Klimawandel, Globalisierung und deutsche Moral
Werkstatt Deutschland
Über die Denkfallen des neuen umweltethischen Rigorismus
In den vergangenen Wochen hat sich in Deutschland ein Klimawandel vollzogen. Die Stimmung erinnert an jene der siebziger Jahre, als die „Grenzen des Wachstums“ plötzlich einen radikal verkürzten Zukunftshorizont der Menschheit verkündeten. Auch damals ging es schon um den Zusammenhang von Energiefragen und Alltagsverhalten; das Bild der „autofreien Sonntage“ hat sich ins kollektive Gedächtnis eingeprägt. Trotz sehr konkreter umweltpolitischer Fortschritte – bleifreies Benzin und Katalysator sind heute selbstverständlich – muss man den damaligen Umgang mit der neuen Herausforderung kritisch sehen. Auf der einen Seite übersetzte sich Panik in Ausstiegsphantasien, in der Praxis aber herrschte zu viel „Weiter so!“, gerade weil sich die moralisch-radikalen Rezepte nicht ohne weiteres verwirklichen ließen. Die Mobilität der Menschen ist seit 1973 nicht zurückgegangen, sondern hat sich vervielfacht. Der Grundkonflikt von damals ist heute wieder auf der Tagesordnung: Wie sind die Folgen einer expandierenden Welt, einer immer dichter werdenden globalen Verflechtung zu bewältigen? Mit einer Abkappung dieser Prozesse, eingebettet in eine hohe Dosis rigoroser moralischer Lebensführung, ist es offenbar nicht getan, jetzt noch weniger als vor 30 Jahren.
Natürlich gibt es einige einfache Antworten, die jeder beherzigen kann: das Auto mal stehen lassen, Energiesparlampen einsetzen. Aber viele der gut gemeinten Ratschläge sind doch bemerkenswert kurz gesprungen. Sollte wirklich jeder, der es ernst mit dem Klimaschutz meint, sein Auto sofort stilllegen? Dürfen wir keine Äpfel aus Chile mehr essen? Oder in Berlin keinen Joghurt mehr aus einer bayerischen Molkerei? Ist der Urlaub in Asien bald verboten oder verpönt? Man kann all diese Fragen sehr ernsthaft stellen, und die Deutschen haben im letzten halben Jahrhundert einen besonders intensiven Hang zum ethischen Rigorismus, zu einer säkularisierten protestantischen Askese in solchen Dingen entwickelt. Allerdings sollte man diese Position, wenn schon, auch konsequent zu Ende denken. Dabei käme unendlich viel Scheinheiligkeit ans Tageslicht. Man kauft die Äpfel vom Hof in der Nähe, und setzt sich am Wochenende mal eben in die Bahn (auch die braucht Strom!) und fährt 500 Kilometer zu Freunden. Tut es nicht auch ein längeres Telefongespräch?
Mit zwei sehr ernsthaften Einwänden muss die neue Verzichtstheorie rechnen. Erstens: Wenn wir uns selber einigeln und einem „Buy-and-live-local“-Prinzip folgen, müssen wir damit rechnen, dass dies auf Gegenseitigkeit gilt. Von den wirtschaftlichen Folgen einmal ganz abgesehen: Um wieviel provinzieller würde die Welt dadurch, einschließlich unserer selbst! Wenn wir keine Produkte aus Übersee mehr importieren, um das Klima zu schonen, sollten wir auch nicht damit rechnen, dass andere unsere Waren kaufen. Letztlich laufen alle Appelle an „home-buying“ auf eine neue Autarkiepolitik hinaus. Sie beruhen auf der Vorstellung von „Nationalökonomien“, die es längst nicht mehr gibt. Das Argument, Unabhängigkeit z.B. von Energielieferungen verschaffe Sicherheit (so Sigmar Gabriel in der Februar-Ausgabe der IP), leuchtet für russisches Gas erst einmal ein. Insgesamt ist es aber trügerisch, ja gefährlich. Es spricht nämlich viel dafür, dass gerade wechselseitige Verflechtungen und Abhängigkeiten die Sicherheit erhöhen, nicht Unabhängigkeit und Autarkie.
Zweitens scheint die Forderung nach dem Konsum- und Mobilitätsverzicht einem falschen Verständnis von „notwendiger“ und „überflüssiger“ Ökonomie zu folgen. Auf das, was nicht wirklich nötig ist, auf das bloß Spaß Verschaffende wie die Fernreise oder den Import exotischer Früchte, könnten wir demnach leicht verzichten, während der Kern von Wirtschaft und Wohlstand davon unberührt bliebe: Die Forderung, das Verschicken von Maschinenteilen per Luftfracht einzustellen, ist ja noch nicht erhoben worden. Die damit unterstellte Trennung zwischen einer „produktiven“ und einer „konsumtiven“ Ökonomie hat es aber nie gegeben, und in der globalen Dienstleistungs-, Wissens- und Konsumgesellschaft ist sie erst recht eine Illusion. Die Produk-tion von Dienstleistungen und Konsumgütern sind nicht nur ein integraler, sondern ein ständig wachsender Bestandteil der Wirtschaft. Denn nicht nur die globale kapitalistische Ökonomie beruht auf Mobilität, und nicht nur die Freizeitindustrie. Beides zu kritisieren ist in Deutschland wohlfeil. Sondern auch kulturelle Innovation und, ja, der gesellschaftspolitische Fortschritt sind unter „Live-local“-Bedingungen nicht zu haben. Neue Familienformen erzeugen Mobilität, ebenso wie die Migration. Einer türkischen Familie werden wir kaum vorhalten wollen, früher hätten die Auswanderer auch nur Briefe an ihre Lieben geschrieben.
Die deutsche Inselromantik des Klimaschutzes zeigt, mit einem Wort, ein erschreckend geringes Verständnis für die Zusammenhänge einer globalisierten Welt. Würden wir die Aufforderung zur radikalen Umstellung unseres Lebensstils ernst nehmen, wäre das Ergebnis nicht ein Paradies der Zufriedenheit, sondern ein katastrophaler Zusammenbruch ökonomischer und sozialer Strukturen. Wir sollten uns nicht der Realität, sondern der Apokalypse verweigern. Der Klimawandel ist schon da und tritt nicht als schreckliches Gottesgericht am 1. Januar 2022 ein. Die Frage ist, wie wir mit ihm umgehen. Diesmal haben wir die Chance, es besser zu machen als vor 30 Jahren.
Prof. Dr. PAUL NOLTE, geb. 1963, war von 2001 bis 2005 Professor für Geschichte an der International University Bremen und lehrt seit Juli 2005 als Professor für Zeitgeschichte an der FU Berlin. Jüngste Veröffentlichung: „Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus“ (2006).
Internationale Politik 4, April 2007, S. 98 - 99.