Mit Konkurrenz aus der Krise
Warum Europa endlich anfangen muss, seinen Bürgern zu vertrauen
Europa wird nicht etwa an der Euro-Krise scheitern. Wenn es scheitert, dann daran, dass es seine Legitimation nie direkt von den Bürgern bezogen hat, für die es da ist. Was wir jetzt brauchen, ist ein politischer Wettbewerb auf gesamteuropäischer Ebene. Die Konstituierung eines europäischen Demos wäre ein großer Schritt Richtung Staatswerdung Europas.
Auf unheimliche, aber nicht ganz unvorhersehbare Weise erfüllt die europäische Währungs- und Schuldenkrise den Integrationsplan derjenigen, die in den neunziger Jahren die Währungsunion schufen. Ihre weltpolitische Großkalkulation, namentlich die Helmut Kohls, sah vor, dass die gemeinsame Währung die politischen Mangelerscheinungen der EU zwangsläufig aufdecken würde und dass dies einen Handlungsdruck erzeugen müsste, der Europa von der weit vorangeschrittenen Wirtschaftsunion endlich auch zu einer echten Politischen Union machen würde. Der Preis für die mangelhafte politische Zusammenarbeit, so der Gedanke, würde nicht nur politisch, sondern vor allem auch wirtschaftlich zu hoch, um beim alten Konstrukt bleiben zu können.
Politische Union durch die Hintertür
Nicht in ihrer Radikalität, aber doch in ihrem Grundgedanken stand diese Vision in der funktionalistischen Tradition der Ur-Idee der europäischen Integration von Robert Schuman. Ernüchtert durch das frühe Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954 (die französische Nationalversammlung verwehrte dem Plan die Zustimmung), verlegte man sich auf das bis heute gültige Integrationsprinzip: Wirtschaftsintegration als Lokomotive der politischen Integration. Die Politische Union sollte als Zwangsfolge der Wirtschaftsunion gewissermaßen durch die Hintertür erfolgen. Es ist atemberaubend, wie wirksam diese Grundidee noch heute ist. Der EU-Gipfel vom 8. Dezember 2011 hat weitreichende Beschlüsse gefällt, die zwar vielleicht die Krise nicht heilen, deren politische Folgen aber klar sind: mehr Politische Union. In diesem Frühjahr werden die Details eines neuen Währungsvertrags zwar außerhalb des EU-Rahmens verhandelt, aber es gibt keine Zweifel, dass das neue Dokument die Integrationsdynamik Europas verändern wird.
Als die Architekten der Währungsunion auf den unsichtbaren Zwang zur politischen Einigung setzten, konnten sie drei Dinge noch nicht ahnen: Erstens, dass die Krise, die „mehr Europa“ alternativlos machen würde, so existenziell sein würde. Zweitens, dass die Bevölkerungen Europas in der Zwischenzeit so deutlich ihre Lust auf Europa verlieren würden, und drittens, dass das politische Leitungspersonal, welches zu jenem Zeitpunkt in der Verantwortung stünde, über so wenig Führungskraft und Gestaltungswillen verfügen würde, wie es nun der Fall ist. So kommt es, dass dem Integrationsplan der Euro-Gründer bei aller visionären Kraft eine gewisse Tragik innewohnt.
Zwar wird die europäische Krise nach dem Dezember-Gipfel nun etwas entschlossener bewältigt, und vermutlich wird der bis März 2012 zu formulierende neue Vertrag sogar vergleichsweise zügig in Kraft treten. Doch der Integrationswille, der hinter diesen Maßnahmen steckt, ist kein Resultat von Europa-Enthusiasmus oder innerer Überzeugung. Er ist aus der Not geboren und folgt allein der Logik der Notwendigkeit. Dies birgt die Gefahr, dass die entscheidende Überlebensfrage des Integrationsprojekts nicht gestellt wird, obwohl erst ihre Beantwortung zu echter politischer Beständigkeit im Inneren der EU und zu Handlungsfähigkeit im Äußeren führen kann. Denn Europa wird nicht an der Euro-Krise scheitern. Wenn es scheitert, dann daran, dass es als politisches Projekt seine Legitimation nie direkt von den Bürgern bezogen hat, für die es da ist. Kein politisches System derartiger Komplexität kann auf Dauer ohne klare Mandatierung durch den Willen des Bürgers existieren.
