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03. Jan. 2022

Unternehmen vor Gericht

Wegen Mittäterschaft bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien wird der Zementhersteller Lafarge angeklagt. Das Verfahren ist ein Signal an alle großen Konzerne.

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Bild: Luftaufnahme des Zementwerks Lafarge in Syrien
Das Bild vom November 2010 zeigt die Zementfabrik von Lafarge im Norden Syriens nahe der türkischen Grenze.
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Es sei das modernste Zementwerk im Nahen Osten, rühmte sich der französische Zementhersteller Lafarge. 680 Millionen Dollar investierte Lafarge in Jalabija im Norden Syriens; 2010 wurde die Fabrik feierlich eröffnet. „Wir haben den besten Zement in Syrien produziert“, sagt der Syrer Mohammad stolz, der von 2011 bis 2012 in dem Werk arbeitete.



Heute steht das Werk in Jalabija leer, eine Ruine in einer zerstörten Kriegslandschaft. Und von Lafarge, einst größter Zementhersteller der Welt, ist nicht einmal der Name übrig. Nach einer Fusion mit der Schweizer Holcim-Gruppe 2015 beschloss die Leitung im Juli 2021, Lafarge aus dem Unternehmensnamen zu streichen.



Holcims Entscheidung ist nicht verwunderlich. Denn der Name Lafarge steht heute für eines der wichtigsten Strafverfahren der Wirtschaftsgeschichte. Nicht nur die frühere Führungsriege des Konzerns soll in Paris vor Gericht kommen. Die französische Justiz beschuldigt das Unternehmen selbst der Mittäterschaft bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit – es ist die weltweit erste solche Anklage, eine juristische Sensation. Im September 2021 erklärte die Cour de Cassation, das oberste französische Gericht, die Anklage für zulässig. Lange bevor das eigentliche Gerichtsverfahren eröffnet ist, hat Lafarge die vielleicht schlimmste Strafe für ein Unternehmen bereits ereilt: ein unwiederbringlicher Reputationsschaden.



„Die Entscheidung der Cour de Cassation ist ein Schock für multinationale Konzerne“, sagt Claire Tixeire, Juristin beim European Center for Constitutional and Human Rights in Berlin (ECCHR), das zahlreiche Syrer vertritt, die in Frankreich Strafanzeige gegen Lafarge gestellt haben. „Es ist ein Signal an die Unternehmen: In Kriegswirtschaften und Konfliktgebieten müssen die Unternehmen proaktiv sicherstellen, dass sie eine klare Grenze zwischen legalen und illegalen Aktivitäten ziehen. Sie müssen sehr genau aufpassen.“



In Syrien brach 2011, ein Jahr nach der Eröffnung des Zementwerks, der Bürgerkrieg aus. Den Norden Syriens beherrschten zunächst kurdische Milizen, bis der sogenannte Islamische Staat die Region eroberte und sein Kalifat ­errichtete. Große Konzerne wie Total oder Schneider Electric zogen sich 2012 aus Syrien zurück. Doch Lafarge Cement Syria – zu über 98 Prozent im Besitz der französischen Muttergesellschaft – machte weiter. Zu groß war die Investition, zu schwer wog möglicherweise auch der Wunsch, nach Kriegsende am Wiederaufbau verdienen zu können.



2012 evakuierte Lafarge das französische Management und die ausländischen Beschäftigten nach Jordanien und Ägypten. Die einheimische Belegschaft wurde dagegen unter Druck gesetzt, weiterhin zur Arbeit zu kommen, trotz der Gefahren, die an den Checkpoints auf dem Weg zur Arbeit lauerten, und der heftigen Gefechte zwischen kurdischen Milizen und IS-Kämpfern in der Region. „Uns sagten sie, darüber wird nicht diskutiert“, erinnert sich Mohammad, der zu den syrischen Nebenklägern gegen Lafarge zählt. „Wenn es dir nicht gefällt, kannst du ja gehen. Unsere Sicherheit war ihnen egal.“



Doch Lafarge ging noch weiter, um seine Produktion in Jalabija am Laufen zu halten: Der Konzern bezahlte Schutzgelder an verschiedene bewaffnete Gruppierungen. Die Anwaltskanzlei Baker McKenzie, die Lafarge selbst mit der Aufklärung des Geschehens beauftragt hatte, ermittelte eine Summe von fünf Millionen Euro. In der Anklage geht es sogar um knapp 13 Millionen Euro.



