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02. März 2018

Teurer Traum

Kataloniens Wunsch nach Unabhängigkeit bedroht die Wirtschaft Spaniens, wenn die Lager nicht endlich den Dialog suchen

Anhaltender Firmenexodus, stockende Investitionen aus dem Ausland, weniger Touristen – der Wunsch nach Unabhängigkeit hat ­Katalonien, der reichsten Region Spaniens, bislang einiges gekostet. Noch viel mehr steht ­allerdings für die Wirtschaft des ganzen Landes auf dem Spiel, wenn die zerstrittenen Lager nicht endlich den Dialog suchen.

Katalonien ist anders als Spanien. Die Region mit ihren 7,4 Millionen Einwohnern besitzt nicht nur eine eigene Sprache und Kultur, sondern hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auch dynamischer entwickelt als der Rest des Landes. Heute trägt Katalonien ein Fünftel zum spanischen Bruttoinlandsprodukt bei. Mit ihren vielen Unternehmen entlang der Mittelmeer-Küste ist die Region der Exportmotor Spaniens und steht für rund 30 Prozent der Ausfuhren des Landes. 2016 erzielte man gar einen Überschuss in der Handels- und Dienstleistungsbilanz von 12 Prozent des BIP. Damit ist die Region für die gesamtspanische Volkswirtschaft unverzichtbar. 

Dass die Katalanen so erfolgreich sind, hat viel mit ihrem Charakter zu tun. Sie gelten als arbeitsam, geschäftstüchtig und diszipliniert und vergleichen sich gerne mit anderen mächtigen Wirtschaftsregionen wie der Lombardei oder ­Baden-Württemberg. Aber auch die Geschichte der Katalanen unterscheidet sich von der Restspaniens. Ihre Region erlebte die industrielle Revolution von Anfang an mit und galt daher lange Zeit als das „kleine England“. Und so bildeten sich hier frühzeitig selbstbewusste Handwerkerzünfte heraus, die auch politische Mitspracherechte forderten. Nicht umsonst tagte in Katalonien das erste Parlament Europas. Ein Übriges tat die geografische Nähe zum alten Kontinent: Wegen seiner strategischen Lage wurde Katalonien in den vergangenen Jahrzehnten dank stetig ausgebauter Infrastrukturen das Tor zu Südeuropa, eine Brücke zu den Maghreb-Ländern und wichtigstes Reiseziel in Spanien. Ab den sechziger Jahren zogen arbeitssuchende Spanier aus strukturschwachen Regionen wie Andalusien oder Extremadura in Scharen nach Katalonien, eine Region, die neben dem Baskenland der wichtigste Industriestandort auf der Iberischen Halbinsel ist. 

Dominierend in der katalanischen Industrie sind der Automobilbau (neben Nissan lassen auch die VW-Töchter Seat und Audi hier fertigen), die Metallverarbeitung sowie der Textil-, Chemie- und Pharmaziesektor. Mehr als 3000 ausländische Unternehmen haben Niederlassungen in Katalonien. Auch bei neuen Technologien sind die katalanischen Firmen Vorreiter. Seit 2006 beherbergt Barcelona den alljährlich stattfindenden Mobile World Congress (MWC), Europas größte Messe für Mobilfunk mit 2400 Ausstellern. 

Bei vielen Wirtschaftsindikatoren hat sich Katalonien der Euro-Zone angenähert und steht besser da als das Mutterland. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von 212 Milliarden Euro liegt die Region genau zwischen Finnland und Dänemark; das Pro-Kopf-Einkommen liegt mit rund 28 000 Euro deutlich über dem Rest von Spanien und etwa gleichauf mit dem EU-Durchschnitt. Auch beim Abbau der Arbeitslosigkeit kommen die Katalanen schneller voran als der Rest des Landes. Ihre Arbeitslosenquote liegt mit 12,5 Prozent mittlerweile fast vier Prozentpunkte unter dem Landesdurchschnitt (16,4 Prozent). 

Katalanen fühlen sich von jeher ausgebeutet

Wenn man katalanische Geschichtsbücher liest, muss die wohlhabende ­Region am Mittelmeer schon seit Jahrhunderten Spanien finanziell unterstützen. Das Übel begann im 17. Jahrhundert, als Katalonien nach dem Ende des Erbfolgekriegs von Kastilien annektiert wurde. Der spanische Monarch Felipe V. entzog den Katalanen ihre rechtliche, steuerliche und juristische Souveränität. Es war das Ende eines eigenen Staates; fortan war es den Katalanen auch untersagt, ihre eigene Sprache zu sprechen, und es wurden neue Steuern eingeführt. Damit wurden die Ausgaben für das „Besatzungsheer“ bestritten. Damals begann nach Ansicht vieler Unabhängigkeitsbefürworter der „expolio“, die Ausbeutung, denn die gesamten Steuereinnahmen wurden nach Madrid überführt und nur ein Bruchteil floss in die Region zurück.

Der als ungerecht empfundene Finanzausgleich zwischen den autonomen Regionen des Landes ist bis zum heutigen Tage erhalten geblieben. Nach Schätzungen des proseparatistischen Unternehmerverbands Cercle Català de ­Negocis (CCN) beläuft sich der „Solidaritätsbeitrag“ der Katalanen mit dem Rest Spaniens auf über 16 Milliarden Euro pro Jahr. Das entspräche etwa 8 Prozent des Bruttosozialprodukts der Region und läge damit weit über den vergleichbaren empfohlenen Obergrenzen in Deutschland (4 Prozent) oder den Vereinigten Staaten (2,5 Prozent).  

