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19. März 2012

Unerlässliche Europäer

Warum die EU auf Großbritannien nicht verzichten kann

Brauchen wir die Briten noch? Eine Frage, die sich seit dem britischen Veto gegen das Ergebnis des EU-Gipfels so mancher in Frankreich und Deutschland stellt. Doch ist es kein Gebot der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Vernunft, Großbritanniens Potenzen für die EU zu nutzen? Wollen wir etwa Europa von der Welt abschneiden?

Seit dem Gipfel vom 8./9. Dezember 2011 ist die Europäische Union gespalten. „Es gibt jetzt ganz klar zwei Europas: das eine, das vor allem Solidarität unter seinen Mitgliedern und Regulierung will. Und das andere, das sich nur an die Logik des gemeinsamen Marktes klammert“, sagte Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy vier Tage später im Interview mit Le Monde. Mitte Dezember interpretierte Bernd Ulrich in der Zeit die Gipfelergebnisse sogar „als eine Spaltung, freundlicher: eine Diversifizierung des Westens“. Hier Europa, das nicht nur umweltpolitisch, sondern nun auch finanziell auf Nachhaltigkeit setze, dort die USA, die weiterhin die Umwelt verpesten und Schulden machen wollten. „Wenn die Europäer das Versprechen halten, das sie sich gegeben haben, dann sind sie eine Systemalternative“, so Ulrich.

Das Wort sollte zu denken geben. Ebenso wie die Tatsache, dass „die Europäer“ in dieser Lesart offensichtlich das „perfide Albion“ ausschließen, das gegen das Gipfelergebnis sein Veto eingelegt hat. Wenn man bedenkt, dass der Leiter des Politikressorts der Zeit für das Jahr 2050 einen „europäischen Machtraum entstehen“ sieht, „von Skandinavien bis nach Nordafrika, von Portugal bis Weißrussland, von Frankreich bis zur Türkei“, ist man versucht, sarkastisch zu sagen: Viel Spaß beim Schaffen dieses „Machtraums“ ohne Großbritannien, dafür mit Griechenland, Italien, Spanien, Portugal. Gewiss, Deutschland und Frankreich, die größte und zweitgrößte Volkswirtschaft des Kontinents, bilden den Motor der Europäischen Union. Aber ohne die drittgrößte, ohne Großbritannien, ist die Aufgabe nicht zu stemmen.

Nicht zuletzt geht es um politische, kulturelle und wirtschaftliche Einstellungen. „Europa ist östlicher, deutscher und gaullistischer geworden“, stellte Eckhard Fuhr Anfang Januar in der Welt fest. „Nicht umsonst werden Atlantiker nervös angesichts des deutsch-französischen Schulterschlusses bei der Krisenbewältigung.“ Das sollte nicht nur „Atlantiker“ beunruhigen: Jeden Liberalen – und damit sind nicht nur Anhänger der FDP gemeint – muss das Grausen packen, wenn ein (Stichwort Systemalternative) „östliches, deutsches, gaullistisches“ Europa der „Solidarität und Regulierung“ einem marktwirtschaftlich und atlantisch ausgerichteten Europa gegenübergestellt wird. Genau deshalb wird Großbritannien in Europa gebraucht: Weil die angelsächsische Tradition des Wirtschaftsliberalismus und gesellschaftlicher Liberalität, gekoppelt mit einer beachtenswerten industriellen, kommerziellen, finanziellen, kulturellen, diplomatischen und militärischen Potenz, kurz: eine einmalige Verbindung von „Hard“ und „Soft“ Power, Großbritannien für die EU zu einer unerlässlichen Nation macht.

Zocker? Von wegen!

