Eine Frage der Gerechtigkeit
Warum ist es nicht möglich, Putin wegen des Verbrechens der Aggression in Den Haag anzuklagen? Weil der Internationale Strafgerichtshof ein zahnloser Tiger ist – und die Weltgemeinschaft sich nicht darauf einigt, das zu ändern.
Russlands Krieg gegen die Ukraine wird in den Statuten des Internationalen Strafgerichtshofs in geradezu prophetischer Weise beschrieben. Artikel 8bis bis des Römischen Statuts listet auf, was als „Verbrechen der Aggression“ gilt: die Invasion, militärische Besetzung und gewaltsame Annexion des Hoheitsgebiets eines anderen Staates, ebenso Bombardierungen, die Blockade von Häfen und Küsten, Angriffe auf die Streitkräfte des Landes und das Entsenden bewaffneter Banden und Söldner. Zwei weitere Voraussetzungen nennt das Statut: Die Angriffshandlung muss eine offenkundige Verletzung der UN-Charta darstellen, und sie muss ausgeführt werden von einer Person, „die tatsächlich in der Lage ist, das politische oder militärische Handeln eines Staates zu kontrollieren oder zu lenken“.
Es gibt keinen Zweifel, dass Wladimir Putin das Handeln seines Staates lenkt. Ebenso wenig, dass er selbst den Angriff auf die Ukraine befohlen hat. Demnach sollte es möglich sein – und im Sinne von Gerechtigkeit und Völkerfrieden unerlässlich –, Putin wegen des Verbrechens der Aggression in Den Haag anzuklagen.
Tatsächlich erließ der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) am 2. März 2023 einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten, doch nicht wegen der Aggression gegen die Ukraine, sondern wegen der Verschleppung und Umsiedlung ukrainischer Kinder, die zu Tausenden nach Russland gebracht und dort umerzogen werden. Ein schrecklicher Vorwurf – der aber im Vergleich zum Verbrechen der Aggression verblasst. Denn mit seinem Angriff auf die Ukraine hat Russland erst die Tür für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geöffnet.
Trotzdem darf der IStGH wegen eines Verbrechens der Aggression gegen Russland nicht ermitteln. Als die Mitgliedstaaten des Gerichts bei ihrer Revisionskonferenz in Kampala im Jahr 2010 beschlossen, dass das Gericht in Zukunft auch für die Verfolgung von Angriffskriegen zuständig sein sollte, ging das nur mit einer schmerzhaften Einschränkung: Um ein Verfahren einleiten zu können, genügt es nicht, dass der angegriffene Staat dem Gericht beigetreten ist. Auch der Angreifer muss Mitglied sein.
Es ist eine absurde Ausnahme, die vor allem auf amerikanischen Druck verabschiedet wurde. Auch als Nichtmitglied des IStGH waren die USA in Kampala mit einer großen Delegation zugegen, die massiv Einfluss nahm. Zu groß war und ist die Sorge der Supermacht, sie könne im Zuge eines vom Westen geführten Krieges, wie beispielsweise gegen den Irak, selbst vor Gericht gestellt werden. Aufgrund ähnlicher Überlegung drangen auch die beiden europäischen Vetomächte im UN-Sicherheitsrat, Frankreich und Großbritannien, auf die Abschwächung des neuen IStGH-Mandats, obwohl sie zu den Mitgliedern des Gerichts zählen.
Die Folge ist, dass nicht nur die USA nicht wegen der Führung eines Angriffskriegs belangt werden können, sondern dass auch Russland und weitere autokratisch regierte und militärisch hochaktive Länder wie China, Saudi-Arabien oder die Türkei ausgenommen bleiben. Für den Angriff auf die Ukraine könnte Putin nur dann vor dem IStGH verantwortlich gemacht werden, wenn der UN-Sicherheitsrat das Gericht dazu ermächtigte – und das ist angesichts des russischen Vetorechts nicht vorstellbar. „Der russische Angriffskrieg legt nun schmerzlich offen, dass der IStGH bezüglich des Aggressionsverbrechens ein zahnloser Tiger ist“, sagt der Göttinger Völkerrechtsprofessor Kai Ambos.
Der Unwillen führender westlicher Länder, sich selbst den Normen einer umfassenden internationalen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen, hat weitere Folgen. Er untergräbt die Glaubwürdigkeit des Westens gegenüber Russland. Dies gilt besonders für die Länder des Globalen Südens, die den Strafgerichtshof ohnehin schon als voreingenommen wahrnehmen.
Mangelnde Glaubwürdigkeit
Vor allem afrikanische Regierungen werfen dem Gericht vor, es verfolge hauptsächlich Afrikaner, während Angehörige mächtigerer Staaten kaum etwas zu befürchten hätten. In der Tat stammen die Angeklagten fast aller bisherigen Strafverfahren aus Afrika; vorläufige Ermittlungen gegen britische Soldaten wegen Mordes und Folter im berüchtigten Gefängnis Abu Ghraib im Irak wurden 2020 eingestellt. Die damalige Chefanklägerin rechtfertigte dies damit, dass sich die britischen Behörden nicht als unwillig erwiesen hätten, solche Straftaten zu verfolgen. Allerdings wurde nur ein einziger britischer Soldat wegen der Vorwürfe von einem britischen Gericht verurteilt. Seine Strafe: ein Jahr Haft.
