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01. Febr. 2009

Islamisten küsst man nicht

Aber reden muss Israel mit ihnen. Schließlich ist die Hamas eine politische Kraft

In Gaza schweigen die Waffen, doch Frieden ist nicht in Sicht. Auch wenn der Feldzug gegen die Hamas unvermeidlich war: Eine Lösung des Konflikts gibt es erst, wenn Israel einige politische Positionen revidiert, die Grenzen nach Gaza öffnet, seinen Einwohnern eine ökonomische Perspektive bietet und Gespräche mit der Hamas nicht länger verneint.

Israels Waffengang gegen die Hamas, zuerst aus der Luft, dann vom Boden aus, diente nach offizieller Sprachregelung einem klaren Zweck: „den Bewohnern im Süden Israels spürbar und dauerhaft mehr Sicherheit zu gewährleisten“. Das tatsächliche Ziel der Operation „Gegossenes Blei“ war freilich umfassender – nämlich die Hamas so empfindlich zu schwächen, dass sie sich einem Waffenstillstand nach Israels Vorstellungen beugt. Die Islamisten sollten zudem davon abgehalten werden, sich durch anhaltenden Waffenschmuggel über die ägyptische Grenze wieder zu bewaffnen. Israels massiver Militärschlag verfolgte demnach zwei taktische Ziele: der Hamas die eigenen Bedingungen aufzuzwingen und Verluste unter den israelischen Bodentruppen zu verhindern.

Die Ausgangslage schien günstig: Der Beginn der Offensive zwischen Weihnachten und Neujahr und noch dazu am Sabbat kam für die Hamas vollkommen überraschend. Die USA unterstützten das Vorgehen, Israels indirekte Friedensgespräche mit Syrien zwangen Damaskus zur Zurückhaltung, ebenso wie die bevorstehenden libanesischen Parlamentswahlen die Hisbollah. Ägypten teilte gar Israels Zorn über die Hamas und gab im Vorfeld wohl seine stillschweigende Zustimmung. Etliche andere arabische Staaten wiederum begrüßten den Angriff gegen Irans Stellvertreter, während Israels politische Öffentlichkeit selbst, ob links wie rechts, die Operation ebenfalls einhellig unterstützte.

Militärisch hatte Israel augenscheinlich keine Alternativen mehr als den Raketenhagel der Hamas zu beantworten. Selbst die ägyptischen Vermittler zwischen Israel und der Hamas teilten die Ansicht, dass sie den Waffenstillstand einseitig gebrochen hatte – und hielten, wie auch die Palästinensische Autonomiebehörde, mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg. Die Hamas schien jedoch davon auszugehen, weiterhin ungestraft Raketen auf Israel abfeuern zu können, während sie im gleichen Atemzug Gaza zu einer Festung ausbaute und Ägyptens Einladung in den Wind schlug, über eine Einheitsregierung mit der Palästinensischen Autonomiebehörde zu verhandeln. Es war, wie Hamas-Führer Khaled Mishaal in Damaskus nach Ausbruch der Kämpfe zugab, das erklärte Ziel der Islamisten, Israel zu provozieren. Von der Härte des Gegenschlags schienen sie gleichwohl völlig überrascht worden zu sein.

Israels Herausforderung bestand darin, anzugreifen, rasche Erfolge zu erzielen und schnell wieder aus Gaza abzuziehen. Weder Verteidigungsminister Ehud Barak noch Generalstabschef Gabi Ashkenazi konnten ein Interesse daran haben, ihre Truppen zu sehr in einen Bodenkampf zu verwickeln, der zu hohen Verlusten unter der israelischen wie palästinensischen Zivilbevölkerung und einer Wiederbesetzung des kompletten Gaza-Streifens geführt hätte. Ebenso wenig war Israels Öffentlichkeit an einer unbefristeten Herrschaft über 1,5 Millionen Palästinenser interessiert. Andererseits schwebte über dieser Auseinandersetzung die Schmach des gescheiterten Libanon-Krieges – aus israelischer Perspektive musste er daher unbedingt mit der Wiedererstarkung seiner Abschreckungskraft gegenüber den Islamisten enden.

