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Ein paar „einfache“ Schritte Richtung Versöhnung auf dem Balkan
Boris Tadic in Vukovar, Ivo Josipovic in Paulin Dvor: Der jüngste Schub an versöhnungspolitischer Aktivität in Ex-Jugoslawien ist bei der internationalen Gemeinschaft und den Menschen in der Region mit Wohlwollen aufgenommen worden. Doch was ist über symbolische Akte hinaus nötig für eine gelingende Versöhnung? Einige Vorschläge.
Als der serbische Präsident Boris Tadic im vergangenen Herbst den kroatischen Staatschef Ivo Josipovic traf, war das Aufsehen groß. Tadic besuchte das Massengrab in Vukovar und bat um Verzeihung für das Massaker, das die Jugoslawische Volksarmee und serbische Paramilitärs im Herbst 1991 angerichtet hatten. Das war das erste Mal, dass ein serbischer Präsident öffentlich sein tiefes Bedauern über dieses Verbrechen äußerte. Gleichsam im Gegenzug fuhr Josipovic, der sich in seinem ersten Amtsjahr als Präsident stärker als jeder seiner Vorgänger für eine Versöhnung engagiert hat, zum Dorf Paulin Dvor, wo kroatische Paramilitärs im Dezember 1991 achtzehn serbische und einen ungarischen Zivilisten getötet hatten.
Das waren beeindruckende Gesten, mit denen die Staatsmänner gewissermaßen symbolisch den Teufelskreis der Gewalt durchbrechen wollten. Auch das bosnische Staatspräsidium schloss sich ein paar Tage später an und rief zur Aussöhnung auf. Bakir Izetbegovic, das neueste Mitglied des Präsidiums, entschuldigte sich „für jeden unschuldigen Menschen, der durch die Armee von Bosnien-Herzegowina getötet worden ist“.
Versöhnungstheater für die Weltgemeinschaft?
So wohlwollend dieser jüngste Schub an versöhnungspolitischer Aktivität bei der internationalen Gemeinschaft und den Menschen in der Region aufgenommen wurde, so kritisch waren die Fragen, die anschließend gestellt wurden: Handelte es sich bei all den gut gemeinten Gesten und Reuebekundungen nicht eher um ein Versöhnungstheater für die Weltgemeinschaft? Wo bleiben die Listen der verschwundenen Kriegsgefangenen? Wann wird der Hauptkriegsverbrecher Ratko Mladic ausgeliefert? Wann werden geraubte Kulturgüter an Kroatien zurückgegeben? Wann können die Flüchtlinge in die Krajina zurückkehren?
Es ist und bleibt schwer, Politikern vom Balkan uneingeschränkt Glauben zu schenken, selbst wenn sie mit den edelsten Absichten zu handeln scheinen. Doch um in Sachen Versöhnung weiterzukommen, muss man ihnen Glauben schenken können. Wir müssen damit beginnen, ihre Worte ernst zu nehmen und davon ausgehen, dass sie tatsächlich darauf abzielen, Wahrnehmungen und Haltungen der Nationen zueinander zu ändern. Tadic und Josipovic haben einen ebenso klaren politischen Willen zur Aussöhnung demonstriert wie vor ihnen der damalige kroatische Präsident Stjepan Mesic, der im Jahre 2003 in Belgrad offiziell sein Bedauern äußerte. Im März 2010 verabschiedete das serbische Parlament die richtungsweisende „Erklärung von Srebrenica“. Zwar wird das Wort Genozid nicht explizit gebraucht, doch wird die Verantwortlichkeit der serbischen Armee für das Blutbad im Juli 1995, bei dem rund 8000 Bosniaken ermordet wurden, klar benannt.
Seit dem Ende des Bosnien-Krieges 1995 ist viel von Aussöhnung die Rede gewesen – insbesondere im Ausland. Und so hat man für eine Menge Geld den Ratschlag internationaler Experten eingeholt, ganz so, als handele es sich bei Aussöhnung um eine Art Technologie und nicht um, so die lexikalische Definition, „Bereinigung, Verständnis, Kompromiss“ zwischen Nachbarn. Nach endlosen Sitzungen kamen die Experten zu dem Schluss, dass es wichtig sei, zusammenzuarbeiten. Aha. Es folgte eine Reihe von Empfehlungen, wie dieses Ziel zu erreichen sei. Ganz so, als ob die Menschen in Kroatien, Serbien, Bosnien und Kosovo das nicht selbst wüssten.
