Baustelle Bildung
Unterfinanziert und dennoch als Allheilmittel empfohlen
Ist von den gegenwärtigen Aufgaben der Bildungsreform die Rede, erinnert man gerne an die sechziger und siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts: die Hochphase der letzten großen Bildungsreform – und auch damals der Versuch, auf eine „Bildungskatastrophe“ (Georg Picht) zu reagieren, die heute wohl kaum kleiner dimensioniert ist. Doch sucht man nach sichtbaren und zählbaren Ergebnissen, könnte der Unterschied kaum größer sein. Damals schwirrte die Luft nicht nur von pädagogischen und institutionellen Reformvorschlägen; auch in der praktischen Umsetzung war die Schlagzahl enorm hoch.
Und heute? Es hat sich eine institutionelle Lahmheit breitgemacht, eine Unfähigkeit, Antworten auf erkannte Probleme auch umzusetzen und neue Wege nicht nur im Zeitlupentempo zu beschreiten. Seltsam auch: allen öffentlichen Beteuerungen über den Stellenwert der Bildung zum Trotz ist die Zahl der ausstrahlungsfähigen, reformfreudigen und durchsetzungsfähigen Fachminister und -ministerinnen eher kleiner als vor drei bis vier Jahrzehnten, und die meisten sind in der Öffentlichkeit ziemlich unbekannt. Dabei ist die Bildungspolitik ein staatliches Handlungsfeld, von dem Anstöße mit möglicherweise weit greifenden Wirkungen durchaus ausgehen könnten: im Gegensatz zum Problem der Massenarbeitslosigkeit, bei dem mittlerweile jeder begriffen haben müsste, dass die Politik keine Arbeitsplätze schaffen kann. Wunderdinge sind auch von der Bildung nicht zu erwarten, doch können die gesellschaftspolitischen Stellschrauben hier – in einem überwiegend staatlichen Bildungssystem – weitaus präziser und direkter angegriffen werden.
Dieses doppelte Missverhältnis zwischen damals und heute, zwischen Rhetorik und Realität ist umso auffälliger, als die Bildung im Laufe der letzten Jahre geradezu ein Passepartout für gesellschaftliche Problemlagen fast jeglicher Art geworden ist. Erst ging es bei Bildung um Bildung – inzwischen ist Bildung das Mittel zu ganz anderen Zwecken geworden. Es gibt kaum ein soziales Defizit, kaum einen deutschen Reformrückstand, bei dem Bildung nicht als geeigneteste Medizin empfohlen werden müsste. Das schließt die Arbeitslosigkeit mit ein, die Integration von Migranten, die Verhaltensprobleme in sozial schwachen Schichten. Wenn es um die Lösung geht, schaut man die Bildungspolitik an, weil kaum andere Instrumente der Intervention zur Verfügung stehen.
Fast schon in Vergessenheit gerät dabei der originäre Wert der Bildungsinhalte, bei denen Deutschland ausweislich vieler Untersuchungen ins internationale Mittelfeld abgerutscht ist. Die Qualität der Bildung, die Güte der Mathematik- und Fremdsprachenkenntnisse soll ja nicht für irgendwelche Ranglistenfetischisten verbessert werden, sondern weil sich daran Zukunft und Wohlstand einer Gesellschaft entscheidet: nicht abstrakt und irgendwann, sondern sehr konkret, in den individuellen Lebenschancen jedes Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Angesichts eines solchen Erwartungsdrucks müssten die Bildungsminister eigentlich die prominentesten und wichtigsten Kabinettsmitglieder sein. Es könnte durchaus sein, dass die Vielzahl der Anforderungen, die von allen Seiten an die Bildung als vermeintlichen Problemlöser herangetragen wird, der Sache der Bildungspolitik nicht mehr hilfreich ist. Und natürlich spielt der andauernde Kompetenzstreit um die Bildungs- und Wissenschaftspolitik zwischen Bund und Ländern eine Rolle. Nachteilig ist inzwischen nicht mehr so sehr die eine oder andere Variante – seien es mehr Bundes-, seien es mehr Länderkompetenzen. Nachteilig ist das nicht enden wollende Gezerre um diese Kompetenzen, weil es Verantwortlichkeiten weiter in einem Raum des Diffusen hält und originelle politische Initiativen, die dringend nötig wären, lähmt.