Die neue antibritische Haltung in Deutschland und Frankreich ist so neu ja nicht, sondern eine Wiederbelebung des unter Gerhard Schröder und Jacques Chirac zur Zeit des Irak-Kriegs kultivierten Affekts gegen das britisch-amerikanische Sonderverhältnis, das wiederum auf noch ältere Ressentiments zurückgriff. Seit dem Crash von 2008 richten sie sich besonders gegen einen altbekannten Feind: das Finanzkapital, Wall Street und die City of London. „Wann hat man eigentlich zum letzten Mal das Wort ‚Finanzindustrie‘ gehört?“ fragt Fuhr. „Klammheimlich hat es sich aus dem öffentlichen Sprachgebrauch verabschiedet. Es enthält die Behauptung, Zocken sei eine wertschöpfende Tätigkeit wie Stahlröhren schmieden, Autos zusammenbauen oder Milch­tüten füllen.“ Großbritannien ist bekanntlich der Hauptsitz der Finanz­industrie in Europa. Genauer gesagt werden hier laut Eurostat wertmäßig mehr als 35 Prozent aller Finanzdienstleistungen in der EU-27 erbracht. Außerdem ist die „City“ Großbritanniens größter Exporteur, größter Steuerzahler und größter Arbeitgeber im Hochlohnsektor. 251 ausländische Geldinstitute arbeiten dort, 90 000 Banker allein in London, davon übrigens 8000 bei der Deutschen Bank, die dort einen Großteil ihrer Geschäfte abwickelt. Und die Banker generieren Arbeit für weitere Zehntausende, von der Wohnungsmaklerin über die Dolmetscherin und Sekretärin bis hin zum Kaffeekocher bei Starbucks.

Finanzdienstleistungen tragen auch nach der Krise 8 Prozent zum britischen Bruttoinlandsprodukt bei, in Deutschland sind es nicht einmal 1,5 Prozent. Nur noch acht Prozent der britischen Bevölkerung sind im produzierenden Gewerbe beschäftigt, während es in Deutschland über 24 Prozent sind. Da verbindet sich leicht eine Abneigung gegen „Zocker“ mit alten nationalen Vorurteilen. Heute sind ja 80 Prozent der Arbeitskräfte dieser „Nation von Kleinkrämern“, wie man schon im Kaiserreich spottete, im Dienstleistungssektor beschäftigt. Doch bei aller Bewunderung für den deutschen Arbeitsmann, der Stahl schmiedet, Autos baut und Milch abfüllt, sind freilich auch in Deutschland inzwischen fast 74 Prozent der arbeitenden Menschen Dienstleister. Übrigens sind Wert und Volumen des britischen industriellen Outputs dem Rückgang der Arbeitskräfte zum Trotz seit den fünfziger Jahren kontinuierlich gewachsen. GlaxoSmithKline und AstraZeneca sind das zweit- und drittgrößte Pharmaunternehmen, Rolls Royce ist der zweitgrößte Produzent von Flugzeugtriebwerken und BAE Systems das zweitgrößte Rüstungsunternehmen der Welt. Selbst Autos werden dort noch gebaut, auch wenn die Firmen nicht mehr Briten gehören.

Kein Tüfteln ohne Kapital

Die Vorstellung, Autos bauen oder Milchtüten füllen sei eine wertschöpfende Tätigkeit, den Kredit für Autobauer und Autokäufer, Milchbauern und Müller-Milch organisieren jedoch nur „Zockerei“, ist ein typisch deutsches Missverständnis. Eines, das in der Geschichte als Gegensatz von „schaffendem“ und „raffendem“ Kapital eine verhängnisvolle Rolle gespielt hat. Dabei zählt natürlich auch der radikalste deutsche Kritiker der Finanzindustrie darauf, dass seine kapitalbildende Lebensversicherung nach Ablauf die garantierte Rendite abwirft. Und natürlich braucht der Stuttgarter Tüftler ebenso wie der Kreative in Prenzlauer Berg Venture Capital, damit sein Start-up auch starten kann. Es gibt eine Korrelation zwischen der Entwicklung der Finanz­industrie und dem Wachstum der Gesamtwirtschaft. Wenn Firmen und Individuen schnell an Kapital kommen, wächst ihre Investitions- und Konsumbereitschaft. Was mit der „schaffenden“ Industrie passiert, wenn es in der „raffenden“ eine Kreditklemme gibt, haben wir 2008 erlebt.

Die Verachtung der „Zocker“ ist – allem Politiker-Populismus zum Trotz – den Regierungen fremd, die sich gern von der Steuer auf die im Finanzgewerbe erzielten Gewinne bedienen. In Großbritannien sind das 12 Prozent der Gesamtsteuereinnahmen. Deshalb schwärmen EU-Politiker seit kurzem von einer Finanztransaktionssteuer. Angeblich soll sie „Exzesse“ am Finanzmarkt verhindern; worum es wirklich geht, verriet der CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer im Interview mit der Welt am Sonntag am 11. Dezember: „Wir brauchen eine Finanztransaktionssteuer, damit könnten in Europa zusätzliche Wachstumsimpulse finanziert werden.“ Fragt sich nur, wer wen finanzieren soll. 55 Milliarden Euro jährlich würde eine solche Steuer generieren; allein 60 bis 70 Prozent davon würden in Großbritannien anfallen.

