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01. Nov. 2005

Neue Sicherheit in der riskanten Moderne

Hurrikane, Beben, Rentenreform: Unsicherheit wird zur politischen Aufgabe ersten Ranges

Hat sich die Wirklichkeit verändert oder unsere Wahrnehmung? Jedenfalls beobachten wir gerade eine erschreckende Häufung von Naturkatastrophen und Terroranschlägen – von ebenso gewaltigen wie plötzlichen Einbrüchen in eine Welt der scheinbaren Sicherheit. Vom Tsunami in Südasien über die Terroranschläge in London und die Hurrikane im Süden der USA bis zu dem jüngsten Erdbeben in Kaschmir zieht sich eine Spur der globalen Verunsicherung – von Instabilität und täglichem Terror im Irak ganz zu schweigen. Haben wir uns so das Ende des Kalten Krieges vorgestellt? Immer deutlicher wird: Die Frage der Sicherheit wird auf absehbare Zeit das 21. Jahrhundert beherrschen; die Bearbeitung von Unsicherheit wird zur politischen Aufgabe ersten Ranges.

Dabei entsteht eine neue Gemengelage von Risiken, eine diffuse Struktur der Unsicherheit. Die Zurechnung eines Desasters auf eindeutige Ursachen fällt oft schwer, und in der Bearbeitung der Folgen verschwimmen die Grenzen. Der Fall von New Orleans hat das sehr deutlich vor Augen geführt: War das Naturkatastrophe – oder menschengemachtes Unglück durch Klimaveränderung und unvernünftige Siedlungsweise? Die Bilder glichen denen nach einem gewaltigen Terroranschlag – man hätte sich auch eine Sprengung der Dämme durch Terroristen als neue Anschlagsvariante vorstellen können. Die Konsequenzen jedenfalls unterscheiden sich kaum noch. Risikolagen überlappen sich, durchdringen sich in geradezu osmotischen Strukturen. In der Theorie haben wir das schon gewusst, wie in der klassischen Hypothese vom Absturz eines Flugzeugs auf ein Atomkraftwerk. Jetzt wird diese Theorie, auf unerwartete Weise, Realität.

Und noch eine stabile Grenze verschwimmt, wie erneut das Beispiel der Überschwemmung von New Orleans gezeigt hat: Die bis hierher diskutierten „äußeren“ Risikolagen, die klassischen Gefahren der inneren und äußeren Sicherheit, schwappen in den gesellschaftlichen Binnenraum über, betreffen also noch eine ganz andere, nicht minder zentrale Zone der Sicherheit – die Stabilität des sozialen Binnengefüges. Die Naturkatastrophe trifft eben nicht Arm und Reich gleichermaßen, sondern dramatisiert ohnehin vorhandene soziale Prekarität. In New Orleans spielte sich das auf vier verschiedenen Ebenen ab: erstens hinsichtlich der benachteiligten topographischen Lagen der ärmeren Stadtviertel, zweitens hinsichtlich ihrer prekären baulichen Strukturen, drittens in der Form benachteiligter Mobilität, also als ein Fehlen von „technischen“ Fluchtoptionen, und viertens auch als Fehlen „sozialer“ Fluchtmöglichkeiten, letztlich also: als Fehlen sozialen Kapitals der ärmeren Bevölkerung. Denn es mangelte eben nicht nur am eigenen Auto, sondern auch an Verwandten und Bekannten in Texas, Florida oder New York, die einen schnell in Sicherheit geholt hätten.

Diese Kumulation von Risikolagen bringt uns die prekäre Situation der Zivilisation wieder stärker ins Bewusstsein – jenen globalen Drahtseilakt des menschlichen Lebens, bei dem Europa (noch) ein vergleichsweise gesegnetes Refugium der Sicherheit bildet. Sich dessen bewusst zu werden und Abschied zu nehmen von der Illusion der immer wachsenden und tendenziell stabilen Lebenssicherheit muss nicht einmal ein Nachteil sein. Auf diese Weise könnte es gelingen, den Wert der Sicherheit, die allzu oft für selbstverständlich gehalten wird, wieder kennenzulernen – und ihren Preis.