Doch wenn man ehrlich ist, reichen die Ursachen der realen Bildungslahmheit trotz bekennender Bildungseuphorie tiefer. Wie ist es um diese Euphorie eigentlich bestellt? Sind Jugendliche, sind Schüler und Studierende, sind Eltern „heiß auf Bildung“, wie man das bei den jungen Erwachsenen aus osteuropäischen oder süd- und ostasiatischen Ländern täglich erleben kann? Wohl kaum. Unter der Oberfläche der Bekenntnisse stößt man vielmehr auf Skepsis, auf Gleichgültigkeit, auf Frustration, und sogar: auf Ängste, ob das Bemühen um mehr und bessere Bildung nicht die eigenen Chancen verschlechtern könnte. Empirische Untersuchungen haben bestätigt, dass begabte und leistungswillige Schüler in Deutschland leichter als anderswo als „Streber“ denunziert werden können. Die Norm ist, sich unauffällig zu verhalten; bloß nicht zu gut, zu ehrgeizig, zu erfolgreich zu sein. Bildung hat hierzulande wenig „Sex-Appeal“. Anders gesagt: Deutschland tut sich schwer damit, sich als eine leistungs- und verdienstorientierte Gesellschaft zu verstehen: „achievement-oriented“ und „merit-based“, wie es im internationalen Jargon heißt.
Ein zweites Grundproblem könnte man gleichfalls auf Englisch kennzeichnen: „The proof of the pudding is in the eating“. Das bezieht sich vor allem auf die finanziellen Ressourcen, die wir in das notleidende Bildungssystem tatsächlich zu investieren bereit sind. Dass Bildungsreform etwas kostet, war schon bei dem institutionellen Ausbau vor einer Generation nicht unbekannt. Jetzt stehen wir vor der Aufgabe der Investition unter erschwerten, restriktiven Bedingungen. Wenn aber das auch im Koalitionsvertrag fixierte Drei-Prozent-Ziel realisiert werden soll, muss Geld in Bildung fließen, und das heißt auch: müssen Präferenzen umgesteuert werden. Es hat sich anscheinend noch nicht herumgesprochen, dass dies jeden einzelnen etwas kosten wird – ganz egal, wie man es rechnet: Eine Verschiebung in den öffentlichen Haushalten bedeutet, dass anderswo gespart wird, also Ausgaben gekürzt werden. Oder man stärkt zu Gunsten der Bildung die Einnahme-seite: vielleicht durch einen Solidaritätszuschlag für die Bildung? Die Alternative dazu ist wiederum, diejenigen auch individuell an den Kosten zu beteiligen, die von den Chancen durch Bildung, etwa als Akademiker, auch individuell und materiell unmittelbar profitieren. Am Ende wird es wohl auf eine Mischung solcher Elemente hinauslaufen, aber im Prinzip ist es wie bei der Gesundheit: Die Illusion, immer mehr für immer weniger Geld zu bekommen, sollten wir uns endlich abschminken.
Wenn diese beiden Grundvoraussetzungen erfüllt sind: die Bereitschaft zur Bildung und die Bereitschaft, dafür auch zu investieren, dann lässt sich viel effektiver über den institutionellen Umbau des Bildungssystems sprechen. Der wäre das Thema für eine eigene Kolumne.
Prof. Dr. PAUL NOLTE, geb. 1963, war von 2001 bis 2005 Professor für Geschichte an der International University Bremen und lehrt seit Juli 2005 als Professor für Zeitgeschichte an der FU Berlin. Jüngste Veröffentlichung: „Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus“ (2006).
Internationale Politik 4, April 2006, S. 84 - 85