Wo bleibt der Wettbewerb?
Politische Systeme beziehen ihre Legitimation aus zwei Quellen: erstens aus dem Output, also den Gütern und Wohlfahrtseffekten, die sie für ihre Bürger erzeugen, und zweitens aus dem Input, also der Art und Weise, wie sie die Bürger an der Willensbildung im System beteiligen. Die EU hat sich seit ihrer Gründung fast ausschließlich auf Output-Legitimation gestützt. Und das höchst erfolgreich: Europa hat die Menschen reich gemacht, Grenzen abgebaut, Mobilität erhöht, Rechtsschutz gestärkt, politische Stabilität gefestigt und dabei geholfen, vormalige Diktaturen politisch und wirtschaftlich zu transformieren.
Bei der Input-Legitimation dagegen herrscht enormer Nachholbedarf. Echte Teilhabe am politischen Prozess der EU, die mit der Beteiligung des Bürgers auf nationaler Ebene vergleichbar und der Regelungstiefe des Integrationsprojekts angemessen wäre, findet nicht statt. Alle bisherigen Maßnahmen, dieses Defizit zu beheben, vor allem die stetige Aufwertung des Europäischen Parlaments (EP), haben nicht dazu geführt, dass das Legitimationsproblem der EU im Kern angetastet wurde: die Abwesenheit von politischem Wettbewerb auf gesamteuropäischer Ebene. Dem EP fehlen nicht nur wichtige Kompetenzen, um ein echtes Parlament zu sein (volles Budgetrecht, Gesetzesinitiative, alleiniges Legislativrecht). Es kann auch nicht beanspruchen, einen europäischen Volkswillen zu vertreten, denn es konstituiert sich nicht durch gesamteuropäische Wahlen, sondern durch die schlichte Aufaddierung einzelstaatlicher politischer Willensbekundungen. Kombiniert man dies mit der Tatsache, dass die EP-Abgeordneten weder, wie im parlamentarischen Regierungssystem, durch ihre Verantwortung für eine stabile Regierungsmehrheit noch, wie im präsidentiellen System, durch das politische Individual-Unternehmertum (und damit die individuelle Abwählbarkeit) jedes Abgeordneten diszipliniert werden, ist vollends klar, dass dieses Parlament als Quelle demokratischer Legitimation der EU nicht ausreicht. Ein Manko, das der Rat der EU, in dem die Regierungen der Einzelstaaten entscheiden, kaum ausgleichen kann, ist doch auch er nicht aus gesamteuropäischem Wettbewerb hervorgegangen. Und Umfragen unter EU-Bürgern, die den Wunsch nach „mehr Europa“ dokumentieren, können ebensowenig als Legitimationsquelle dienen. Dass Europa-Abgeordnete dieses Argument in letzter Zeit häufig verwenden, ist kein Zeichen von Stärke, sondern eher ein Eingeständnis der Schwäche ihres Mandats.
Was bleibt, ist die nur abgeleitete, nicht aber ursprüngliche Legitimierung eines politischen Systems, das sich anschickt, weitere Integrationsschritte zu unternehmen. Mit der Folge, dass all das, was Brüssel unternimmt, das Leben der Bürger immer stärker beeinflusst, gleichzeitig aber die Diskrepanz zwischen europäischem Handeln und politischer Willensbekundung des Souveräns immer größer wird. Dieses System bedarf dringend der demokratischen Fundierung. Denn in Zukunft wird noch deutlich mehr Integration und Kooperation zwischen den Nationalstaaten nötig sein – nicht nur aufgrund der aktuellen Krise.
