IP Special

04. Nov. 2022

Bauen für das Leben

„Wenn alle so bauen würden wie der Westen, wäre die Erde morgen kaputt“, sagt Star-Architekt Diébédo Francis Kéré. Und macht vor, wie es anders gehen kann: Materialien, Qualität, Nachhaltigkeit. Er kann sich vor Anfragen kaum retten. Ein Porträt.

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Pritzker-Preis-Gewinner Diébédo Francis Kéré
Hasst billige Fliesen, setzt auf bezahlbare Nachhaltigkeit und hat den Lehm als Bau­stoff neu erfunden: Pritzker-Preis-Gewinner Diébédo Francis Kéré.

Das Schönste sind die Dächer. Es sind weit ausladende Schattenspender, die auf filigranen Stützen schweben. Oder sanft geschwungene Hügel, auf denen eines Tages Erdbeeren angebaut werden könnten. In London hat der Meister einen Pavillon gebaut, dessen Dach ein flacher Trichter ist. Bei Regen erleben die Besucher einen Wasserfall in der Mitte des Raumes, ein Impluvium, wie es in Rom hieß. Ganz anders passt sich der 2021 entstandene Lions Start-up Campus seiner Umgebung an. Hier, im heißen und trockenen Norden Kenias, ragen lehmrote Türme in die Höhe, die an riesige Termitenhügel erinnern und auf gleiche Weise für Kühle im Inneren sorgen.

Diébédo Francis Kéré, 58, kommt es nicht nur auf die klare und elegante Formensprache an, mit der er seinem Vorbild Ludwig Mies van der Rohe nacheifert. Kéré baut, um den Menschen in Einklang mit der Natur zu bringen. Wenn er – wie meistens – in Afrika baut, verwendet er Lehm, der an heißen Tagen kühlt und an kalten Tagen wärmt. Schon seit Jahrtausenden baut man in seiner Heimat so – aber Kéré gelang es, den traditionellen Werkstoff zu verbessern und für moderne Formen zu nutzen.

Schon bei seinem ersten Bau, einer Grundschule in seinem Heimatdorf Gando in Burkina Faso, hat Kéré unter dem geschwungenen Wellblechdach, dessen Schatten zum Verweilen einlädt, ein zweites Dachgewölbe aus Ziegeln eingezogen. Der Spalt zwischen den Dächern sorgt dafür, dass die warme Luft entweicht und die Klassenzimmer kühl bleiben. Bei jedem seiner Projekte tüftelt Kéré an natürlichen Belüftungssystemen, wie die roten und blauen Pfeile auf seinen Skizzen zeigen.

„Kéré verstand, dass ein auf den ersten Blick einfaches Ziel, nämlich Kindern einen angenehmen Schulbesuch zu ermöglichen, im Mittelpunkt seines architektonischen Projekts stehen musste“, schrieb die Jury für den Pritzker-Preis, die im Frühjahr 2022 Kéré mit dem weltweit wichtigsten Architekturpreis auszeichnete. „Für eine große Mehrheit auf der Welt bedeutet Nachhaltigkeit weniger die Verhinderung unerwünschter Energieverluste als die von unerwünschten Energiezuflüssen. Für allzu viele Menschen in Entwicklungsländern ist das Problem ex­treme Hitze und nicht Kälte.“

Glühend heiß waren die Sommer in dem Schulgebäude, wo Diébédo Francis Kéré lesen und schreiben lernte: einem Zementkasten mit Flachdach, in dem sich bis zu 150 Kinder im Klassenzimmer drängten. Kérés Vater, der Ortsvorsteher von Gando, hatte seinen Ältesten als erstes Kind des Dorfes auf die Schule geschickt. Doch in Gando ging das nicht, und so kam Francis in einem entfernten Ort bei einer Gastfamilie unter. Vor dem Unterricht musste er für die Familie Wasser holen und Baumateria­lien schleppen.