Dass eine gewisse „Zusammenarbeit von unten“ schon stattfindet, dafür genügt ein Blick auf die kriminelle Szene der Region. Stoisch und unbeirrt setzt man die vor dem Krieg betriebenen illegalen Machenschaften fort: vom Schmuggel und Tausch von Treibstoffen, Waffen, Menschen und Tabak bis hin zu Auftragsarbeiten wie Attentaten. Auch die Geschäftsleute kooperieren nach wie vor auf allen Ebenen, sei es in der Öffentlichkeit oder im Verborgenen. Die Slowenen waren die Ersten, die ihre Produkte nach Serbien exportierten: Kapitalismus schlägt Patriotismus 1:0.
Als der Economist-Redakteur Tim Judah 2009 einen Artikel über die „Jugosphäre“ veröffentlichte, löste er vor allem in Kroatien eine Welle des Protests aus. Er schrieb über die ungebrochene Kooperation auf allen Ebenen, die beweist, dass die Folgestaaten des ehemaligen Jugoslawien weiterhin einen einheitlichen Raum bilden, ungeachtet aller nationalistischen Ideologie, die eine solche Zusammenarbeit als „antipatriotisch“ verurteilt. „Die Zeiten sind hart“, so Judah; es sei daher kaum verwunderlich, dass die Menschen den Vorteil einer gemeinsamen Sprache und eines ähnlichen Konsumverhaltens ausnutzten. Allein in den vergangenen Monaten habe man viele neue Initiativen beobachten können: von der Gründung einer gemeinsam von Slowenien, Kroatien und Serbien betriebenen Eisenbahngesellschaft über ein Treffen der Lotteriegesellschaften von Mazedonien, Slowenien, dem Kosovo, Serbien, Bosnien-Herzegowina und Kroatien, in dem eine Fusion anvisiert wurde, bis hin zur Unterzeichnung von Auslieferungsabkommen zwischen Kroatien und Bosnien sowie zwischen Kroatien und Serbien und einem Abkommen zur militärischen Kooperation zwischen Serbien und Kroatien – ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Nun war es weniger der Hinweis auf solche Formen der Zusammenarbeit, weswegen Judahs Artikel kritisiert wurde, als vielmehr das Wort „Jugosphäre“, das man als beleidigend empfand. Doch nicht einmal die schärfsten kroatischen Nationalisten (die, nebenbei bemerkt, auch Slowenien beschuldigen, Kroatiens Beitritt zur EU zu blockieren) konnten einen Unternehmer wie den Kroaten Emil Tedeschi davon abhalten, seine Aktivitäten nach Slowenien, Bosnien, Montenegro, Mazedonien und Serbien auszuweiten. Tedeschi selbst zieht die Bezeichnung „Südosteuropa“ vor, während andere vom „Westbalkan“ sprechen – Hauptsache, das Präfix „Jugo“ wird vermieden. Nichts dokumentiert anschaulicher, wie nationalistische Vorbehalte und Wertvorstellungen die Zeiten überdauern, unabhängig davon, wie die Zusammenarbeit in der Realität funktioniert.
Der Hauptunterschied zwischen den Versöhnungsbemühungen der vergangenen 15 Jahre und den aktuellen Entwicklungen ist, dass sehr lange kein sichtbarer politischer Wille dahinter stand. Der jüngste Anstoß kam durch eine neue Generation von Politikern, die sich einem EU-Beitritt ihrer Länder augenscheinlich weit stärker als ihre Vorgänger verschrieben hat. So hat sich Serbien, lange Zeit als „Schurkenstaat“ gehandelt, dazu durchgerungen, verschiedenen Abkommen beizutreten. Inzwischen ist das Land Mitglied des Regionalen Kooperationsrats (RCC, ehemals Stabilitätspakt für Südosteuropa), Unterzeichner des Mitteleuropäischen Freihandelsabkommens (CEFTA) und der Partnerschaft für den Frieden (PfP), einem 1994 gegründeten Programm zur militärischen Zusammenarbeit zwischen der NATO und mittlerweile 23 europäischen und asiatischen Staaten.
All das soll Serbiens Verhandlungsbasis in Sachen Abschaffung der Visumpflicht für die EU stärken und das Land enger an die Union binden. Obgleich man die Haltung der EU zu einem Beitritt Serbiens nicht gerade als enthusiastisch bezeichnen kann, so weiß man in Brüssel doch, dass die Stabilität in der Region untrennbar mit einer Beitrittsperspektive für alle Länder verknüpft ist, ungeachtet des genauen Zeitpunkts.
