Vom Stamm zum Staat
Wie man Afghanistan stabilisieren könnte
In der Debatte über Nation Building wird eine entscheidende Frage oft vergessen: Möchte man einen Staatenbau „von oben“ und quasi mit dem Dachstuhl beginnen? Oder will man sich von unten nach oben vorarbeiten? Nicht nur das Beispiel Afghanistan zeigt: Es kann sinnvoll sein, nicht mit dem Aufbau eines Zentrums zu beginnen, sondern mit der Peripherie.
Gesellschaften, auch moderne „Massengesellschaften“, setzen sich nicht nur aus Millionen von Individuen zusammen, sondern gleichen eher einer Gemeinschaft von Gemeinschaften. Als soziale Wesen werden Menschen durch solche Gemeinschaften geprägt, die sich nicht nur geografisch definieren, sondern auf vielschichtigen ethnischen oder religiösen Identitäten beruhen. Auch westliche Staaten mussten erst einen Prozess des Nation Building durchlaufen. Vor dem Unabhängigkeitskrieg etwa galt die Loyalität der meisten „Amerikaner“ ihrer Kolonie, Region oder Stadt. Und erst in der Phase des Wiederaufbaus nach dem Bürgerkrieg sprach der Oberste Gerichtshof nicht mehr im Plural von den USA („the United States are“), sondern begann, im Singular auf die Nation als Einheit zu verweisen („the United States is“). Auch Großbritannien, Deutschland, Italien oder die Schweiz mussten erst mühevoll zusammenwachsen. Auf diese historischen Prozesse sei nur verwiesen, weil wir sie im Zusammenhang mit Staaten, deren Nation Building noch nicht abgeschlossen ist, oft vergessen. Dabei spielt es gar keine Rolle, ob solche Nationen nun eine eigene Flagge, eine eigene Hauptstadt oder einen Sitz in den Vereinten Nationen vorweisen können. Dies gilt vor allem für Pakistan, den Irak und Afghanistan.
Welchen Nation-Building-Ansatz man wählt, hängt entscheidend davon ab, ob wir die Existenz einer Zentralregierung voraussetzen können, es also in erster Linie darum geht, Polizei- und Streitkräfte auszubilden und eine funktionierende Verwaltung und Justiz aufzubauen. Können wir nicht von solchen Voraussetzungen ausgehen, dann wäre es Erfolg versprechender, nicht mit dem Aufbau eines Zentrums zu beginnen, sondern mit der Peripherie. Afghanistan ist zweifellos eine „Stammesgesellschaft“, wobei ich unter dem Begriff „Stamm“ recht weit gefasst ethnische oder religiöse Gemeinschaften verstehen möchte, zwischen deren Mitgliedern starke Bindungen bestehen und die sich in einem Gegensatz zu anderen Gruppierungen definieren. Es gibt also Gesellschaften, in denen Nation Building nicht im politischen Zentrum ansetzen kann.
Wir bauen uns einen Staat
Howard Hart, ehemaliger Büroleiter der CIA in Islamabad, will unter „afghanisch“ sogar nur eine rein geografische Bezeichnung verstehen, denn von einer gemeinsamen nationalen Identität könne man nicht einmal annähernd sprechen. Die Loyalität zum eigenen Clan, so Hart, sei in der Region von höchster Bedeutung, und nichts würden Stammesführer mehr verachten als eine Zentralregierung, die überdies von ausländischen Mächten unterstützt wird. Ich würde den Stammesführern durchaus ein gewisses Nationalbewusstsein unterstellen. Entscheidend aber ist: Müssen sie sich zwischen einer Loyalität zum Clan oder der zu einer nationalen Regierung oder zum Staat entscheiden, genießt die Loyalität zum Clan immer Vorrang.
Im Zusammenhang mit dem Nation Building in Afghanistan und ähnlich fragilen Staaten sprechen Politikwissenschaftler gerne von „Design“: Wir glauben, aus vorhandenem Rohmaterial einen modernen Staat wie am Reißbrett formen zu können, inklusive einer durchsetzungsfähigen Polizei, eines schlagkräftigen Militärs, einer effizienten Korruptionsbekämpfung, einer integren Beamtenschaft, eines vertrauenswürdigen Rechtssystems, demokratischer Institutionen und einer funktionierenden Marktwirtschaft.