Es ist wohl kein Zufall, dass auch die Innenpolitik das Thema der Sicherheit neu entdeckt. Der vergangene Bundestagswahlkampf hat mit der Verunsicherung vieler Bürger angesichts wirtschaftlicher Krise und sozialer Reformen gespielt. Die einen haben die Wahl nicht zuletzt deshalb, jedenfalls an ihren Erwartungen gemessen, verloren, weil sie Veränderung angekündigt haben, aber keine neue Sicherheit in der Veränderung anbieten konnten. Die anderen haben besser als erwartet abgeschnitten, weil sie am Ende nur noch Sicherheit versprochen haben, ohne deutlich zu machen, was dann Veränderung noch heißen kann. Auf jeden Fall, das ist die Lehre aus dem 18. September 2005, ist die Frage der Sicherheit auch auf die innen- und gesellschaftspolitische Agenda zurückgekehrt.

Darüber muss man zunächst einmal keineswegs begeistert sein. Denn hat es nicht allenthalben geheißen, die Deutschen müssten nun endlich Abschied von ihren übersteigerten Sicherheitsbedürfnissen nehmen, sich aus ihrem Mangel an Risikobereitschaft lösen? Waren wir nicht gerade dabei, das Denken in den Kategorien der jederzeitigen und vollständigen Absicherung, das allzuoft auf Kosten neuer Dynamik ging, zu überwinden, der „Vollkaskomentalität“ abzuschwören? „Sicherheit“, das ist geradezu eine Leitvokabel im politischen und kulturellen Selbstverständnis der Bundesrepublik gewesen, von den Anfängen bis in die 1980er Jahre, wie der Marburger Historiker Eckart Conze jüngst argumentiert hat. Blickt man auf diese Geschichte, auf die Parallelität von Kaltem Krieg und Sozialstaatsentwicklung, dann ist übrigens auch die Verknüpfung von „äußeren“ und „inneren“ Risiken, wie wir sie jetzt erleben, so neu nicht.

Und es bleibt dabei: Die Deutschen haben das Streben nach Sicherheit oft übersteigert. Sie halten Unbeweglichkeit inzwischen für die beste Garantie von Sicherheit – obwohl auch das längst fraglich geworden ist, wie die Unterhöhlung der Sozialsysteme in der Unbeweglichkeit fehlender Nachhaltigkeit demonstriert. Jedoch heißt das nicht, Sicherheiten über Bord werfen zu müssen. Menschen haben Grundbedürfnisse nach Sicherheit, das ist legitim und notwendig. Gerade die neuen Unsicherheiten aus „heiterem Himmel“ zeigen ja, welch ein hohes Gut die elementare Sicherheit des Lebens ist. Doch gilt es, neue Begriffe von Sicherheit zu entwickeln, neue Wege zur Sicherheit zu finden – und sich über ihren Preis klar zu werden.

Darin liegt eine der größten, und schwierigsten, politischen Aufgaben für die neue Bundesregierung. Es geht nicht mehr darum, Sicherheit gegen Veränderung auszuspielen, den klassischen Kokon gegen das Wagnis der Freiheit. Beide Seiten müssen neue, innovative Verbindungen eingehen – Sicherheit in der Veränderung, Sicherheit in der Freiheit. Vielleicht könnten gerade in einer Großen Koalition beide Seiten lernen, das zu verbinden. Materielle Sicherheit, eine ökonomische Basis der Existenz, die der Staat seinen Bürgern gewährt, gehört auf jeden Fall dazu. Aber neue soziale Sicherheit muss über Transfersicherheit hinausgehen. Sie schließt auch ein, was man eine Sicherheit der Chancen nennen könnte: Wer gut ausgebildet ist, der lebt auch sicherer. Und sie kann auf eine Sicherheit der sozialen Bindungen nicht verzichten. Auch im Herzen Europas, jener Insel der äußeren Sicherheit, wird das Bewusstsein wachsen, dass äußere und soziale Sicherheit auf vielfältige Weise verknüpft sind.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2005, S. 64 - 65

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