Versöhnung und Gerechtigkeit
Wenn Geschäftsleute zusammenarbeiten, wenn kroatische Verleger an Buchmessen in Belgrad teilnehmen, wenn die Fußballmannschaften der Länder gegeneinander antreten, wenn die Menschen ihre Familien auf der anderen Seite der Grenze besuchen können, ohne dass Verrat vermutet wird, braucht man dann überhaupt eine Politik der Aussöhnung? Oder sollte man es, wie von einigen Beobachtern vorschlagen, bei spontanen Bottom-up-Methoden belassen?
Werfen wir doch einmal einen Blick in die kroatische Presse. Da wird ein Tim Judah der „Jugonostalgie“ angeklagt, da wird ein Kroate als „Verräter“ bezeichnet, der seine Fabrik an einen Serben verkauft, da gibt es Widerstand, wenn ein Hotel oder eine Werft mit serbischem Kapital erworben wird. Die Mehrheit der Serben, Kroaten oder Bosnier ist Umfragen zufolge ausgesprochen weit davon entfernt, mit der Idee versöhnt zu sein, dass ihre Nachbarn nicht mehr ihre Feinde sind. Ist da der Gedanke nicht naheliegend, dass Versöhnung mindestens ein paar Generationen länger benötigen würde, wenn wir das Geschäft den Bürgern überließen?
Weder Krieg noch Frieden „passieren“ spontan. Kriege sind das Ergebnis eines politischen Willens, sie werden durch eine Rhetorik der Gewalt vorbereitet, die Feindbilder schafft und Aggression rechtfertigt. Vergleichbares gilt für Frieden und Versöhnungsprozesse. Beide müssen „von oben“ eingeleitet und gesteuert werden, nur dass die Werte, die dabei von oben nach unten propagiert werden, das genaue Gegenteil sind: Toleranz und Zusammenarbeit. Der erste Schritt zur Versöhnung besteht also in einem entschiedenen politischen Willen. Nicht als einmalige Geste der Verzeihung, sondern als ein Akt, an den sich Programme anschließen, die für neue Werte werben und alle Schichten der Gesellschaft erreichen. Wenn man die deutsch-französische Versöhnung, um ein Beispiel zu nennen, in die Hände von Otto Normalverbraucher und Monsieur Tout-le-monde gelegt hätte, würden wir wohl immer noch 100 Jahre auf ein vereinigtes Europa warten.
Die Voraussetzung und unabdingbare Grundlage für Versöhnung ist Gerechtigkeit. Doch Gerechtigkeit kann es nur in Verbindung mit Wahrheit geben. Ohne ein Rechtssystem, in dem den Kriegsverbrechern der Prozess gemacht wird – und in dem die Fakten über die Verbrechen vorangegangener Kriege offengelegt werden – ist jede Versöhnung zum Scheitern verurteilt.
In Kroatien etwa besteht das Haupthindernis für Versöhnung in dem über zwei Jahrzehnte gehegten und gepflegten Irrglauben, die kroatische Armee könne per Definition gar nicht für Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht werden, da sie im Auftrag der nationalen Verteidigung gehandelt habe: mit der Folge, dass man Kriegsverbrecher als Kriegshelden betrachtet. Und so wird auch der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag als eine feindlich gesinnte Institution wahrgenommen, nicht als Instrument zur Wahrheitsfindung.
Herrschte in Serbien bis zur Erklärung von Srebrenica in Politik und Gesellschaft eine Kultur der Leugnung vor, so wird der Versöhnungsprozess in Bosnien und Herzegowina durch den Sonderstatus eines geteilten Landes erschwert. Und das nicht nur auf administrativer, sondern auch auf psychologischer und emotionaler Ebene. Täter und Opfer leben im selben Land, der selben Stadt oder sogar dem selben Dorf und der selben Straße.