Selbstverständlich würde die Loyalität der Bürger eines solchen Staates dann der Nation und nicht dem Stamm gelten. Diesen Ansatz vertrat George W. Bush im Irak. In seiner Neubewertung der Afghanistan-Strategie vom März 2009 formulierte US-Präsident Barack Obama allerdings deutlich bescheidenere Ziele. Es gelte vor allem, den Einfluss Al-Kaidas in Afghanistan und Pakistan dauerhaft zurückzudrängen. Anhänger des Nation-Building-Ansatzes sahen in Obamas Strategie allerdings sofort die Notwendigkeit, zunächst einmal die „Köpfe und Herzen der afghanischen Bevölkerung zu gewinnen“. Das wiederum setzt ein gewisses Maß an Sicherheit für die Afghanen voraus sowie eine spürbare Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und die Existenz einer funktionsfähigen Regierung. Auch General Stanley McChrystal glaubt, dass „wir eine verlässliche Kommunalverwaltung fördern, das Rechtssystem reformieren, Korruption und Drogenschmuggel bekämpfen und den Wiederaufbau vorantreiben sollten“.
Anstatt jedoch ein Design zu entwerfen, das wir wie eine Bauanleitung benutzen, sollten wir lieber die Realitäten vor Ort genau studieren und verstehen, in welche Richtung sie sich entwickeln könnten – und zwar, bevor wir uns engagieren. Unsere Mittel und Möglichkeiten sind begrenzter als wir glauben; deshalb sollten wir uns nicht darin aufreiben, neue Strukturen zu schaffen, sondern vielmehr genau verstehen, welche Strukturen vorhanden sind und wie wir bestimmte Entwicklungen, die bereits absehbar sind, beeinflussen und steuern könnten.
Man wird nicht mit abschließender Sicherheit sagen können, ob die Truppenaufstockungen oder die Abkommen der Amerikaner mit irakischen Stammesführern 2007 zu einer entscheidenden Wende im Irak-Krieg führten. Vieles deutet aber darauf hin, dass den mit einer Gruppe sunnitischer Scheichs getroffenen Abkommen erhebliche Bedeutung zukommt. Hatten sunnitische Stammesführer vor diesem Abkommen die Aufständischen unterstützt, schlugen sie sich danach auf die Seite der von den USA gestützten irakischen Regierung und trugen wesentlich zur Verbesserung der Sicherheitslage bei. Auch in anderen irakischen Provinzen brachte die Kooperation mit lokalen Clans und Stammesführern oft die entscheidende Wende. Im Juni 2007 etwa schlossen sich die amerikanischen und irakischen Truppen mit zehn sunnitischen Clans rund um Bagdad zum Kampf gegen Al-Kaida zusammen. Bereits im Oktober 2007 berichtete das US-Militär, dass die Anzahl der Angriffe von Aufständischen stetig abnehme.
In Pakistan, das sich deutlich stärker als Afghanistan und der Irak als Nation begreift, spielen Stammesgemeinschaften und Clans ebenfalls eine bedeutende politische Rolle. In Waziristan verwalten sich sieben Stämme selbst, verfügen über beachtliche bewaffnete Milizen und erkennen die pakistanische Regierung nicht an. Zudem gibt es Spannungen zwischen der von Pandschabi dominierten Regierung in Islamabad und den Paschtunen-Clans, die das Grenzgebiet im gebirgigen Osten Pakistans kontrollieren und von denen einige eine wenigstens teilautonome Paschtunen-Provinz fordern. Was der Westen als Auseinandersetzung zwischen Zentralregierung und pakistanischen Rebellen auffasst, ist in Wirklichkeit ein Machtkampf zwischen Pandschabi und Paschtunen. Eine amerikanische AfPak-Strategie sollte sich mit der Frage befassen, ob diese Spannungen zwischen den verschiedenen Clans und Ethnien durch eine größere Autonomie für Paschtunen entschärft werden könnten, anstatt auf die Entwicklung einer tragfähigen Loyalität zum pakistanischen Nationalstaat abzuzielen.
In Afghanistan schließlich war es die „Northern Alliance“, die von den USA unterstützte Koalition vor allem tadschikischer, usbekischer und hazarischer Kämpfer, die den Krieg entschied. Bei den Luft- und Bodenangriffen, mit denen die alliierten Streitkräfte die Taliban aus den Städten vertrieben, wurden „nur“ zwölf US-Soldaten getötet.