Ein Teil dieses Geldes ging an den IS, der in Teilen Syriens und Iraks ein Terrorregime errichtet hatte – dieselbe Organisation, die später für die mörderischsten Anschläge in Paris, die Attentate im Bataclan und am Stade de France im November 2015, verantwortlich zeichnete. Zugleich soll Lafarge dem IS Zement verkauft haben. Andere dschihadistische Gruppierungen soll Lafarge über Mittelsmänner geschmiert haben, um den Rohstoffnachschub für die Fabrik zu sichern. Lafarge bestreitet die Zahlungen nicht, erklärt aber, man habe nicht gewusst, an wen das Geld letztlich gegangen sei. Erst im September 2014, als der IS die Fabrik besetzte, stellte der Konzern die Produktion in Syrien ein.



Frankreich als juristischer Vorreiter

Publik wurden Lafarges Syrien-Geschäfte 2016 durch journalistische Recherchen. Im selben Jahr stellten 13 ehemalige Beschäftigte von Lafarge in Syrien mit Unterstützung von ECCHR und der französischen Organisation Sherpa Strafanzeige gegen den Konzern. Mit Erfolg: 2017 eröffnete die französische Justiz Verfahren gegen zwei frühere Vorstandschefs und mehrere andere Lafarge-Manager.



Ein Jahr später folgte die Anklage gegen das Unternehmen selbst, wegen Finanzierung eines terroristischen Unternehmens, Embargoverstößen und der Gefährdung von Menschenleben. Und wegen Mittäterschaft bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im Zeitraum 2013 bis 2014 in Syrien und Irak vom IS und anderen terroristischen Gruppierungen begangen wurden. Ein Donnerschlag – nicht zuletzt, weil die Ermittlungsrichter überzeugt sind, die französische Muttergesellschaft für das Geschehen beim Tochter­unternehmen Lafarge Cement Syria verantwortlich machen zu können. Lafarge musste 30 Millionen Euro Kaution stellen.



Mit seinem Wirtschaftsstrafrecht ist Frankreich international Vorreiter, mit großem Abstand. Seit 1994 könnten juristische Personen (mit Ausnahme des Staates) in Frankreich für alle Taten zur Verantwortung gezogen werden, die auch für natürliche Personen strafbar sind. Voraussetzung ist, dass sie von einem Organ oder einem Repräsentanten der juristischen Person zu ihren Gunsten begangen wurden. „Frankreich erkennt an, dass Unternehmen Akteure von großer strategischer und politischer Bedeutung sind“, sagt Tixeire vom ECCHR. Die möglichen Strafen reichen laut Gesetz von einer Geldbuße über den Ausschluss von öffentlichen Aufträgen und ein zeitlich begrenztes Geschäftsverbot bis hin zur Auflösung der juristischen Person. „Lafarge muss sich wegen einer der schwersten Straftaten überhaupt verantworten“, erläutert Tixeire. „Bei einer Verurteilung sollte es deswegen auch eine der härtesten Strafen bekommen.“



Eine hohe Hürde hat das Strafverfahren gegen Lafarge inzwischen genommen. Das Berufungsgericht in Paris hatte die Anklage wegen Mittäterschaft bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit zunächst aufgehoben, weil das Unternehmen sich nicht die Ziele und Absichten des IS zu eigen gemacht habe. Im September 2021 stellte die Cour de Cassation aber dann klar, welcher Maßstab hier anzulegen sei: „Man kann Mittäter bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit sein, selbst wenn man nicht die Absicht hat, sich mit der Begehung dieser Taten gemein zu machen.“ Es genüge, dass das Unternehmen wissentlich mehrere Millionen Dollar an eine Organisation gezahlt habe, die ausschließlich kriminelle Ziele verfolge. „Es kommt nicht darauf an, ob der Betreffende zur Aufrechterhaltung seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gehandelt hat.“



Der Maßstab ist nun klar, das Urteil noch lange nicht. Das Lafarge-Verfahren wird ein Monsterprozess mit inzwischen fast 40 Nebenklägern, neun angeklagten Ex-Managern und einem Unternehmen, das nicht mehr als separate Rechtspersönlichkeit besteht. Die Arbeit der Ermittlungsrichter wird noch dadurch verkompliziert, dass sich offensichtlich auch französische Geheimdienste und Ministerien in die Aktivitäten von Lafarge in Syrien eingemischt haben. Aber erst wenn sie fertig sind, kann es überhaupt zum eigentlichen Gerichtsverfahren kommen.