Wenn wir neue Werte vermitteln, dann heißt das, dass wir auch einen neuen psychologischen Rahmen schaffen. Die Bürger zu grenzüberschreitender Zusammenarbeit zu ermutigen wird nicht mehr nötig sein – die findet ja bereits statt. Wichtiger ist es, den Menschen zu vermitteln, dass die Zusammenarbeit, der Handel, die gegenseitigen Besuche und der Versuch, sich von Feindbildern zu verabschieden – dass all das nicht nur „politically correct“, sondern auch politisch erwünscht ist. Es sollte einem kroatischen Autor möglich sein, in Serbien ein Buch zu veröffentlichen und einem kroatischen Musiker, in Serbien ein Konzert zu geben, ohne dass er einen medialen Spießroutenlauf zu erwarten hat, wie es noch bis vor kurzem die Regel war.
Doch wie kann eine Regierung eine solche Botschaft übermitteln? Nun, zum Beispiel indirekt, indem sie gemeinsame Projekte unterstützt, angefangen bei Abkommen wie dem Regionalen Kooperationsrat oder der Partnerschaft für den Frieden, bis hin zu kleineren Initiativen wie Gesangswettbewerben oder dem viel beschworenen Schüleraustausch. Dass die Massenmedien dabei eine wichtige Rolle spielen, ist keine große Überraschung. Von dort aus werden Wertvorstellungen ins alltägliche Leben transportiert, nicht umgekehrt. Begänne die Regierung damit, systematisch antinationalistische Werte zu vermitteln, so dürften die öffentlichen Fernsehanstalten bald folgen. Vielleicht nicht zwangsläufig – aber es ist zumindest nicht unwahrscheinlich, dass die Sender akzeptieren würden, dass nicht Nationalismus und Hass, sondern Versöhnung das Thema der Stunde ist. Das Privatfernsehen, ohnehin weniger anfällig für nationalistische Propaganda und stets mit dem Blick auf die Einschaltquoten, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit auf diesen Zug aufspringen.
Zu viel Erinnerung, zu wenig Geschichte
Positive Signale an seine Nachbarn auszusenden ist viel wert, aber doch nur eine kurzfristig wirksame Strategie. Eine neue Regierung, ein neuer politischer Wind kann die öffentliche Meinung schnell wieder in Richtung Nationalismus umschlagen lassen – was in den neunziger Jahren bekanntlich auch geschah. Um wirklich neue Werte zu etablieren, brauchen wir einen langfristig angelegten Ansatz und an allererster Stelle die Ausbildung eines Geschichtsverständnisses. Wenn dieser Prozess damit beginnt, dass Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt werden, so muss er damit fortgeführt werden, dass die Geschichte erforscht und durch Bücher und Schulbücher den Weg in die Öffentlichkeit findet. Die Ausbildung eines Geschichtsverständnisses muss auf Fakten, nicht auf Mythen und Ideologie basieren.
Schaut man sich die Geschichtsbücher heute an, so stößt man auf mitunter sehr widersprüchliche Informationen. Kroatien etwa hadert 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer mit der Tatsache, dass das Land in seiner bis dato einzigen Phase der Unabhängigkeit ein faschistischer Marionettenstaat war, der Unabhängige Staat Kroatien (NDH). Der erste Präsident der neu gegründeten Republik, Franjo Tudjman, wurde nicht müde zu verkünden, dass das neue Kroatien auf dem Fundament des alten aufbaue. In der kroatischen Verfassung jedoch liest man das genaue Gegenteil: Der neue Staat basiert auf Antifaschismus – ein Indiz für die anhaltende Spaltung des Landes in Sachen Vergangenheitsbewältigung.
In allen postjugoslawischen Gesellschaften sind die Menschen daran gewöhnt, mit derlei Widersprüchen zu leben. Während des Kommunismus kontrastierte ihre Erinnerung für gewöhnlich mit der offiziellen Geschichtsschreibung. In einem Land, in dem kommunistische Ideologie, Folklore und Mythen vorherrschten, aber belastbare historische Fakten fehlten, fiel die Verbreitung von Propaganda nicht schwer. Ein Beispiel: Nach 1945 wurde die Anzahl der im Konzentrationslager Jasenovac während der NDH-Zeit getöteten Zivilisten auf rund 700 000 taxiert, wohingegen sich vier Jahrzehnte später die wesentlich realistischere Zahl 60 000 durchsetzte. Ebenso umstritten ist die genaue Zahl der zehntausenden kurz nach Kriegsende in Bleiburg ermordeten NDH-Soldaten und Zivilisten. Es war schlicht unvorstellbar, dass Titos ruhmreiche Armee Kriegsverbrechen begangen haben sollte. Generationen von Jugoslawen wuchsen mit dem Widerspruch auf, die „Wahrheiten“ in den Schulbüchern nicht anzweifeln zu dürfen, während sie zuhause einer ganz anderen Version der Geschichte ausgesetzt waren. Es war einfacher, nicht gegen das Dogma anzukämpfen.