Stammesführer stärken
Aus diesen Beispielen ergeben sich entscheidende Konsequenzen für die Ausbildung nationaler Polizei- und Armeekräfte. Denn obwohl beispielsweise der Großteil der amerikanischen Polizeikräfte nicht den Bundesbehörden untersteht, gehen wir mit größter Selbstverständlichkeit davon aus, dass die Sicherheitskräfte anderer Staaten national kontrolliert werden sollten. Sofort nach dem Sturz des Saddam-Regimes in Bagdad versuchten die US-Streitkräfte, eine nationale irakische Armee zu schaffen. Sunnitische, schiitische und kurdische Milizen wurden vor die Wahl gestellt, entweder ihre Waffen abzugeben oder sich in die nationale Armee eingliedern zu lassen. Damit nicht genug: Schiitische Soldaten wurden in sunnitisch dominierten Gebieten stationiert und umgekehrt, um die Rivalitäten zwischen den Religionsgemeinschaften zu beenden und Schiiten und Sunniten dazu zu bewegen, sich in erster Linie als „Iraker“ zu betrachten. Das führte nur zu noch größeren Spannungen.
In Afghanistan zeichnet sich eine ganz ähnliche Entwicklung ab. Nach dem Sturz der Taliban startete man sofort ein Programm zur Entwaffnung und Eingliederung der Stammesmilizen in eine neue nationale Armee. Bis 2005 wurden tatsächlich etwa 63 000 Milizionäre entwaffnet, demobilisiert oder reintegriert. Schätzungen zufolge gibt es aber in verschiedenen Stammesmilizen immer noch zwischen 65 000 und 180 000 „inoffizielle“ bewaffnete Kämpfer. Schlüsselposten in den Sicherheitsdiensten und in der Verwaltung wurden, so Selig Harrison, Leiter des Asien-Programms beim Center for International Policy in Washington, vor allem mit Angehörigen der tadschikischen Minderheit besetzt, die dann häufig in Gebiete der Paschtunen geschickt wurden. Dort sind die Sympathien für die Taliban traditionell und aufgrund der geografischen Nähe zu Pakistan besonders ausgeprägt. Mit Hamid Karzai haben die USA zwar einen Paschtunen zum „offiziellen Gesicht Afghanistans“ gemacht, von vielen Paschtunen aber wird er als Handlanger der Besatzer verachtet.
Nicht nur das Loyalitätsdilemma erschwert einen Aufbau von oben und den Versuch, eine Armee nach westlichen Standards aufzubauen. Als äußerst problematisch erweist sich auch die weit verbreitete Korruption. Afghanen beklagen sich häufig über Polizeikräfte, die sich offen mit Geld oder Waren bestechen lassen und sogar vor Erpressung nicht zurückschrecken, aber gewiss nicht ihre Aufgabe als Gesetzeshüter erfüllen. Dies mag zum Teil einer Kultur geschuldet sein, in der Korruption nicht einmal als Kavaliersdelikt gilt, aber auch der Tatsache, dass die meisten afghanischen Polizisten oder Soldaten in ethnisch fremden Provinzen eingesetzt werden. Sie bereichern sich ohne große Hemmungen, weil sie ja ohnehin nach einem gewissen Zeitraum in ein anderes Gebiet verlegt werden.
Anders als die Angehörigen der nationalen Armee leben die Kämpfer der jeweiligen Milizen in unmittelbarer Nähe zu den Angehörigen ihres Stammes. Selbstverständlich sind auch sie nicht vor Korruption gefeit, die Verankerung im eigenen kulturellen Umfeld verpflichtet aber zu größerer Selbstdisziplin. Kämpfer der jeweiligen Clanmilizen kämpfen bereitwillig für ihre Stammesgenossen, was sich von den Angehörigen der nationalen Armee nicht behaupten lässt, die oft einen bemerkenswerten Mangel an Loyalität gegenüber ihrem Dienstherrn aufweisen. So sollen afghanische Polizisten Waffen, die ihnen von westlichen Ausbildern zur Verfügung gestellt wurden, an die Taliban verkauft haben. Andere informieren die Taliban über bevorstehende Operationen des US-Militärs und geben dessen Gegnern damit ausreichend Zeit, die Einheiten in einen Hinterhalt zu locken; die Liste von Aktivitäten, die man eindeutig als Verrat an der afghanischen Zentralregierung oder den alliierten Streitkräften bezeichnen kann, ließe sich beliebig verlängern.