So verständlich der Impuls zur Bestrafung der Banker ist, so kurzsichtig ist er auch. Der Finanzdienstleistungssektor der EU-27 ist der zweitgrößte der Welt nach den USA, und der weltgrößte Exporteur von Finanzdienstleistungen. Zusammen kontrolliert der Westen, also USA plus EU, fast zwei Drittel der weltweit getätigten Finanzdienstleistungen. Das ist auch politisch von Bedeutung, wie die Rolle der Finanzindustrie bei den Sanktionen gegen den Iran beweist. Ganz wesentlich ist dieses gute Ergebnis für Europa von London abhängig, dem wichtigsten Scharnier zwischen den Märkten in Amerika und Asien einerseits, Europa andererseits und übrigens auch Sitz der größten Schiffsmakler, ohne die weder VW exportieren noch Lidl importieren könnten. Im Welt-Ranking der internationalen Finanzplätze (Global Financial Centres Index, März 2011) liegt London auf Platz eins vor New York und Hongkong. Keine andere Stadt der EU findet sich unter den Top Ten. Frankfurt, der zweitwichtigste EU-Finanzplatz nach London, liegt weit abgeschlagen auf Platz 14. Unter den aufsteigenden Finanzplätzen finden sich vor allem asiatische Städte. Das World Economic Forum sieht Hongkong sogar schon vor New York und London. Wer ein Europa ohne die Londoner City schaffen will, der will Europa von der Welt abschneiden.

Weltumspannende „Anglosphäre“

In seinem bemerkenswerten Essay „Zur Verfassung Europas“ hat Jürgen Habermas darauf hingewiesen, dass die „Völker eines Kontinents von schrumpfendem politischem und wirtschaftlichem Gewicht“ sich nicht darauf beschränken können, die Europäische Union „defensiv zur Erhaltung ihres kulturellen Biotops“ zu nutzen; vielmehr müssten sie ihren politischen Spielraum „auch offensiv für einen weiteren und noch mühsameren Aufbau globaler Steuerungskapazitäten“ einsetzen. Es ist offenkundig, dass dies ohne Großbritanniens globale Erfahrungen und nach wie vor beträchtliches politisches Gewicht als Mitglied des UN-Sicherheitsrats und des Commonwealth, als Ursprungsland der weltumspannenden „Anglosphäre“ und als Atommacht völlig illusorisch wäre.

Habermas glaubt, dass Deutschland sich auf Sarkozys Vorschlag einer „Wirtschaftsregierung“ einlassen könne: „Das bedeutet ja nicht, dass man sich damit schon auf die etatistischen Hintergrundannahmen und protektionistischen Absichten ihres Initiators einlassen würde.“ Eine interessante Charakterisierung des französischen Standpunkts seitens eines Philosophen, der prima facie kein Freund des angelsächsischen Kapitalismus ist. Aber das bedeutet es schon, wenn sich Deutschland – statt wie unter Helmut Kohl zwischen Frankreich und Großbritannien, Etatismus und Deregulierung, Protektionismus und Handelsfreiheit zu vermitteln – Sarkozys „Europa der Regulierung“ unter Ausschluss Großbritanniens anschließt, weil man Ausnahmeregeln für den Finanzplatz London ablehnt.

„Der ‚engeren Zusammenarbeit‘ auf wirtschaftspolitischem Gebiet würde dann eine in der Außenpolitik folgen müssen“, schreibt Habermas weiter. Doch eine EU-Außenpolitik ohne Großbritannien wäre absurd. Es ist eben kein Zufall, dass die erste „Außenministerin“ der EU, Catherine Ashton, aus Großbritannien kommt. Dass sie eine blasse Figur ist und ihrem Amt keine Gestalt zu geben vermag, steht auf einem anderen Blatt. Das mag in Ashtons Person begründet sein, in der gewollten Machtlosigkeit des Amtes, aber auch in strategischen Differenzen innerhalb der Europäischen Union.

