Schlusspunkt

01. Nov. 2012

Gleicher Name, anderer Inhalt

Die Christen in den USA sind ganz anders als ihre Glaubensbrüder in Europa

Amerika und Europa sind zwei Kontinente, die durch die gleiche Religion getrennt sind. Europa ist christlich geprägt, Amerika tickt anders. Nicht zufällig richtet sich eine Enzyklika von Papst Leo XIII. gegen die Häresie des Amerikanismus. Nirgends wird der Unterschied zwischen Europa und Amerika deutlicher als im Phänomen der „Religious Right“, das es auf dem Alten Kontinent so nicht gibt.

Gewiss, auch hier gibt es Leute, die gegen Pille und Abtreibung, Homo­sexualität und Hollywoodfilme, Alkohol und Drogen – kurz: gegen den Spaß – sind. Doch auch für europäische Konservative hat der militante Kapitalismus der religiösen Rechten in den USA etwas Abstoßendes. Dass der zur Schau getragene Fleiß, die Anbetung des Erfolgs, die Verachtung der Gescheiterten Folgen des Calvinismus sind, kann man nachvollziehen. Aber diese Doktrin selbst widerspricht so sehr dem Geist des Christentums, dass sie – außer in der Schweiz, die nicht wirklich zu Europa gehört – nur auf einem neuen Kontinent als christlich verkauft werden konnte.

Wer die Evangelien, die Apostel­geschichte und die Paulusbriefe liest, kommt um eine Einsicht nicht herum: Die Grunderzählung unserer Kultur ist links, geradezu gutmenschlich links. Das Bild des Kindes in der Krippe – die Eltern zu arm, um sich eine Executive Suite im Bethlehem Hilton zu leisten – ist das Ur-Ikon Europas. Das Kind wurde zum Mann, der seinen Beruf aufgab, dazu aufrief, es den Lilien auf dem Felde und den Vögeln gleich zu tun und in den Tag hinein zu leben, der meinte, eher würde ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen als ein reicher Mann ins Reich Gottes kommen, und der unter der Losung „Occupy the temple“ den dortigen Devisenhändlern das Geschäft verdarb. Nach der Hinrichtung dieses Provokateurs, zu der die heutige religiöse Rechte gewiss Ja und Amen gesagt hätte, gründeten dessen Anhänger eine kommunistische Sekte.

Aus diesem Impuls heraus bezieht das Christentum seine gewaltige Kraft; und weil wir Europäer, ob wir es wollen oder nicht, christlich geprägt sind, sprechen alle sozialen Bewegungen – auch der „wissenschaftliche Sozialismus“ eines Karl Marx und der „nationale Sozialismus“ eines Adolf Hitler – die sentimentale Kindheitssprache von Weihnachten und Geschenken. Gegen einen richtigen Ellenbogenkapitalismus und eine konsequente Leistungsgesellschaft macht unser christliches Immunabwehrsystem mobil.

Und so blicken wir auf die USA: Barack Obama mag nicht so fromm sein wie Mitt Romney; wir lieben Obama jedoch – zuweilen gegen un­sere bessere Einsicht – als jesuanische Gestalt. Unsere kulturelle DNA ist christlich. Amerikas Erbmasse ist anders.

Alan Posener ist politischer Korrespondent der WELT-Gruppe.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/ Dezember 2012, S. 144

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