Nicht zuletzt sind auch die kulturellen Unterschiede enorm. Die Vorstellungen westlicher Ausbilder und ihrer afghanischen Auszubildenden über Rechtsstandards oder die Behandlung von Frauen, Minderjährigen und Tatverdächtigen klaffen weit auseinander. Das dürfte erklären, warum zwar einige Fortschritte bei der Ausbildung von Polizisten erzielt wurden, aber das Niveau der Ausbildung weit hinter den Erwartungen zurückblieb. Daraus folgt: Anstatt die lokalen Autoritäten zu entmachten, sollten die USA und ihre Alliierten in Afghanistan mit ihnen zusammenarbeiten und ihnen die Mittel zukommen lassen, die derzeit noch in den Aufbau der afghanischen Armee und Polizei fließen. Denn die Stammesführer sind durchaus in der Lage, in ihren Gebieten für Sicherheit zu sorgen.
Kritiker wenden hier ein, dass die meisten Afghanen eine – wenn auch schwache – zentrale Regierung wünschen oder zumindest keine völlige Dezentralisierung. Zudem sehe die 2004 verabschiedete Verfassung keinen föderalen Staat vor. Aus rechts- oder politikwissenschaftlicher Perspektive sind das berechtigte Einwände. Als Soziologe muss man jedoch feststellen, dass die Afghanen de facto bereits in einer föderalen Gesellschaft – wenn nicht sogar in einer Konföderation – leben, in der sich die Stammesgemeinschaften mit einem hohen Maß an regionaler, kultureller, sozialer und politischer Selbstbestimmung verwalten. Sie lehnen die Regierung in Kabul nicht zuletzt wegen deren Verstrickung in den Drogenhandel und aufgrund der massiven Wahlfälschungen bei den Präsidentschaftswahlen von 2009 ab. Langfristig ist es natürlich denkbar, Stammesmilizen in die offizielle Armee einzugliedern und allmählich westliche Standards einzuführen. Kurzfristig jedoch scheint die Kooperation mit ihnen Erfolg versprechender.
Absurde Kompromisse
Ein politisches System ist dann stabil und anpassungsfähig, wenn es über Institutionen oder Organe verfügt, die eine gewaltfreie Schlichtung von Konflikten ermöglichen. Wir gehen automatisch davon aus, dass diese Institutionen demokratisch funktionieren und demokratisch legitimiert sein sollten. Sowohl im Irak als auch in Afghanistan haben die USA und ihre Verbündeten beträchtliche Mühen und Ressourcen investiert, um freie und faire Wahlen zu ermöglichen, die auch Konflikte innerhalb oder zwischen verschiedenen Stämmen durch ein „übergeordnetes“ politisches System entschärfen sollten.
Da diese Institutionen aber von den USA „designt“ wurden, spiegeln sie kaum die Vorstellungen der irakischen oder afghanischen Bevölkerung wider. Noch während die irakische Verfassung ausgearbeitet wurde, drohte der damalige Chef der Zivilverwaltung im Irak Paul Bremer, dass er sein Veto gegen jeden Entwurf einlegen würde, dessen einzige Rechtsgrundlage die Scharia wäre, während die beiden wichtigsten Schiitenparteien deren Einführung forderten. Solch gänzlich unterschiedliche Vorstellungen führten zu absurden Kompromissen sowohl in der Übergangsverfassung als auch im endgültigen Dokument. Artikel II etwa besagt, dass kein Gesetz verabschiedet werden darf, das den Gesetzen des Islam, aber auch keines, das den verfassungsmäßig garantierten Freiheits- und Grundrechten widerspricht. Auch bestanden die USA auf einer Stärkung der Regierung und lehnten eine größere Autonomie der Regionen ab, obwohl die meisten Iraker föderalistische Modelle bevorzugen. In Afghanistan drängten die Amerikaner auf eine Verabschiedung der Verfassung noch vor den nationalen Parlamentswahlen, und sie unterstützten ihren Wunschkandidaten Hamid Karzai bei den Präsidentschaftswahlen. Eine größere Legitimität der politischen Institutionen Afghanistans konnten sie damit gewiss nicht erzeugen.
In den meisten Ländern gibt es kulturell tief verwurzelte Institutionen und Wege, mit deren Hilfe etwa Stammesälteste oder -räte gewählt und Konflikte gelöst werden. Oft genießen auch religiöse Autoritäten enormen politischen Einfluss. Man vertraut diesen „natürlichen Führern“ aufgrund ihres Charismas, ihrer Herkunft oder ihrer Reputation, auch wenn sie gewiss keine Legitimation nach westlichen Vorstellungen genießen.