Zäsur Libyen-Krieg

Diese Differenzen brachen im Vorfeld des Libyen-Kriegs auf. Vor allem die EU-Staaten Großbritannien, Frankreich und Italien machten sich für einen Regimewechsel stark. Die Amerikaner waren zunächst „not convinced“. Barack Obamas Verteidigungsminister Robert Gates kritisierte noch Anfang März 2011 „loses Gerede“ über militärische Optionen. Als aber am 17. März im UN-Sicherheitsrat Resolution 1973 eingebracht wurde, die einen Militäreinsatz zum Schutz der Rebellen billigt, stimmten die USA dafür, ebenso wie das EU-Mitglied Portugal. Deutschland aber enthielt sich, zusammen mit Brasilien, Russland, Indien und China. Unabhängig davon, wie man zur Libyen-Aktion steht: Der offene Dissens zwischen Deutschland und Frankreich markiert eine Zäsur. Aktuell waren zwar innenpolitische Erwägungen ausschlaggebend. Sarkozy stand unter Druck, seit die allzu engen Beziehungen seiner Außenministerin zum tunesischen Diktator Ben Ali ruchbar geworden waren. Merkel stand wieder einmal vor einer Landtagswahl.

Doch der Dissens hat tiefere Wurzeln. Bereits als Sarkozy 2007 seinen Plan für eine „Mittelmeerunion“ vorstellte, die alle Mittelmeeranrainerstaaten plus Mauretanien und Jordanien umfassen (und die nördlichen EU-Länder, darunter Deutschland, außen vor lassen) sollte, wurde die Idee von Merkel torpediert. Die Kanzlerin sah in Sarkozys Projekt den Versuch, eine eigene französische Interessensphäre zu schaffen. Und das sollte sie auch – als Gegengewicht zu einer aus Pariser Sicht bedrohlichen deutschen Interessensphäre, die von der Oder bis über den Kaukasus hinweg reicht. Die vorübergehende deutsch-französische Einigung in Sachen Euro-Rettung, die tiefgreifende Differenzen über den künftigen Kurs nur zukleistert, verdeckt auch eine strategische Rivalität der beiden größten Mächte innerhalb der EU.

Der Libyen-Krieg offenbarte jedoch nicht nur das Fehlen einer kohärenten europäischen Außenpolitik. Als der Einsatz gegen Gaddafi begann, feuerten französische Flugzeuge zwar die ersten symbolischen Schüsse; die Hauptfeuerkraft der ersten „Shock and Awe“-Angriffswelle kam jedoch von 124 amerikanischen und britischen Cruise Missiles vom Typ „Tomahawk“. Genauer: Die USA feuerten 122 Tomahawks ab, die Briten zwei. Nach sechs Tagen hatte die Royal Navy zwölf Marschflugkörper abgefeuert und damit ein Fünftel ihres gesamten Arsenals aufgebraucht.

Nach drei Monaten erklärte der Chef der britischen Kriegsmarine, der Krieg sei über den September hinaus „nicht durchzuhalten“. Anfang August kündigte Frankreich den Abzug seines reparaturbedürftigen Flugzeugträgers „Charles de Gaulle“ an; zuvor hatte Italien seinen Flugzeugträger „Garibaldi“ abgezogen; Norwegen hatte seine Beteiligung an der Aktion ganz eingestellt. Ohne die USA wäre nicht Gaddafi, sondern Europa zusammengebrochen. Aus dem Libyen-Debakel haben Großbritannien und Frankreich ihre eigenen Schlüsse gezogen und eine von beiden Seiten als „historisch“ bezeichnete Ära der militärischen Kooperation eingeleitet. Gemeinsam wollen sie Flugzeugträger, U-Boote und Drohnen nicht nur entwickeln und bauen, sondern auch nutzen. Dass Deutschland nicht in diese Entente Cordiale einbezogen wird, spricht für sich.

