf diese Weise würden junge Menschen isoliert und daran gehindert, die Welt zu sehen, wird vorgebracht. Warum wolle man die jungen Leute für etwas bestrafen, was sie nicht getan hätten? Sie seien bei Ausbruch der jugoslawischen Kriege noch nicht einmal geboren gewesen. Sie seien nicht verantwortlich für das, was ihre Väter getan hätten, sagte ein Konferenzteilnehmer mit Wut in der Stimme.

Obwohl seine Rede offensichtlich dazu bestimmt war, Anteilnahme bei seinen Zuhörern zu wecken, muss ich gestehen, dass ich überhaupt keine Sympathie empfand. Ich war wütend über seine Wut. Im Namen der neuen Generation sprechend, unterstellte er, dass sie eine solche Behandlung durch „Europa“ nicht verdiene. Die stillschweigende Schlussfolgerung seiner Darlegungen lautete: Weil sie jung sind, müssen sie unschuldig sein. Und genau diese angebliche Unschuld der serbischen Jugend ärgerte mich.

Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe wie meine ganze Generation auf meine Unschuld gepocht; schließlich wurden wir nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Was hatten wir mit den Verbrechen zu tun, die vor unserer Geburt begangen worden waren? Die Situation der serbischen Jugend ist nicht ganz vergleichbar, weil unsere Väter einen gerechten, antifaschistischen Verteidigungskrieg führten (obwohl ich vermute, dass ihre Väter das Gleiche von sich behaupten würden). Doch während des Zweiten Weltkriegs hatten unsere Väter viele Kriegsverbrechen begangen, obwohl sie nie darüber sprachen. Ich werfe ihnen ihr Schweigen nicht vor – das gleiche Schweigen, das ich heute nach den Kriegen in Kroatien, Bosnien und im Kosovo erlebe.

Aber ich mache uns den Vorwurf, nicht die richtigen Fragen gestellt zu haben – zum Beispiel die einfachste und schwierigste: Was hast du im Krieg getan, Vater? Es wäre meine/unsere Pflicht gewesen, ihre Rechtfertigungen und ideologischen Geschichtsdeutungen in Frage zu stellen. Wir haben versagt, weil wir es nicht taten. Es wäre meine/unsere Pflicht gewesen, die Pflicht der nächsten Generation, die Wahrheit über den Krieg der Väter herauszufinden, der nicht nur ein anti-faschistischer Krieg und eine kommunistische Revolution, sondern auch ein Bürgerkrieg war. Doch wir glaubten an die offizielle Geschichtsversion und die Schulbücher, weil es sich mit ihnen leichter leben ließ. Unsere Einstellung zur Vergangenheit war einer der Gründe, warum die neuen nationalistischen Kriege in den neunziger Jahren so leicht vom Zaun gebrochen werden konnten.

Mag ich auch nicht viel über die neue Generation in Serbien wissen, so beschäftigt mich doch die wichtigere Frage: Wie viel weiß sie über die eigene Vergangenheit? Als ich den Ausführungen des zornigen jungen Serben über die Visafrage lauschte, fand ich, dass er Unrecht hatte. Wie wir ist auch seine Generation verantwortlich: weil sie schweigt, weil sie nicht fragt, was vor ihrer Geburt geschehen ist, weil sie sich nicht darum kümmert, was ihre Väter in den Kriegen taten, weil sie glaubt, ein Recht auf Visa zu haben, nur weil sie jung ist und sich die Hände nicht schmutzig gemacht hat, weil sie anmaßend und selbstgerecht ist. Vor allem aber, weil sie nicht ihre Eltern fragt, warum ihr die Visa vorenthalten werden. Gewiss, diese jungen Serben können nicht für die Vergangenheit verantwortlich gemacht werden. Doch sie sind in ihrer Gesamtheit verantwortlich für ihre gegenwärtige Haltung gegenüber der Vergangenheit, denn sie ist entscheidend für ihre Zukunft. Das war die Lektion, die wir, ihre Elterngeneration, hätten lernen sollen. Da wir es nicht rechtzeitig taten, wurde sie uns auf bittere Weise eingebläut.

Dank Boris’ kluger Worte wurde mir klar, dass ich keine Angst hatte, meine Freunde in Belgrad wiederzusehen. Schließlich waren wir uns während all dieser Jahre auf Konferenzen und Festivals im Ausland begegnet, und wir wussten genau, was jeder von uns während und nach dem Krieg getan, gesagt oder geschrieben hatte. Wir kannten auch unsere Fehler und Missverständnisse. Etwa den Fehler, den ich begangen habe und dessen ich mich noch immer schäme: Ich glaube, es war 1999 oder 2000, nach dem schrecklichen Exodus der Kosovo-Albaner, als mein junger serbischer Kollege Wladimir ArsenijeviŤ einen Artikel mit dem Titel „Wir sind alle Albaner“ schrieb. Ich erinnere mich, dass es einen Satz gab, der mich schrecklich ärgerte. ArsenijeviŤ schrieb, er sei in die Küche gegangen, habe den Kühlschrank geöffnet und ein kühles Bier herausgenommen. Als ich mir diese Szene vergegenwärtigte, wurde mir klar, dass ein „kaltes Bier“ einfach zu viel war.