Ein treffliches Beispiel für die Bedeutung dieser „natürlichen Führungspersönlichkeiten“ ist der Tadschike Ismail Khan. Nach der Vertreibung der Taliban wurde er wieder als Gouverneur der Provinz Herat eingesetzt, in der er sehr effektiv für Sicherheit sorgte. Allerdings unterstützte er offen den Iran und weigerte sich, die in seiner Provinz erhobenen Steuern an die Zentralregierung weiterzuleiten. Die USA, die an einer Stärkung Karzais interessiert waren, drängten deshalb darauf, Khan seines Postens zu entheben – mit fatalen Folgen. Die Bevölkerung rebellierte, die Kriminalitätsrate stieg seither und die Taliban konnten in der Provinz wieder Fuß fassen.
Ähnliches passierte in der Provinz Nangahar, wo man Gul Agha Schirzai wegen seines autoritären Führungsstils vom Posten des Gouverneurs entfernte. Jetzt ist man wieder auf seine Kooperation angewiesen, um die Provinz zu stabilisieren. Seth Jones von der Rand Corporation glaubt, dass eine Strategie zum Scheitern verurteilt ist, die auf die Errichtung einer starken Zentralregierung abzielt und eine Kontrolle des Territoriums durch ausländisches Militär vorsieht. Die wirkungsvollste Methode bestünde darin, so Jones, Clanchefs und die religiösen Führer einzubeziehen. Sie wüssten am besten, „was die Leute brauchen“.
Auch Clare Lockhart, ehemalige UN-Beraterin in Afghanistan, vertritt die Auffassung, dass eine „verschlankte Zentralregierung“, die sich mit den lokalen und traditionell verwurzelten Institutionen, Netzwerken und sozialen Organisationen verbinden ließe, besser funktionieren würde. Lehrer, die Gemeinschaft der Rechtsgelehrten (Ulema) und das islamische Bankensystem (Hawala) sind Teile dieser traditionellen Strukturen, die für bestimmte Aufgaben mobilisiert und eingebunden werden können.
Eine Studie der Asia Foundation von 2008 stellte fest, dass regional verankerte Institutionen – gleich ob sie traditionell verwurzelt sind wie Schura und Jirga oder ob es sich um neue handelt wie die Community Development Councils und die Provinzräte – von rund zwei Dritteln der afghanischen Bevölkerung gebilligt und unterstützt werden. 70 Prozent der Befragten wünschten sich eine aktive Rolle ihrer geistlichen Führer in der kommunalen oder regionalen Politik.
Dass es den USA nicht gelungen ist, gemäßigte Taliban vom „Widerstandskampf“ abzubringen, liegt zum größten Teil an der Weigerung der Amerikaner, lokale afghanische Kräfte einzubeziehen. Laut Fotini Christia, Politikwissenschaftlerin am Massachusetts Institute of Technology, und Michael Semple, dem ehemaligen EU-Sondergesandten in Afghanistan, „operieren die Aufständischen vor allem in ihren Heimatprovinzen, wo ihre Beziehung zur einheimischen Bevölkerung durch ihren Status im Clan und durch ihren politischen Hintergrund bestimmt wird“. Es waren die Scheichs, die beim „Sunni Awakening“ im Irak die entscheidende Rolle spielten, nicht die gewählten Vertreter in Bagdad. Auch in der Provinz Anbar wandten sich die US-Kräfte schließlich mit der Bitte um Kooperation an die lokalen Scheichs, die sich dann entschlossen, zusammen mit der US-Armee gegen Al-Kaida vorzugehen.
Zusammenarbeit verspricht nicht nur mehr Sicherheit, sondern auch mehr Effizienz beim Einsatz von Entwicklungsgeldern. Bisher wurden Entwicklungsprojekte aus Unkenntnis der kulturellen Gegebenheiten vor Ort ebenso schlecht geplant wie ausgeführt. Richard Holbrooke, US-Sonderbeauftragter für Afghanistan und Pakistan, nannte das Projekt zur Zerstörung der Mohnanbauflächen und das damit verbundene alternative Beschäftigungsprogramm der Hilfsorganisation USAID „das ineffektivste, verschwenderischste Projekt“, das ihm je untergekommen sei. In dieses Bild passt auch ein Ende 2005 von USAID finanziertes Projekt. Gewissermaßen als „Arbeitsbeschaffungsmaßnahme“ sollten Pflasterstraßen gelegt werden, deren Bau wesentlich mehr (billige) Arbeitskräfte erfordert als Asphaltstraßen. Als die Straßen fertig waren, erfuhr der Vertragspartner von USAID, dass die Stammesältesten eine asphaltierte Straße bevorzugt hätten. Kamele nämlich können nicht auf Pflastersteinen laufen.