Echte europäische Klasse
Wie aber kann die nötige Input-Legitimation in der EU erzeugt werden? Ein Kernelement einer europäischen politischen Ordnung müsste die Partizipation des Bürgers in einem gesamteuropäischen Wettbewerb sein. Der Souverän muss zu einem genuinen europäischen Demos werden, indem er sich als europäisches Wahlvolk konstituiert. Aus zahlreichen Gründen, die hier nicht vertieft werden sollen, ist es ratsam, dass dieser gesamteuropäische Wettbewerb nicht über Volksabstimmungen und Referenden gestaltet wird, sondern in Form einer repräsentativen Demokratie. Dies wiederum macht zwingend gesamteuropäische Wahlen erforderlich. Diverse Modelle sind hierfür seit Jahren im Gespräch, vor allem eine Direktwahl des Präsidenten der Kommission oder des Ratspräsidenten. Ein weiteres Modell ist die Wahl des Europäischen Parlaments nicht mehr, wie bisher, auf der Basis nationaler, sondern auf der Basis gesamteuropäischer Listen, wenn nicht sogar auf der Basis von Direktwahlen der Abgeordneten in Wahlkreisen. Dies würde zwar nicht alle Defizite der Kammer beseitigen, aber immerhin einen großen Schritt in die richtige Richtung bedeuten.
Viel wichtiger als die technische Detailplanung solcher Urnengänge wäre die politische Dynamik, die solche Wahlen in Gang bringen würden. Mit der Auslobung eines bedeutsamen gesamteuropäischen politischen Preises, nämlich der Besetzung wichtiger Führungsämter (oder einer wirklich starken Mehrheit im Europäischen Parlament) würde sich der politische Wettbewerb in drei Schritten auf die europäische Ebene ausweiten.
Der erste Schritt wäre die Bildung gesamteuropäischer Parteien aus dem Fundus der bisher eher lose organisierten Parteienfamilien. Europäische Konservative, Sozialdemokraten, Grüne, Linke, Liberale oder Kommunisten könnten nämlich nur dann auf den Gewinn des Preises hoffen, wenn sie ihr Ringen um Mehrheiten über Grenzen hinweg gemeinsam organisierten. Keine Partei wäre stark genug, um eine gesamteuropäische Wahl allein zu gewinnen. Gesamteuropäische Parteiprogramme und Listen wären die Folge. In einem zweiten Schritt würde innerhalb dieser neuen Parteien starker innerparteilicher Wettbewerb entstehen. Plötzlich muss sich ein spanischer Politiker gegen einen polnischen, eine finnische Kandidatin gegen eine französische durchsetzen – innerhalb derselben Parteiorganisation. Die Auswahlkriterien für politisches Spitzenpersonal würden sich dramatisch verändern. Mehrsprachigkeit, internationale Erfahrung und grenzübergreifendes Integrationstalent würden als Qualitäten in den Mittelpunkt treten – keines davon ist derzeit ausschlaggebend. Nach und nach würde sich eine neue, echte europäische politische Klasse herausbilden, die gelernt hat, in gesamteuropäischen Dimensionen zu denken und die systematisch auf eine Laufbahn dieser Art vorbereitet wurde. Parteizentralen und Wahlkampfapparate, Jugend- und Seniorenorganisationen, Mitgliederwerbung und Spendensammlung – all dies würde sich dramatisch verändern. Ebenso die leidige Frage der Parteienfinanzierung.
Im dritten Schritt würden diese neu formierten politischen Kräfte mit ihren Spitzenkandidaten gegeneinander in den Wahlkampf ziehen und somit gesamteuropäischen Wettbewerb zwischen den politischen Kräften Europas auf die Straße bringen. Im Europa-Wahlkampf würde über europäische Themen und Ideen für eine Gestaltung der EU gestritten und nicht mehr vornehmlich um die Abrechnung des nationalen Wählers mit seiner nationalen Regierung. Mit einem Mal würde gesamteuropäisch das entstehen, was bisher nur auf nationaler Ebene funktioniert: persönliches Andocken an den politischen Prozess, rationale und emotionale Reaktion auf Kandidaten und Programme, persönliche Verortung im politischen Koordinatensystem. Deutsche Wähler würden sich TV-Debatten anschauen, um aus dem multinationalen Personaltableau „ihren“ Kandidaten auszuwählen. Parteiloyalitäten, die vorher rein national verankert waren, würden sich europäisch herausbilden – und sich vielleicht sogar deutlich verschieben.