Bisher hat es zu wenig Geschichte und zu viel Erinnerung gegeben – das ist einer der Gründe dafür, dass man in den neunziger Jahren so schnell zu den Waffen griff. In jedem Fall sind Geschichts- und Schulbücher sowohl Teil der Lösung als auch Teil des Problems. Die Historiker sollten ein für alle Mal damit aufhören, sich zu Sklaven der herrschenden Ideologie zu machen und stattdessen damit anfangen, Fakten vorzulegen.
Aber Bildung ist ein langfristiger Prozess. Bildung, die Versöhnung schaffen will, muss mehr sein als bloße Korrektur der Schulbücher. Um zur Versöhnung zu gelangen, braucht jede Gesellschaft einen Konsens. Um die Wahrheit zu verbreiten, bedarf es eines öffentlichen Forums. Eine verantwortungsvolle Gesellschaft, die Versöhnung will, muss das können. Deutschland etwa war seinerzeit dazu in der Lage. Die Kultur kann einer solchen Debatte als Forum dienen.
Doch wie können Kunst und Kultur der Versöhnung dienen, wenn die Mehrheitskultur und ihre Institutionen – etwa die serbischen und kroatischen Akademien der Wissenschaften – Nationalismus propagieren? Ähnlich wie die Massenmedien dient die Kultur vor und während eines Krieges als Vehikel der nationalistischen Propaganda. Es wäre falsch, von der versöhnenden Rolle der Kultur so zu sprechen, als sei sie ganz unabhängig vom politischen Willen.
Unsere Erwartungen an die Möglichkeiten der Kultur sind in der Regel zu hoch. Die Kultur soll uns befähigen, eine bessere, eine friedlichere, eine gerechtere Gesellschaft zu werden. Dieser Vorstellung von den Möglichkeiten der Kultur im Versöhnungsprozess liegt die Annahme zu Grunde, dass Künstler und Intellektuelle, dass gebildete Menschen im Allgemeinen eine höhere moralische Instanz verkörpern: Gerade weil sie gebildet sind, sollten sie es besser wissen als der Rest. Doch dem ist nicht so.
Wieder und wieder hat die Geschichte bewiesen, dass Kultur hervorragend dafür geeignet ist, Propaganda in totalitären Regimen zu fördern. Warum? Weil die Moral von Künstlern und Kulturbürokraten in keiner Weise von der anderer Menschen abweicht. Überdies bestand in Jugoslawien (sowie auch anderswo) eine Tradition kultureller Servilität für das Regime – es gab praktisch keine andere nennenswerte Form der Kultur. Das wiederum ist durch eine Art Überlebensstrategie zu erklären: Aus Gründen des Selbstschutzes waren Künstler und Intellektuelle gleichsam gezwungen, Staatsbedienstete zu werden. Daher nimmt es kaum Wunder, dass es gerade jene Gruppen waren, die in den Achtzigern den Nationalismus propagierten. Schriftsteller, Akademiker, Journalisten, Mitglieder von Kulturinstitutionen: Alles gebildete Menschen, die zu Zahnrädchen in der nationalistischen Propagandamaschine wurden. Ihre Aufgabe bestand darin, „Fremde“ in der Gesellschaft auszumachen, die Leute auf den bewaffneten Konflikt, den Krieg einzuschwören. Sie machten ihre Aufgabe gut.
Ein geradezu emblematisches Bild aus dem Jahre 1993: Radovan Karadžic – Poet, Psychiater und Präsident der Republika Srpska – steht auf den Hügeln oberhalb von Sarajewo; bei ihm der russische Dichter Edward Limonow, der mit einem Maschinengewehr in Richtung Stadt schießt.