Mit den Religiösen reden
Gerade auch die geistlichen Führer sind wichtige Verbündete; die USA sollten ihre Abneigung gegen die Kooperation mit religiösen Autoritäten ablegen und sie einbeziehen – vorausgesetzt natürlich, dass diese auf den Einsatz von Gewalt verzichten. Bestes Beispiel ist Großayatollah Sajed Ali al-Sistani, der wichtigste schiitische Geistliche im Irak. Er verfügt über erheblichen Einfluss unter den irakischen Schiiten, der mit 60 Prozent größten Bevölkerungsgruppe. Zunächst versuchten die USA, ihn zu umgehen und politisch zu marginalisieren, weil er ja schließlich kein gewählter Repräsentant der Iraker sei und seine Rolle mit einer Demokratie nach westlichem Vorbild nicht vereinbar sei.
Zwar ist die Trennungslinie zwischen Religion und Politik auch in westlichen Ländern, inklusive der USA, nicht so klar gezogen. Außerhalb der Vereinigten Staaten jedoch zeigen amerikanische Behörden und Institutionen großes Unbehagen im Umgang mit religiösen Autoritäten. Erstens, weil die meisten US-Repräsentanten selbst nicht streng religiös sind und zweitens, weil sie die Unterstützung von ausländischen religiösen Autoritäten mit amerikanischen Steuergeldern für einen Verstoß gegen ihre Verfassung halten.
Wir sollten – und das halte ich für die Grundlage jeder sinnvollen Politik – aufhören zu glauben, dass wir Menschen nach unseren Vorstellungen formen und erziehen können, und stattdessen mit dem vorlieb nehmen, was wir vorfinden. Dies vorausgesetzt, müssen wir auch zu dem Schluss kommen, dass wir den Einfluss religiöser Autoritäten in jenen Staaten zur Kenntnis nehmen müssen, die mit dem Problem des Terrorismus konfrontiert sind. Wenn die USA diese Autoritäten marginalisieren oder völlig ablehnen, dann unterminieren sie lediglich ihre eigenen Ziele, unabhängig davon, ob es unsere Aufgabe sein sollte, säkulare Regime zu fördern oder nicht. Kurz gesagt: Wenn wir von unten nach oben vorgehen beziehungsweise von der Peripherie zum Zentrum, dann müssen wir traditionelle Stammes- oder Clanführer ebenso akzeptieren wie religiöse Autoritäten.
Sollten wir also mit Stammes- und Clanführern kooperieren statt unsere Ressourcen in den Aufbau einer afghanischen Polizei und Armee zu investieren? Die Antwort auf diese Frage hängt letztlich von den Zielen ab, die sich die Alliierten in Afghanistan stecken. Wenn das Hauptziel der Aufbau einer stabilen Demokratie und einer modernen Wirtschaft ist, dann müssen wir langfristig und schrittweise nationale Sicherheitskräfte aufbauen.
Angesichts der geringen Unterstützung, die dieses Ziel bei den afghanischen Stammesführern genießt, und angesichts der verbreiteten Korruption wäre allerdings zu befürchten, dass die Amerikaner und ihre Verbündeten für die Erledigung dieser Aufgabe Jahrzehnte unter immensem Ressourcenaufwand in Afghanistan festsitzen würden. Thomas Friedman schrieb dazu in der New York Times: „Unsere Partner, die derzeitige Regierung in Afghanistan und die afghanische Polizei, sind so korrupt, dass nicht wenigen Afghanen die Taliban lieber sind. Wenn wir unendlich viel Zeit, Geld, Soldaten und Entwicklungshelfer hätten, könnten wir das wahrscheinlich ändern. Haben wir aber nicht.“
Wenn die USA dagegen, wie Präsident Obama im März 2009 verkündet hat, in erster Linie den Einfluss von Al-Kaida in Pakistan und Afghanistan dauerhaft zurückdrängen und auch ihre Rückkehr in der Zukunft verhindern wollen, dann kann ein Großteil dieses Zieles mit Hilfe von Stammesführern, Clanchefs und stammesübergreifenden Allianzen erreicht werden. Es wäre der richtige Ansatz, um schwache Staaten wie Afghanistan aufzubauen.
Prof. Dr. AMITAI ETZIONI lehrt Soziologie an der George Washington University in Washington D.C.
Internationale Politik 2, März/April 2010, S. 97 - 105