„Das Lafarge-Verfahren fügt sich ein in vielfältige Bemühungen, wirtschaftliche Aktivitäten im Völkerstrafrecht abzubilden“, sagt der Berliner Strafrechtsprofessor Florian Jeßberger. Bisher nehme das Völkerstrafrecht vor allem militärische und politische Funktionsträger in den Blick; wirtschaftliche Akteure spielten dagegen nur am Rande eine Rolle. Dies ändere sich aber, auch durch das Lafarge- Verfahren und den Druck von Menschenrechtsorganisationen wie ECCHR.



Zwei paradoxe Entwicklungen bestimmen diese Entwicklung: Einerseits steigen die Ansprüche an das Handeln von Unternehmen enorm, egal wo auf der Erde sie tätig sind. Andererseits sind es nicht internationale Institutionen, die die Durchsetzung dieser Ansprüche erwirken, sondern nationale Gerichte, die vermehrt Entscheidungen über Ereignisse jenseits der eigenen Grenzen treffen. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag, der für die Verfolgung der schlimmsten Verbrechen gegründet wurde, besitzt für juristische Personen keine Zuständigkeit.  



Lange scheuten nationale Gerichte davor zurück, weltweit agierende Konzerne wegen Völkerrechts- und Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung zu ziehen. 2008 wies die belgische Cour de Cassation die Klagen mehrerer Flüchtlinge aus Myanmar gegen Total als unzulässig zurück. Die Kläger hatten dem französischen Unternehmen vorgeworfen, die Militärjunta in Myanmar logistisch und finanziell unterstützt zu haben. Es trage deswegen Mitverantwortung für willkürliche Hinrichtungen, Deportationen, Zwangsarbeit und Folter. Auch in Frankreich scheiterten Flüchtlinge aus Myanmar mit einer ähnlichen Klage.



2013 gab es einen noch größeren Rückschlag: Der Oberste Gerichtshof der USA wies eine Klage gegen Shell wegen Menschenrechtsverletzungen im Niger-Delta ab. Aber heute muss sich der niederländisch-britische Ölkonzern sowohl in den Niederlanden als auch im Vereinigten Königreich für seine Aktivitäten in Nigeria verantworten. Anfang 2021 entschied der britische Supreme Court, zwei nigerianische Volksgruppen hätten das Recht, vor britischen Gerichten wegen der Umweltverseuchungen im Niger-Delta gegen Shell zu klagen. In den Niederlanden fielen bereits Urteile gegen Shell: Das Bezirks­gericht in Den Haag sprach nigerianischen Klägern Anfang 2021 Entschädigungen für erlittene Umweltschäden zu. Von einem weiteren Gericht wurde Shell im Mai 2021 dazu verurteilt, seinen CO2-Ausstoß bis 2030 deutlich zu verringern – ein riesiger Erfolg für Klimaschützer und ein wichtiger Präzedenzfall.



Auch wenn es bei den europäischen Shell-Urteilen um Umwelt- und Klimaschäden und nicht um Völkerstraftaten ging, wird derselbe Trend deutlich. „Der Zug der Zeit geht dahin, juristische Personen zu sanktionieren“, sagt der Augsburger Strafrechtsprofessor Michael Kubiciel. Er macht drei wesentliche Treiber aus: Transnational agierende Unternehmen seien mittlerweile zu wesentlichen gesellschaftlichen Kräften geworden, das löse Regulierungsdruck aus. Zugleich reagierten die westlichen Gesellschaften viel empfindlicher, wenn Unternehmen gegen ihre rechtlichen oder moralischen Pflichten verstießen. „Wenn die Gesellschaft genauer und kritischer hinschaut, hat das politische Folgen“, sagt Kubiciel. Das dritte Element sei der Glaube an die Universalität der Menschenrechte. „Heute werden an das Verhalten von Unternehmen im Ausland dieselben Maßstäbe angelegt wie bei uns zuhause“, so Kubiciel.



Das bisherige Ergebnis: ein Mosaik unterschiedlicher Rechtsauffassungen und Jurisdiktionen mit immer noch zahlreichen weißen Flecken. Und doch steht das Lafarge-Verfahren für einen wichtigen Etappensieg gegen die Straflosigkeit.    



Bettina Vestring ist freie Autorin und Publizistin in Berlin. Sie schreibt vor allem über Außen-, Sicherheits- und Europapolitik.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2022, S. 91-94

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