„Ich bin so aufgewachsen wie jeder junge Burkinabé vom Land – in sehr großer Armut. In meinem Dorf gab es nichts“, erinnert sich Kéré 2018 in einem Film über sein Heimatdorf. Doch mit 20 wendet sich Kérés Leben: Er erhält ein Stipendium der Carl-Duisberg-Gesellschaft, um in Deutschland eine Tischlerlehre zu machen. Er absolviert die Lehre in Berlin, macht auf der Abendschule Abitur, studiert dann Architektur. Noch als Student plant er die Schule in Gando: „Mein Ziel war es, der Familie und der Gemeinde Bildung zu bringen, weil ich es der Bildung verdanke, dass ich es so weit in die Ferne geschafft habe.“

Er gründet eine Stiftung, um Geld zu sammeln, bittet sogar seine Mitstudenten, sich bei Kaffee und Zigaretten einzuschränken, um sein Projekt unterstützen zu können. 50 000 Dollar hat er schließlich gesammelt – ein großes Vermögen für Burkina Faso, eines der ärmsten Länder der Welt. Kéré berichtet dem Dorf von seinen Plänen. Erst herrscht Begeisterung, dann Entsetzen. „Du willst mit Lehm bauen? Ja weißt du denn nicht, was in der Regenzeit passiert?“ Kéré weiß es sehr wohl. Er hat eine neue Technik entwickelt, dem Lehm einen Anteil Zement beizumischen, was die in der Sonne getrockneten Ziegel viel haltbarer macht. Nach und nach überzeugt er das Dorf. Viele helfen beim Bau mit, mischen den Lehm an, mauern, verputzen, glätten und streichen, alles ohne Maschinen und mit den einfachsten Werkzeugen.

„Nachhaltiges Bauen kostet, spart aber oft langfristig“, sagte der Architekt kürzlich in einem Interview im Spiegel. „Eine Klimaanlage muss man aus China einkaufen. Eine passive Kühlung kann man mauern. Nicht selten sind meine Lösungen auch schöner. Ich hasse billige Fliesen. Bevor ich das einsetze, setze ich auf gefärbte Lehmwände.“

2001 ist die Grundschule in Gando fertig, da hat Kéré noch nicht einmal sein Studium abgeschlossen. Drei Jahre später erhält er für den Bau den Aga-Khan-Preis für Architektur, die erste von vielen prestigeträchtigen Auszeichnungen für seine innovative, nachhaltige und partizipative Bauweise. Kéré teilt seine Zeit auf zwischen Berlin, wo er 2005 sein eigenes Architekturbüro gründet, und Afrika. In Europa wirbt er über seine Stiftung Gelder ein, auf den Baustellen in Burkina Faso, Kenia, Mosambik und Uganda verhandelt er mit Anwohnern und Nutzern, bezieht sie in Planung und Konstruktion ein und legt oft genug selbst Hand an. „Francis Kérés Arbeit erinnert uns daran, dass wir darum kämpfen müssen, nicht nachhaltige Produktions- und Verbrauchsmuster zu verändern, während wir uns darum bemühen, angemessene Gebäude und Infrastrukturen für Milliarden von Bedürftigen zu schaffen“, schrieb die Pritzker-Jury. „In dem zeitgenössischen Humanismus, den er entwickelt hat, mischt sich tiefer Respekt vor der Geschichte, Tradition, Präzision und den geschriebenen und ungeschriebenen Regeln.“

Kéré baut Schulen, eine Bücherei, eine Klinik mitsamt Unterkünften für die Ärzte. Für Schlagzeilen in deutschen Feuilletons sorgt eine Kooperation mit dem todkranken Regisseur Christoph Schlingensief: 2010 beginnen sie den Bau eines Operndorfs in Laongo, 30 Kilometer von Burkina Fasos Hauptstadt Ouagadougou entfernt, unter der Schirmherrschaft des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler.

Gefeiert auf zwei Kontinenten

Er plane kein Bayreuth in Afrika, versicherte Schlingensief, sondern ein Experimentierdorf. „Bitte kein Fremdkörper in einem der ärmsten Länder der Welt.“ Die ersten Bauten, die Kéré für das Operndorf entwirft, sind eine Schule und eine Geburtsstation. Wie ein traditionelles afrikanisches Dorf wächst es seither schneckenförmig von innen nach außen, um einen zentralen Platz herum, auf dem eines Tages, als krönender Abschluss, das Festspielhaus errichtet werden soll.

