... und die deutschen Städte?
Urbane Dynamik fehlt im Land der Kleinstädte und Fußgängerzonen
Wenn das Land sich nicht in 50 Jahren im Freilichtmuseum wiederfinden will, muss es sich den globalen Trends der urbanen Dynamik anschließen
Megastädte sind Städte für die Welt, nicht Städte für ihr Umland und nur noch teilweise, als Hauptstädte wie Tokio oder Mexico City, Städte für ihre eigene Nation. Megastädte sind ein globales Phänomen – sie bilden die Knoten in einem neuen Netz der Kommunikation, der Verkehrsströme, der wirtschaftlichen und kulturellen Dynamik, das den Planeten umspannt. Veränderung, Wachstum, Innovation im 21. Jahrhundert werden in den neuen Metropolen „gemacht“ und vorangetrieben, nicht in den ländlichen Räumen. Diese Diagnose ist keineswegs selbstverständlich. Konnte man nicht glauben, die Großstädte gehörten einer zu Ende gehenden Ära – der Ära der klassischen Industriegesellschaft – an? Waren sie nicht auf bestem Wege, zu den Dinosauriern der Siedlungsform zu werden, weil Menschen sich jetzt und in Zukunft viel effektiver „virtuell“ zusammenschließen können? Diese Vorstellung wird nicht nur durch Schanghai, sondern nach wie vor auch durch New York widerlegt.
Was bedeutet dann der Befund, dass die neuen Megastädte zwar ein globales, aber kaum ein europäisches Phänomen sind? Auch Nordamerika schließt sich mit Houston, Phoenix, Las Vegas dem weltweiten Trend an. Wenn es einen engen Zusammenhang zwischen boomenden Metropolen und neuem Wirtschaftswachstum gibt, haben dann die Wachstumsprobleme im „alten“ Europa auch etwas mit einer fehlenden Dynamik städtischer Entwicklung zu tun? Dabei ist mit Wirtschaftswachstum nicht einfach die quantitative Expansion gemeint, sondern der Strukturwandel zu neuen, wissens- und kommunikationsbasierten Formen von Produktion und Dienstleistungen, mit dem große Teile Kontinentaleuropas sich so schwer tun. Es muss ja nicht gleich ein zweites Schanghai sein oder ein neues Dubai an der Ostseeküste. Aber auch bei bescheideneren Kriterien fällt auf, dass es großstädtische Boomregionen in Deutschland eigentlich nirgends gibt.
Natürlich kann man einwenden, die neuen asiatischen oder auch afrikanischen und lateinamerikanischen Metropolen holten nur das nach, was Europa, oder die USA zwischen New York und Chicago, schon ein gutes Jahrhundert früher geschafft hätten. Und fraglos handeln sie sich dabei Probleme ein – Umwelt, Verkehr, soziale Ungleichheit –, die wir längst, wenn nicht gelöst, so doch bearbeitet und gebändigt haben. Aber diese Form der Selbstzufriedenheit des historischen Pioniers wird nicht genügen, wenn wir uns nicht in 50 Jahren in einem Freilichtmuseum wiederfinden wollen: Probleme gelöst, Entwicklung stillgelegt.
Die klassische Urbanisierungsphase der boomenden Expansion ist in Mitteleuropa bereits mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende gegangen. 30 Jahre später markierten die Kriegszerstörungen der Innenstädte eine weitere Zäsur. Mindestens ebenso wichtig aber wurden politische Weichenstellungen der Nachkriegszeit und ihre kulturellen Folgen. Der Stadt-Land-Gegensatz verlor seine Schärfe durch eine Urbanisierung des ländlichen Raumes; die Hauptgewinner des Bevölkerungswachstums der Bundesrepublik sind seit den fünfziger Jahren bis heute die Mittel- und Kleinstädte. Sie trugen auch den Suburbanisierungsschub der achtziger und neunziger Jahre, der deshalb nie die amerikanische Dimension erreichte. Deutschland ist auf diese Weise nicht das Land der markanten Megacities, sondern auch in seinen Siedlungsformen das Land der ausgeglichenen Lebensverhältnisse geworden. Die Risiken der Veränderung, des Wachstums und eben auch der urbanen Dynamik bleiben ausgeschlossen.
Haben wir es verlernt, ein metropolitanes Leben in vorderster Front zu führen? Es gibt nicht wenige Berliner, die ihre eigene Stadt für unendlich hektisch, betriebsam und voll halten. Dabei findet man in der Welt keine grünere Metropole und keine mit leereren Straßen; kaum eine mit geringerer Bevölkerungsdichte. Und während anderswo Hochhäuser und Brücken entstehen, fragen die Deutschen sich allen Ernstes, ob man überhaupt noch Hochhäuser ins Stadtzentrum bauen dürfe (Köln); ob man die städtische Silhouette durch moderne Infrastruktur verändern dürfe (Dresden); ob eine Mehrmillionenstadt wirklich einen internationalen Flughafen brauche, und wenn schon, ob dadurch frei werdende Flächen nicht aufgeforstet werden sollten, statt dort Herzschrittmacher städtischer Dynamik einzupflanzen (Berlin).Das Bevölkerungswachstum in Deutschland ist abgeflacht und im langsamen Rückgang begriffen. In vielen Regionen, vor allem in Ostdeutschland, ist der Rückbau von „shrinking cities“ angezeigt. Aber andere Regionen wachsen weiterhin, und die schrumpfende Stadt darf die Vorstellung von Zukunft und das politische Handeln nicht dominieren. Im Grunde fällt die Prognose nicht schwer: Auch in Deutschland werden diejenigen Städte in den nächsten Jahrzehnten erfolgreich sein, die ganz bewusst auf Wachstum, auf den Anschluss an moderne Infrastrukturen, auf die Entwicklung neuen ökonomischen Potenzials, auf die Attraktivität für Zuzügler setzen, statt nur ihre Existenz weiterzuverwalten. Das gilt für Stuttgart, Hamburg, München, in Ostdeutschland am ehesten für Leipzig. Am hinteren Ende der Skala liegen die beiden „alten“ Megacities der Nation: Berlin und das Ruhrgebiet. Ihnen ist bei allen Unterschieden gemeinsam, dass sie zu lange die Vorstellung gepflegt haben, den Strukturwandel durch eine Abwicklungs- und Befriedungspolitik bewältigen zu können. Nicht nur im globalen Maßstab hat sich der Nexus von städtischer Entwicklung und Prosperität noch lange nicht erledigt.
Prof Dr. PAUL NOLTE, geb. 1963, war von 2001 bis 2005 Professor für Geschichte an der International University Bremen und lehrt seit Juli 2005 als Professor für Zeitgeschichte an der FU Berlin. Jüngste Veröffentlichung: „Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus“ (2006).
Internationale Politik 11, November 2006, S.56-57