Wer über die Rolle der Kultur im Versöhnungsprozess spricht, darf von ihrer Fähigkeit, Ideologie und Propaganda zu produzieren, Menschen zu manipulieren und Massenmord vorzubereiten und zu rechtfertigen, nicht schweigen. Das Gegenteil trifft jedoch wahrscheinlich ebenso zu – wenn Kultur sich in eine Propagandamaschine verwandeln kann, dann kann sie auch, zumindest in einer Demokratie, die die freie Verbreitung von Ideen ermöglicht, stets ein Schlüssel zur Versöhnung sein. Doch das kann nur funktionieren, wenn staatlich unterstützte Projekte frei von politischem Missbrauch sind. Verglichen mit anderen Staatsaufgaben, etwa der Rüstung, kann Kultur bei verhältnismäßig geringen Kosten viel erreichen. Für gewöhnlich kommt ihr nur ein Bruchteil des staatlichen Budgets zu. Es wäre vielleicht gut, ein wenig mehr in sie zu investieren.
Gescheiterter Ansatz
Natürlich, Versöhnung fand und findet bereits statt, im kleineren wie im größeren Rahmen. Fast zwei Jahrzehnte sind seit Beginn der Kriegshandlungen vergangen. Eine neue Generation ist seither erwachsen geworden. Wenn es jedoch diese Generation ist, anhand derer wir Fortschritte in der Versöhnung festmachen wollen, dann ist der Befund wenig erfreulich. In einer aktuellen Meinungsumfrage unter kroatischen Schülern im Alter von 17 und 18 Jahren gaben nur 27 Prozent an, dass sie die NDH für einen faschistischen Staat halten. Mehr als 40 Prozent waren der Meinung, dass die Kroaten im Land mehr Rechte als Angehörige nationaler Minderheiten haben sollten. Wiederum 40 Prozent sprachen sich gegen eine Verfolgung kroatischer Kriegsverbrecher aus und jeder zweite (49 Prozent) gegen einen EU-Beitritt Kroatiens. Auch wenn die Umfrage nicht repräsentativ für die gesamte kroatische Jugend sein mag, so bestätigt sie doch den weiterhin dominierenden Einfluss nationalistischer Werte. Ein Miniaturporträt der neuen Generation, das zunächst wenig Anlass zur Hoffnung für eine Regierung böte, die den nötigen politischen Willen mitbrächte. Aber es sollte uns doch zu raschem und entschlossenem Handeln motivieren, wollten wir noch in diesem Jahrhundert Versöhnung erreichen.
Schließlich kommt man nicht umhin, auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien ein Paradoxon zu beobachten. Zuerst kam die Unabhängigkeit, dann der Zerfall Jugoslawiens in einer ganzen Reihe blutiger Kriege. Zehntausende Opfer waren zu beklagen: eine zurückhaltende Schätzung geht allein für Bosnien von über 100 000 Toten aus. Hunderttausende wurden vertrieben oder umgesiedelt, ganz zu schweigen von jenen, die verkrüppelt oder zu Waisen wurden. Zwischen 30 000 und 50 000 Frauen, die meisten von ihnen Bosniakinnen, wurden vergewaltigt. Heute, gerade einmal eine Dekade nach dieser Tragödie, wollen all diese neu geschaffenen Staaten der EU beitreten und im Verbund mit Nachbarn leben, die sie, historisch betrachtet, erst gestern noch umbrachten.
Warum für Unabhängigkeit kämpfen? Wozu Krieg? War es ein Bürgerkrieg? Gab es einen einzelnen Schuldigen? Wie viele Opfer hatte man auf allen Seiten zu beklagen? Fragen wie diese sind schwierig zu beantworten, Akzeptanz dafür in der Gesellschaft zu finden ist noch schwieriger. Doch es sind diese Fragen, mit denen sich Versöhnungsprogramme auf allen Ebenen auseinandersetzen müssen, und dafür bedarf es des nötigen politischen Willens.
Noch einmal: Versöhnung zu erreichen ist nicht einfach und braucht vor allem Zeit. Doch die Dinge könnten schneller gehen und weniger kompliziert sein, wenn ein echter politischer Wille bestünde, der, angefangen bei den Regierungen, zu einem „von oben“ gesteuerten Versöhnungsprozess führt. Zumindest würde man sich gerne vorstellen, dass sich ein solcher Ansatz lohnen könnte, nachdem das Laisser-faire der vergangenen 15 Jahre gescheitert ist. Immerhin, die neueste Meldung lautet, dass der serbische Präsident Boris Tadic Kroatien zum zweiten Mal binnen eines Monats besucht hat – im Gefolge diesmal mehr als 70 serbische Geschäftsleute.
SLAVENKA DRAKULIC ist Schriftstellerin und Journalistin, u.a. für das New York Times Magazine, die Süddeutsche Zeitung und La Stampa.