Die Kampfhandlungen blieben wochenlang von der Unbeugsamkeit der Hamas gekennzeichnet, die sich trotz enormer Verluste und der humanitären Katastrophe in Gaza nicht geschlagen geben wollte, von der Anteilnahme der arabischen und internationalen Öffentlichkeit, die vor allem Anstoß am Leiden der dortigen Bevölkerung nahm, und von den diplomatischen Anstrengungen unter Federführung Ägyptens, für beide Seiten einen akzeptablen Waffenstillstand auszuhandeln.

Israel reagierte darauf mit zwei parallelen Strategien: Es zeigte sich offen für die diplomatischen Bemühungen um einen Waffenstillstand, selbst wenn Israel nicht davon ausgehen konnte, dass die Hamas diesen auch umsetzen würde. Gleichzeitig hielt es die Option offen, bei einem Scheitern der Verhandlungen militärisch noch intensiver vorzugehen. Israel durfte keinen Zweifel daran lassen, dass es in diesem Fall zu einer vollständigen Besetzung des Gaza-Streifens und der Zerschlagung nicht nur der Infrastruktur, sondern sämtlicher bewaffneter Kader der Hamas bereit war. Drei Wochen nach Kriegsbeginn und dem Einmarsch der israelischen Truppen in Gaza-Stadt schwiegen die Waffen jedoch wieder: Sowohl Israel als auch die Hamas erklärten einen einseitigen Waffenstillstand, während die israelisch-ägyptisch-amerikanischen Bemühungen, den Waffenschmuggel der Hamas zu unterbinden, erste Erfolge zeigten.

Und dennoch: Betrachtet man die jetzige Entwicklung aus dem Blickwinkel von Hamas’ militanter Ideologie, so müssen wir feststellen, dass selbst ein harter Schlag gegen die Islamisten (und die Einwohner von Gaza!) und ihre Isolierung samt Wiederbewaffnungsverbot keine Grundlage für eine langfristige Konfliktlösung sein wird. Ganz im Gegenteil: Israels militärisches Vorgehen schien lediglich die Annahme zu erhärten, dass weder Israel noch Ägypten oder die Palästinensische Autonomiebehörde aus diesem Krieg mit einer durchdachten Strategie hervorgehen, wie sie künftig mit der Herrschaft der Hamas in Gaza umgehen wollen. Dieser strategische blinde Fleck gegenüber der Hamas gilt nicht nur für Israel und dessen Nachbarn; er zeigt sich auch gegenüber der Hisbollah im Libanon. Letztlich betrifft dieses Manko all jene, die gefordert sind, sich mit militanten islamistischen Gruppierungen auseinanderzusetzen, die in „failed regions“ wie Gaza oder Südlibanon ihr Unwesen treiben. Im Schatten des Krieges mögen alternative Optionen utopischer wirken denn je; und doch sollten wir über sie nachdenken, und sei es nur, um die nächste Krise zu verhindern.

Eine Option läge darin, wieder alle Grenzübergänge nach Gaza zu öffen und damit die wirtschaftliche wie humanitäre Geiselhaft der anderthalb Millionen Einwohner des Gaza-Streifens zu beenden. Mit einem solchen Schritt würde die israelische Regierung demonstrieren, dass es in der aktuellen Auseinandersetzung allein um die politische und militärische Führung der Hamas geht. Die Wiedereröffnung der Grenzen war eine Hauptbedingung der Hamas für einen neuen Waffenstillstand. Unter der Führung der Palästinensischen Autonomiebehörde führten Israel und Ägypten in Übereinstimmung mit dem Abkommen von 2005 über den einseitigen Abzug Israels aus Gaza bereits Verhandlungen. Angesichts der verheerenden Wirkung, die eine völlige Abschottung des Gaza-Streifens bedeutet, muss Israel eine Öffnung der Grenzen auch dann in Erwägung ziehen, wenn die Hamas eine Präsenz der Autonomiebehörde ablehnt – zumindest solange auf palästinensischer Seite jemand für Recht und Ordnung sorgt. Die Abriegelung des Gaza-Streifens, die dem Krieg lange vorausging, verarmte dessen Bevölkerung, brachte sie gegen Israel auf, machte sie für die Propaganda der Hamas empfänglich – und führte zur gegenwärtigen humanitären Katastrophe, da es kaum möglich war, Vorräte an Lebensmitteln und Arzneimitteln anzulegen, um eine Notlage zu überbrücken.