Mangelnde Glaubwürdigkeit erschwert es dem Westen auch, einen alternativen Weg einzuschlagen, Putin wegen des Angriffs auf die Ukraine vor Gericht zu bringen, nämlich durch die Gründung eines Sondertribunals. Der beste Weg – Errichtung durch Beschluss des UN-Sicherheitsrats – ist durch Russlands Vetorecht versperrt. Möglicherweise könnte aber auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Generalsekretär ermächtigen, mit der Ukraine die vertragliche Grundlage für die Errichtung eines Sondertribunals auszuhandeln.
Ob ein solches Gericht zulässig wäre, ist umstritten; seine Legitimität würde in jedem Fall davon abhängen, wie viele Staaten in der Generalversammlung für seine Gründung gestimmt haben. Erforderlich ist mindestens eine Zwei-Drittel-Mehrheit der anwesenden Staaten; mehr wäre besser. Ob das erreicht werden kann, ist angesichts der Glaubwürdigkeitslücken des Westens bei den numerisch starken Ländern des Südens unge-wiss. Hinzu kommt, dass nicht einmal sicher ist, ob die führenden westlichen Länder selbst einem solchen Antrag zustimmen würden. Vor allem in den USA ist die Angst groß, einen Präzedenzfall zu schaffen, auf dessen Basis eines Tages amerikanische Staatsbürger vor Gericht kommen könnten.
„Einige Staaten mögen einem Sondertribunal für Russland offen gegenüberstehen – eine globale Ge-richtsbarkeit über das Verbrechen der Aggression jedoch weniger gutheißen“, sagte Außenministerin Annalena Baerbock im Juli mit bemerkenswerter Ehrlichkeit. „Ein solches Sondertribunal könnte jedoch wiede-rum – in meinen Augen nachvollziehbarerweise – bei anderen Staaten den Verdacht erregen, es ginge nicht darum, Strafbarkeitslücken zu schließen, sondern vielmehr nur um ausgewählte Länder.“
Eine weitere Hürde ist der „Immunitätspanzer“, der die obersten Repräsentanten eines Staates vor der Verfolgung durch ausländische Gerichte schützt. In vielen Ländern können Völkerrechtsverbrechen nach dem Weltrechtsprinzip verfolgt werden, also auch dann, wenn weder Täter noch Opfer im eigenen Land ansässig sind. So wurden auf Grundlage des deutschen Völkerstrafrechts 2021 und 2022 zwei Syrer vom Oberlandesgericht Koblenz wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt.
Der Immunitätspanzer
Staatsoberhäupter, Regierungschefs und Außenminister bleiben jedoch von der Strafverfolgung vor nationalen Gerichten ausgenommen, egal welche Verbrechen ihnen zur Last gelegt werden. Nach dem Völkergewohnheitsrecht genießen sie Immunität, solange sie im Amt sind. Ihre Handlungs- und Bewegungsfreiheit soll im Interesse der Funktionsfähigkeit des zwischenstaatlichen Verkehrs erhalten bleiben.
Der Immunitätspanzer schützt den russischen Präsidenten vor einem Gerichtsverfahren der von ihm überfallenen Ukraine; ebenso wenig kann ein Tribunal, das nur von wenigen Ländern errichtet würde, ihn durchbrechen. Nur der IStGH ist ohne jeden Zweifel befugt, auch über Staatsoberhäupter zu richten. Beispielsweise hält es der Kölner Völkerrechtler Claus Kreß aber auch für zulässig, dass ein von der UN-Generalversammlung legitimiertes Gericht Putin zur Verantwortung zieht.
Für den Moment jedoch sind solche Details egal. Solange die Völkergemeinschaft keinen Konsens darüber herstellen kann, das Verbrechen der Aggression ohne Ansicht von Land oder Person zu ahnden, wird sich Wladimir Putin nicht für seinen Angriffskrieg verantworten müssen. Bisher steht ja nicht einmal das Opferland Ukraine voll und ganz hinter dem Internationalen Strafgerichtshof. Nach der russischen Invasion von 2014 hatte es den Gerichtshof zwar um Ermittlungen gebeten, beigetreten ist es aber bisher nicht. Zu groß ist offenbar die Sorge, die eigenen Soldaten könnten in den Fokus der Ermittler geraten.
Wer auf Gerechtigkeit hofft, wird bescheiden bleiben müssen. Immerhin gibt es den Haftbefehl gegen Putin wegen der verschleppten ukrainischen Kinder; weitere Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind im Gang. Und der amerikanische Gangsterboss Al Capone kam schließlich auch nicht wegen Mordes hinter Gitter, sondern wegen Steuerhinterziehung.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2023, S. 12-14
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