Während sich also Deutschland und Frankreich in der Ostpolitik und der Mittelmeerpolitik gegenseitig lähmen, wendet sich Frankreich, wenn es um künftige europäische Machtprojektion – ob im Rahmen der NATO, der EU oder denkbarer Koalitionen der Willigen – an Großbritannien. Die USA, das hat Barack Obama zu Beginn des neuen Jahres im Pentagon verkündet, verlegen ihren außenpolitischen und erst recht ihren militärischen Schwerpunkt westwärts in den Pazifik, um China zu kontern. Die Europäer werden sich um sich und ihre Umgebung künftig – wie es im Falle Libyens bereits deutlich wurde – selbst kümmern müssen. Der „Machtraum“, den die Zeit zu Recht der Europäischen Union zuspricht, wäre ohne eine Nation Großbritannien, die mit einer gewissen Selbstverständlichkeit und aus einer seit Kolonialzeiten ungebrochenen Tradition heraus die Bürden weltweiter militärischer Einsätze übernimmt, schlicht und einfach ein „Machttraum“.
Es ist ein Gebot der wirtschaftlichen, politischen, diplomatischen und militärischen Vernunft, Großbritanniens Potenzen für die EU nutzbar zu machen. Das macht man nicht, indem man das Land isoliert und eine Parallelstruktur nicht nur der Mitglieder der Euro-Zone einrichtet (für die einiges spricht, und gegen die von britischer Seite nichts einzuwenden gewesen wäre), sondern der 27 minus Großbritannien.

Gelebte Wertegemeinschaft

Zum Schluss muss an den unerlässlichen britischen Beitrag zur Kultur des Kontinents erinnert werden. Damit ist nicht nur die Kultur im engeren Sinne gemeint, von der Popmusik über den Roman und den Film bis hin zur – wer hätte das gedacht? – Kochkunst. Die oft verspottete „alte Tante“ BBC – in Wirklichkeit ein hochmodernes Medienkonglomerat, das mehr Korrespondenten in mehr Ländern der Erde hat als irgendein anderer Sender – ist das wichtigste Sprachrohr des Westens. Die British Broadcasting Corporation ist der einzige Kanal, der nach dem Qualitätsabfall der amerikanischen Konkurrenten und dem Aufstieg von Al Dschasira in der außerwestlichen Welt und besonders in unserer Nachbarschaft, dem Nahen Osten und Afrika, Glaubwürdigkeit und Deutungsmacht besitzt. Fast genauso wichtig ist das Feedback aus der Welt in den Sender, der via Internet, E-Mail, Twitter zu einem Weltmeinungsforum wird. Der Sender ist Symptom eines in Kontinentaleuropa seltenen Habitus; er verkörpert die entspannte Liberalität einer geografisch und gesellschaftlich exzentrischen Nation, die weder Faschisten noch Kommunisten in nennenswertem Umfang hervorgebracht hat, noch enragierte Antikommunisten und unbeugsame Antifaschisten ex post facto. Und wichtiger noch: Das Selbstverständliche einer Haltung, die hierzulande verdächtig erscheint, nämlich der gelebten Wertegemeinschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika. „Atlantikbrücke“ heißt eine verdienstvolle deutsche Organisation; Großbritannien ist als Nation die Atlantik­brücke der EU.

Großbritannien hat einiges gemeinsam mit jener anderen unerlässlichen, gerade weil exzentrischen europäischen Nation, der Türkei, und es ist kein Zufall, dass die Briten zu den treuesten Lobbyisten eines tür­kischen EU-Beitritts zählen. Beide teilen die Erinnerung an eine große imperiale Vergangenheit, beide eine gewisse Skepsis gegenüber den europäischen Mittelmächten, beide eine gewisse Kaltblütigkeit in militärischer Hinsicht. Beide sind Ausnahmen vom allgemeinen europäischen Trend schrumpfender Bevölkerungen. Und beide sind Brücken-Nationen, ohne die Europa keinen weltpolitischen Einfluss im Sinne Habermas’ gewinnen kann.

Manche Europäer, die insgeheim von einem kontinentalen Mini-Imperium unter deutscher oder einem gaullistischen Verein der Vaterländer unter französischer Führung träumen, fürchten, dass die Inklusion jener peripheren, über das Klein-Klein hinausweisenden Mächte Großbritannien und der Türkei die Europäische Union überdehnen und letztlich sprengen würde. Aber wenn die Euro-Krise eine bleibende Lehre bereithält, dann diese: dass nicht die Erweiterung der Union Sprengkraft birgt, sondern die Vertiefung. Will Europa nicht implodieren, muss es expandieren. Über die Türkei wird in einigen Jahren zu sprechen sein. Jetzt aber gilt es, so schnell wie möglich Großbritannien wieder in seine Rechte als führende europäische Nation einzusetzen. Niemand außer Deutschland kann das leisten. Niemand außer Deutschland hat so viel davon zu gewinnen.

ALAN POSENER ist Korrespondent für Politik und Gesellschaft der Welt am Sonntag.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/ April 2012, S. 100-106

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