Natürlich, derzeit ist all das noch Science Fiction. Aber es steht in der Logik des Integrationsprozesses, die durch die derzeitige existenzielle Krise wieder an Bedeutung gewonnen hat. Ein echtes politisches Europa würde geschaffen. Das Brüsseler Institutionengeflecht würde wirklicher Kontrolle unterworfen, eine „ever closer Union“ als Elitenprojekt hinter verschlossenen Türen wäre nicht mehr möglich. Insgesamt würde genau das passieren, was Jahrzehnte politischer Bildung und immer ausgefeilterer Kommunikationskampagnen nicht erreichen konnten: die Identifikation des Bürgers mit dem politischen Europa. Dass diese neue Identität nicht im Konflikt mit bisherigen nationalen, regionalen und lokalen Identitäten stehen muss, ist selbstverständlich. Nichts müsste weggenommen werden. Dem komplexen Gefüge geschichteter Identitäten, das auch heute schon jeden betrifft, würde eine weitere Identität hinzugefügt, nur dass es diesmal keine künstlich konstruierte oder wohlmeinend anempfohlene Identität wäre, sondern eine, die sich nach und nach in einem politischen Teilhabeprozess herausbilden könnte.
Die Staatswerdung Europas
Nun gibt es den Einwand, dass eine echte Politisierung den Integrationsprozess zum Einsturz bringen würde: Die bisherige, vor allem auf Wirtschaftsfragen gerichtete Integration habe überhaupt nur deswegen glücken können, weil das Politische weitgehend ausgeklammert worden sei. Doch das ist ein zutiefst paternalistisches Argument, das den EU-Bürger zwar als Konsumenten und Werktätigen für geeignet hält, nicht aber als mündigen Bürger. Es ist diese Einstellung, die die Abkopplung des Bürgers von Europa mit verursacht hat. Ein Europa, das seine Errungenschaften so verteidigt, wird scheitern. Zudem übersehen die Befürworter dieser These, dass eine echte Politische Union mit Anbindung an den Souverän noch nie versucht wurde, es also gar nicht ausgemacht ist, dass sie notwendigerweise scheitern muss. Und schließlich ignorieren sie, dass gerade in der deutschen Verfassungsordnung, entgegen der Umdeutung durch das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil, das Aufgehen der Bundesrepublik in einem europäischen Bundesstaat als Möglichkeit immer schon mitgedacht war.
Damit ist der Kampfbegriff gefallen: die Staatswerdung Europas. Das hier geschilderte Wettbewerbsmodell würde dies nicht zwangsläufig zur Folge haben. Aber durch die Konstituierung eines europäischen Demos, eines EU-Wahlvolks, wäre in der Tat ein großer Schritt in Richtung Staatsqualität der EU getan. Das Bundesverfassungsgericht hat im Lissabon-Urteil deutlich gemacht, dass die Bildung eines solchen Wahlvolks ein Integrationsschritt wäre, der innerhalb der bestehenden Verfassungsordnung Deutschlands nicht mehr zulässig sei. Hierzu ist das letzte Wort nicht gesprochen. Den Realitäten der sich vollendenden Globalisierung wird von Karlsruhe aus nur bedingt beizukommen sein. Sie werden Schritte erforderlich machen, die heute noch als unmöglich angesehen werden. Aufgabe der Politik wird es sein, durch konstruktives Gestalten den Menschen in Europa die Angst vor dieser Entwicklung zu nehmen. Die Integrationsvision von Schuman und Monnet aus den fünfziger Jahren ist dafür kein schlechter Orientierungspunkt.
JAN TECHAU ist Direktor von Carnegie Europe, Brüssel, und Associate Fellow der DGAP.
Internationale Politik 1, Januar/ Februar 2012, S. 26-30