Kérés Ruf wächst, er erhält Lehraufträge in Berlin, ­Harvard, der Schweiz, in Yale und an der Bauhaus-Universität Weimar. An der TU München bekommt er einen eigenen Lehrstuhl für architektonisches Design und Partizipation. Die Studenten drängen sich, bei ihm lernen zu dürfen, er nimmt sie auf seine Baustellen mit. Daneben betreibt er sein ­Architekturbüro in Berlin mit.

„Berlin ist sozusagen die moderne, intellektuelle Heimat für mich“, sagt Kéré 2017 in einem Interview mit der taz. „Fast alles, was ich in meinem Studium und für meinen Beruf als Architekt gelernt habe, kommt von hier. Hier leben meine Freunde. Das ist schon Heimat. Burkina Faso ist meine emotionale Heimat mit einer tiefen Beziehung.“

Inzwischen besitzt Kéré die Staatsangehörigkeit beider Länder. In Deutschland wird er in Fachkreisen gefeiert, in Burkina Faso ist er ein Volksheld. Anfang Juni 2022, wenige Tage nachdem er in London den Pritzker-Preis überreicht bekommen hat, reist er in seine alte Heimat. Hunderte Menschen drängen sich dort am Flughafen: Minister und Würdenträger, eine Delegation von Architekten, zahlreiche Verwandte. Zwei bekannte Sänger veranstalten ein Spontankonzert, es wird getanzt und getrommelt, es gibt ein Ehrenspalier, Plakate mit seinem Bild. Doch der Gefeierte bleibt bescheiden. Seine große Auszeichnung widmet er den Menschen in Burkina Faso.

Zunehmend sind es Großprojekte, die an ihn herangetragen werden. Für Benin hat er ein neues Parlamentsgebäude entworfen, einen Quader, der auf einem ausladenden Rippengerüst aufbaut. Es soll an einen Baum erinnern, einen afrikanischen Palaver-Baum, unter dem die Gemeinschaft zusammenkommt, um ihre Anliegen zu diskutieren und Lösungen zu finden. Auch in Ouagadougou soll Kéré ein neues Parlament bauen, schlägt eine Stufenpyramide vor, auf deren Dachterrassen die Feldfrüchte seiner immer noch stark landwirtschaftlich bestimmten Heimat angebaut werden sollen. Besucher sollen weit über das Land schauen können. Die Zustimmung ist groß. Doch wann mit dem Bau begonnen werden kann, ist angesichts der politischen Unsicherheiten und der Bedrohung durch den Terrorismus in Burkina Faso ungewiss.

Kéré ist ein freundlicher und zurückhaltender Mann, er ist höflich und spricht mit ruhiger Stimme. Die großen Projekte, das Leben auf zwei Kontinenten, die Lehre, die hohen Erwartungen, die an ihn gerichtet werden, strengen ihn an.

Aber sein Erfolg und die Ehrung durch den Pritzker-Preis stärken ihn auch. „Ich habe das Gefühl, der Preis gibt mir das Recht, jetzt offen zu sein: Vielleicht ist es an der Zeit, dass der westliche Mensch dazulernt. Vor allem, was Demut angeht. In Afrika kann man lernen, wie man mit weniger Ressourcen auskommt, ohne andere Kontinente auszubeuten“, sagt Kéré in dem Spiegel-Interview. „Wenn alle so bauen würden wie der Westen, wäre die Erde morgen kaputt.“

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 6, November 2022, S. 48-50

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Bettina Vestring

Währungshüterin mit Visionen

In manchem hat Kristalina Georgiewa den Internationalen Währungsfonds nach vorne gebracht. Doch der wichtigsten Reform steht die alte und neue IWF-Chefin selbst im Weg. Weil sie Europäerin ist.

Bettina Vestring ist freie Autorin und Publizistin in Berlin. Sie schreibt vor allem über Außen-, Sicherheits- und Europapolitik.

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