Auch Ägypten muss die Grenze öffnen, die über Rafah in die Sinai-Halbinsel führt – allerdings erst dann, wenn dort jeglicher Waffenschmuggel ein überprüfbares Ende findet. Nicht zuletzt werden sich etliche Israelis von ihrem Irrglauben verabschieden müssen, dass die Handelsblockade Gazas Ägypten dazu zwingt, sich um das wirtschaftliche Überleben des Streifens zu kümmern, Gaza mithin also ein „Problem Ägyptens“ wird. Das ist Unsinn: Gaza ist Teil von Palästina, seine wirtschaftliche Zukunft ist untrennbar mit Israel und der West Bank verbunden. Bereits die Debatte darüber schadete den israelisch-ägyptischen Beziehungen. Dabei hat der Krieg mehr als deutlich gemacht, dass Ägyptens Beziehungen zu Israel der Schlüssel für den Umgang mit der Hamas sind. Auf der anderen Seite ist es geradezu alarmierend, dass es nach Jahren israelischer Frustration eines Krieges bedurfte, um Kairo endlich davon zu überzeugen, den Waffenschmuggel der Hamas ernst zu nehmen.

Eine zweite, damit verbundene Option wären direkte Gespräche Israels mit der Hamas. Schließlich hat sie sich in Gaza politisch nun einmal fest etabliert und kann nicht länger ignoriert werden. Das ist nicht einfach: die meisten (aber nicht alle) Angehörigen der Hamas-Führung verweigern den Dialog mit Israel, vor allem jene, die den jüdischen Staat nicht anerkennen und keinen Frieden mit ihm wünschen. Zudem muss Israel aufpassen, auf diese Weise nicht die Führung von Präsident Mahmud Abbas in der West Bank zu untergraben, der Israel anerkennt und die Friedensverhandlungen fortsetzen will. Dennoch sollte diese Option ihren festen Platz auf Israels strategischer Agenda finden, und sei es auch nur durch informelle Kontakte. In Ermangelung einer besseren Alternative könnte Israel notfalls auch das Angebot der Hamas für einen längeren Waffenstillstand ohne Frieden oder Anerkennung in Erwägung ziehen, falls deren Bedingungen noch abgemildert werden können.

Falls sich am Ende keine dieser Optionen als durchführbar erweist und Israels Verletzbarkeit durch den Einschlag der Hamas-Raketen in einem weiteren Radius rund um den Gaza-Streifen zunimmt, könnte Israel tatsächlich gezwungen sein, jene Option zu wählen, die es am meisten fürchtet: die vollständige Wiederbesetzung des Gaza-Streifens mit dem Ziel der militärischen Vernichtung der Hamas. Der Preis wäre immens: Es wären massive Verluste auf beiden Seiten zu befürchten, Israel würde international geächtet werden und überdies wäre es mit einer zeitlich unbegrenzten Besatzung ohne Exitstrategie konfrontiert. Jeder würde Israel dafür verurteilen, selbst wenn moderate sunnitische Führer die vollständige Niederlage eines militanten islamistischen Verbündeten des Iran sicher begrüßen würden.

Niemand jedenfalls würde sich zum heutigen Zeitpunkt anbieten, Israel die Bürde Gaza abzunehmen. Die internationale Gemeinschaft wäre kaum davon zu überzeugen, das Gebiet unter eine gemeinsame Verwaltung zu stellen und sich in die Schusslinie zwischen Israelis und militanter islamistischer Guerilla zu begeben. Und auch die Palästinensische Autonomiebehörde würde sicher kaum einwilligen, in enger Abstimmung, ja Absprache mit Israel nach Gaza zurückzukehren.

Gerade weil Israel über keine belastbare Exitstrategie verfügt, sollte es den Gaza-Streifen je wieder besetzen, hat sich die Hamas immer darauf verlassen, dass Israel nicht wirklich auf diese Option zurückgreift. Den Nahen Osten würde ein solcher Schritt in vielerlei Hinsicht um 40 Jahre zurückwerfen. Israel täte gut daran, alle anderen Optionen zuerst durchzuspielen.

YOSSI ALPHER war Direktor des Jaffee Center for Strategic Studies an der Universität Tel Aviv und ist Mitherausgeber des Portals bitterlemons.org.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2009, S. 50 - 54.

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