Tu’s noch einmal, Ariel!
Der Gaza-Rückzug sollte für Israel als Präzedenzfall dienen; die israelische Gesellschaft wäre bereit
Der israelische Abzug aus Gaza und einigen Siedlungen in der Westbank war ein Erfolg, denn er kann als Präzedenzfall dienen. Für alle, die auf die Entstehung eines palästinensischen Staates neben Israel hoffen, ist das eine gute Nachricht. Trotzdem gibt es keinen Grund für allzu großen Optimismus oder Pessimismus. Weder wird sofort der Frieden ausbrechen, wie manche hoffen, denn Verhandlungen mit den Palästinensern sind vorerst nicht in Sicht. Noch werden Gewalt und Chaos herrschen, wie andere düster prophezeiten. Denn zu viele Unsicherheiten bestimmen das Bild.
In Israel und den palästinensischen Gebieten stehen Wahlen an, die die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für die nächsten Monate in Anspruch nehmen werden. Noch lässt sich nicht sagen, ob Machmud Abbas weiter an der Spitze der Autonomiebehörde regieren kann, ob in Gaza die fundamentalistische Hamas regieren oder das Chaos ausbrechen wird. Wir wissen nicht, wie die Hamas in den für Januar 2006 vorgesehenen Parlamentswahlen abschneiden und wie sich das Wahlergebnis auf die palästinensische und die israelische Politik auswirken wird. Immerhin aber hat die palästinensische Gesellschaft – inklusive der Hamas – gezeigt, dass sie bereit und fähig ist, sich an einen Waffenstillstand zu halten und damit den Rückzug erst zu ermöglichen.
In Israel will Benjamin Netanjahu Ariel Scharon als Vorsitzenden des Likud ablösen. Ungewiss ist also, ob Scharon Likud-Chef oder gar Premierminister bleiben wird. Sollten tatsächlich vorgezogene Wahlen stattfinden, dürfen sie als Gradmesser für den Erfolg des Abzugs gelten. Doch selbst wenn Scharon sein Amt weiter ausüben sollte, lässt sich nicht sagen, mit welchen Parteien er eine Koalition bilden kann, ob er sich für erneute Verhandlungen, weitere unilaterale Rückzüge oder ein ganz anderes Modell entscheidet. Nach dem Rückzug aus Gaza versprach er allen, was sie zu hören wünschten: der Rechten einen Ausbau der Siedlungen in der Westbank und keine weiteren Rückzüge, solange der palästinensische Terror anhält. Die Linke dagegen entnahm seinen Andeutungen, dass nun auch Rückzüge aus weiten Teilen der Westbank (allerdings nicht aus Ost-Jerusalem) möglich seien. Offiziell befürwortet Scharon Gespräche mit der Palästinensischen Autonomiebehörde, wobei er findet, dass nach der Räumung von insgesamt 26 Siedlungen nun die Palästinenser ihre Verpflichtungen aus der Road Map erfüllen und die Infrastruktur des Terrors zerstören müssten. Dennoch bleibt er skeptisch, was weitreichendere Friedensverhandlungen betrifft. Mit etwas Druck von außen dürfte er eher eine weitere Runde unilateraler Rückzüge beschließen.
Sollte Scharon als Premier abgelöst werden, ließe sich der Kurs eines potenziellen Nachfolgers besser voraussagen. Benjamin Netanjahu dürfte sowohl Verhandlungen als auch territoriale Konzessionen rundheraus ablehnen, könnte sich aber schon aus Schwäche in Verhandlungen hineinziehen lassen. Schimon Peres würde Endstatusverhandlungen ohne Vorbedingungen eröffnen. Und Ehud Barak dürfte einen umfassenden Rückzug aus weiten Teilen der Westbank initiieren.
Eine Nahost-Initiative der Regierung Bush ist ebenfalls kaum zu erwarten, zumal wenn sie zu Konfrontationen zwischen Jerusalem und Washington über territoriale Zugeständnisse führen würde.
Internationales Engagement? Ja, bitte!
Ermutigend ist allerdings, was wir wissen: Von einem Rückzug profitieren Israelis und Palästinenser gleichermaßen. Er beendet Israels Herrschaft über ein anderes Volk, dient den demographischen Interessen des jüdischen Staates und transferiert Land und einen Teil der Souveränität an die Palästinenser. Auch Ägypten wurde wieder in eine kooperative Partnerschaft mit Israel und den Palästinensern eingebunden.
Mit Sicherheit war der Rückzug das für Israel positivste Ereignis der letzen fünf Jahre. Er reflektiert einige wesentliche Entwicklungen: mehr denn je nehmen die Israelis die demographische Zeitbombe einer rasant wachsenden palästinensischen Bevölkerung wahr, die den zionistischen Traum eines jüdischen und demokratischen Staates bedroht. Sie zeigen eine größere Bereitschaft, auch unilateral zu handeln und sogar internationales Engagement bei der Vermittlung zwischen Israelis und Palästinensern zu akzeptieren. Die israelische Bevölkerung unterstützte den unilateralen Rückzug mit einer soliden Mehrheit und scheint für weitere Rückzüge gewappnet zu sein. Das gleiche gilt für die anfänglich skeptischen Palästinenser. Die Staatengemeinschaft mit den USA an der Spitze wiederum erklärten sich bereit, beim wirtschaftlichen Aufschwung Gazas zu helfen. Es bleibt zu hoffen, dass die so genannten Geberländer dabei aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben.
Hoffen sollten wir auch, dass Machmud Abbas, der eine Politik der Gewaltlosigkeit verfolgt und beweisen will, dass die Autonomiebehörde sehr wohl in der Lage ist, Gaza vernünftig zu regieren, Terroristen, Extremisten und kriminelle Banden unter Kontrolle bringen kann.
Ohne Zweifel dürfte der Rückzug eine äußerst positive Wirkung auf zukünftige politische Entwicklungen ausüben. Zwei dunkle Wolken jedoch verfinstern den Horizont. Erstens offenbarte er das ganze Ausmaß der Torheit, jüdische Siedlungen auf palästinensischem Gebiet zu errichten. Die Verschwendung an Ressourcen und das Leid, das dieses Unterfangen verursachte, sind einfach niederschmetternd. Zweitens entstand während der letzten dreißig Jahre eine messianische, fundamentalistische Siedlerbewegung, die kontinuierlich an Stärke gewann. Sie mag mit dem Abzug einen Rückschlag erlitten haben. Doch die wesentlich härtere Auseinandersetzung steht noch bevor. Die Siedlerbewegung ist nach wie vor in der Lage, eine größere Gefolgschaft zu mobilisieren, wenn es um Räumungen in der Westbank, der Wiege des Judentums geht.
Die Dimensionen dieser Herausforderung sind Schwindel erregend. Aus Gaza wurden 6000 Siedler evakuiert. Soll ein lebensfähiger palästinensischer Staat entstehen, so wäre die Evakuierung von mindestens 50 000 bis 70 000 Siedlern notwendig. Und nur mit der Entstehung eines palästinensischen Staates wird Israel weiterhin ein jüdischer, demokratischer Staat bleiben können.
Internationale Politik 10, Oktober 2005, S. 104 - 105