Schlusspunkt

01. Jan. 2016

Historisch hanebüchen

Richtige Wahl, falsche Begründung: Angela Merkel und das Time-Magazine

Angela Merkel ist also für Time die Person des Jahres 2015. Eine große Ehre – bis man sich fragt, wer sonst infrage käme. Auf der Shortlist des Magazins belegen der Terrorist Abu Bakr al-Bagdadi und der Amateurpolitiker Donald Trump die Plätze zwei und drei. Kunststück, sich dagegen zu behaupten.

Man mag die Ehrung dennoch als politisches Statement begrüßen. Anders als hierzulande, wo sich manche Journalisten nach neun Jahren Hofbericht­erstattung angesichts der Flüchtlingskrise in eine Orgie des Merkel-Bashing gestürzt haben, begreift man in den USA und in Großbritannien – wo der Economist in einer Titelgeschichte „die unverzichtbare Europäerin“ lobte – die Gefahren des europäischen Populismus und sieht in der Kanzlerin eine Bastion der Vernunft gegen die Gespenster des alten Kontinents. Das ist sie, wenn auch ihre Politik – etwa in der Euro-Krise gegenüber Griechenland – dazu beitrug, diese Geister zu rufen.

Ärgerlich allerdings ist die Begründung für die Auszeichnung: „Deutschland testet seit 70 Jahren Gegenmittel gegen seine toxisch nationalistische, militaristische und völkermörderische Vergangenheit“, heißt es da. „Merkel verkündete einen anderen Wertekatalog – Menschlichkeit, Großzügigkeit, Toleranz – und zeigte, wie Deutschlands Kraft zur Rettung, nicht zur Zerstörung eingesetzt werden könne. Selten kann man dabei zusehen, wie ein politischer Führer eine alte, hartnäckige nationale Identität ablegt.“

Hallo? Adenauers Westbindung, Brandts Kniefall, Kohls Vorsicht; die Mitgliedschaft in NATO und EU; Auschwitz-Prozess, 68er-Bewegung, Histori­kerstreit: alles wirkungslos? Erst Merkels Geste gegenüber syrischen Flüchtlingen – verbunden übrigens mit einer Verschärfung der Asylgesetze – ließ Deutschland seine „alte nationale Identität ablegen“? Absurd. So absurd wie die Behauptung, diese Identität sei durch Nationalismus, Militarismus und ­Genozid geprägt gewesen.

Angela Merkel setzt seit jeher darauf, dass Deutschlands Identität längst eine andere ist als die von Time karikierte. So auch in der Flüchtlingskrise. Gewinnt sie die Wette, und dafür spricht einiges, müsste die wiedergewählte Kanzlerin Person des Jahres 2017 werden. Wird es aber Marine Le Pen: ­Adieu Europa.

Alan Posener ist politischer Korrespondent der WELT-Gruppe.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2016, S. 144

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