Er schilderte das Leiden der Kosovaren und ihren Exodus nach Albanien und Mazedonien, lange Kolonnen von Flüchtlingen unter einer erbarmungslosen Sonne, ihre ganze Habe in ein paar Plastiktüten. Und er ging sich ein „kaltes Bier“ holen, um einen Schluck zu trinken, bevor er sein Lamento über ihr Schicksal fortsetzte! Selbst wenn er dieses kühle Bier getrunken hatte, er hätte es nicht in diese Geschichte einflechten dürfen. Er hätte es nicht mit den Flüchtlingen in einem Atemzug erwähnen dürfen, auch nicht im Rahmen seines teilnahmsvollen Artikels. Und nein, wir können unmöglich alle Albaner sein, ganz gewiss nicht, wenn wir ein kaltes Bier trinken, während die anderen versuchen, dem Terror zu entfliehen. Da war ein falscher Zungenschlag in seiner Beschreibung, etwas Scheinheiliges. Und doch war ArsenijeviŤ einer der ganz wenigen serbischen Autoren, die ihre Stimme gegen den Nationalismus und den Krieg im Kosovo erhoben. Eben weil ich wusste, dass er nicht war wie so viele andere, erzürnte mich sein Text mehr als die Geschichte irgendeines nationalistischen Schreiberlings es hätte tun können. Trotzdem, ich hatte Unrecht, ihn dafür öffentlich zu kritisieren. Ich hatte Unrecht, von ihm moralische Vollkommenheit zu verlangen. Einige Jahre später begegnete ich ArsenijeviŤ zum ersten Mal, in Kroatien. Er war ein hochgewachsener, schlanker Mensch mit langem, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haar und freundlichen Augen. Ich stellte mich vor und entschuldigte mich für meine Kritik. Lächelnd nahm er die Entschuldigung an.

Boris und ich wissen beide, was unsere Freunde und Exfreunde während des Krieges getan haben. Wir könnten gewiss für jeden Bekannten angeben – genau wie andere Leute für ihre Verwandten, Freunde und Nachbarn –, was sie in Bosnien oder im Kosovo getan haben. Der Unterschied liegt darin, dass die meisten Menschen nicht zugeben mögen, an diesen Kriegen teilgenommen zu haben. Sie sind ja nicht Kriegsverbrecher und Mörder, es ist also keine Frage der Schuld. Aber sie sollten sich ihrer Verantwortung stellen und sich eingestehen, dass sie ein mörderisches Regime gewählt haben, dass sie glauben, nur sie seien die Opfer von MiloševiŤ und den Supermächten (schließlich wurde doch Belgrad von der amerikanischen Supermacht bombardiert, oder?), dass sie glauben, sie hätten keine andere Möglichkeit gehabt, als sich dem nationalistischen Druck zu beugen. Leider verleugnen die Serben ihre jüngere Vergangenheit. Das eigentliche Problem liegt jedoch darin, dass die Gesellschaft nicht das Bedürfnis zu haben scheint, die Wahrheit herauszufinden.

Wir dürfen nicht schweigen. Wir dürfen unsere Fehler und die unserer Eltern nicht wiederholen. Wir müssen uns der Vergangenheit stellen. Das ist die Aufgabe aller Menschen, die den Krieg erlebt haben. Aber auch die junge Nachkriegsgeneration hat die Pflicht, die Wahrheit herauszufinden. Die Strafe haben sie nicht der EU, sondern ihren eigenen Eltern zu verdanken: Nicht wer sie sind, ist schuld daran, dass sie keine Visa bekommen, sondern das, was ihre Eltern taten oder nicht taten. Die junge Generation im heutigen Serbien ist isoliert, weil sie das einzige, was sie tun müsste, unterlässt: Fragen zu stellen.

Das ist, glaube ich, der Grund, warum ich so lange nicht in Belgrad gewesen bin. Ich könnte ihr Schweigen und Verleugnen nicht ertragen, so wenig, wie ich es in meinem eigenen Land hinnehmen könnte.

Aus dem Englischen von Hainer Kober

SLAVENKA DRAKULIC, geb. 1949, ist Schriftstellerin und Journalistin, u.a. für das New York Times Magazine, die Süddeutsche Zeitung, La Stampa und Dagens Nyheter. 2005 erhielt sie den Leipziger Buchpreis für Europäische  Verständigung. Auf Deutsch erschien von ihr zuletzt „Kahlo“, ein Roman über das Leben von Frida Kahlo (2007).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2008, S. 8 - 14

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