Seit Monaten hält die Katalonien-Krise ganz Spanien und Europa in Atem, denn seit dem illegalen Referendum über die Unabhängigkeit am 1. Oktober ist nichts mehr so, wie es war. Doch der Streit ums Geld begann früher, nämlich im Jahr 2008. Damals wurde Spanien nach zehn Jahren rasanten Wachstums von einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise erfasst und die Katalanen wurden seinerzeit überproportional zur Kasse gebeten. „Wir sollten die Schulden der Spanier zahlen, die Zeche für ein ausschweifendes Fest, zu dem wir nie geladen waren“, sagt Albert Pont, katalanischer Diplomat und Vizepräsident des CCN, nicht ohne eine gewisse Verbitterung. Doch die Klagen der Katalanen fanden in Madrid wenig Gehör; stattdessen warf man ihnen Geiz und mangelnde Solidarität mit den übrigen Spaniern vor. 

Das war nicht neu. Schon Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Madrider Presse die katalanischen Industriellen als „Raubvögel“ bezeichnet, die sich an ihren Landsleuten bereicherten. Neu war aber im vergangenen Jahr die Reaktion in Katalonien, wo die Regierung von Ministerpräsident Carles Puig­demont den Abspaltungsprozess in die Wege leitete. Er versprach den Bürgern, dass nach der Gründung eines eigenen Staates das Pro-Kopf-Einkommen der Katalanen um bis zu 8 Prozent steigen würde. Auch auf den internationalen Finanzmärkten würde Katalonien besser dastehen als das Mutterland. Denn mit einer Schuldenquote von nur rund 30 Prozent des BIP könnte die Bonität Kataloniens ähnlich der anderer großer Industriestaaten (zwischen AA und AAA) sein und damit deutlich über dem Rating Spaniens liegen (BBB+).

Selbst ein drohender Ausschluss aus der Europäischen Union machte ihm keine Sorgen. Die EU könne auf ein so wichtiges Land wie Katalonien nicht verzichten, versprach die Regionalregierung ihren Landsleuten. Verschwiegen wurde aber, dass die Trennung von Spanien zumindest vorläufig den Austritt aus dem EU-Binnenmarkt, dem Schengen-Abkommen und der Euro-Zone mit sich bringen würde. Hinzu käme im Falle eines „Katalexit“, dass die Region einen Teil der spanischen Staatsschulden, derzeit etwa 1,1 Billionen Euro, schultern müsste. Falls Katalonien anteilsmäßig zu seiner Wirtschaftsleistung herangezogen würde, stiege die Verschuldung der Region mit einem Schlag von derzeit 77 Milliarden auf etwa 280 Milliarden Euro.  

Rückgang bei Konsum, Tourismus und Immobilien 

Schon jetzt sind die wirtschaftlichen Folgen des so genannten „Procès“ spürbar. Im vierten Quartal 2017 ist der Konjunkturmotor in Katalonien ins Stottern geraten. Nach ersten Schätzungen der unabhängigen Finanzaufsicht ­AIReF wuchs die katalanische Wirtschaft nur noch halb so viel wie die gesamtspanische. Dort glaubt man auch, dass das BIP 2018 stagnieren oder gar schrumpfen werde, wenn der Konflikt anhalten sollte. Aus Angst vor der unsicheren Rechtslage haben zahlreiche spanische Unternehmen seit vergangenem Oktober ihren Firmensitz in andere Regionen des Landes verlegt. Die Zahl ist mittlerweile auf 3208 gestiegen. Auch viele ausländische Firmen, wie der Versicherungskonzern Allianz oder sein französischer Rivale Axa, haben Katalonien den Rücken gekehrt. Die Umzugswelle brachten seinerzeit die beiden katalanischen Kreditinstitute CaixaBank und Sabadell in Gang, besorgt, weil ihre Kunden nach dem Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober ihr Geld abzogen und die Depots auflösten. Nur mit einem Wegzug konnten die Banken ihre Kunden beruhigen, denn nun blieben sie weiterhin unter dem Schirm des europäischen Einlagensicherungsfonds. Diejenigen Firmen, die bislang geblieben sind, müssen befürchten, von den spanischen Abnehmern boykottiert zu werden. 

Zu den Unternehmen, die dieses Risiko in Kauf genommen haben, gehört die Freixenet-Gruppe, Spaniens größter Schaumweinhersteller. Deren Chef, José Luis Bonet, ist das gewohnt. Immer wenn das Thema Unabhängigkeit in die Schlagzeilen kommt, lassen die spanischen Kunden außerhalb von Katalonien seine Sektflaschen in den Regalen stehen. Aus der Not macht Bonet, der sich von Anfang an klar gegen eine Abspaltung Kataloniens ausgesprochen hat, eine Tugend. Denn mittlerweile verkauft er mehr als 80 Prozent seiner Produktion im Ausland. „Business as usual“ meldet man auch bei der VW-Tochter Seat, die in ihrem Werk Martorell vor den Toren der katalanischen Hauptstadt 14 500 Beschäftigte hat und wo 2017 fast 460 000 Fahrzeuge vom Band liefen. Dennoch weiß man bei der VW-Tochter, dass die Zugehörigkeit zu Europa unabdingbar ist, denn dorthin gehen 85 Prozent der Produktion. Im Falle eines Ausschlusses aus der Europäischen Union würden plötzlich anfallende Zölle die Wettbewerbsfähigkeit des Autobauers deutlich schmälern. 

Auch wenn bei den Exportunternehmen der Absatz noch brummt, hat die instabile politische Lage bereits auf die katalanische Wirtschaft übergegriffen. Die Auslandsinvestitionen fielen im dritten Quartal 2017 um 75 Prozent, von mehr als zwei Milliarden auf 519 Millionen Euro. Es war der schlechteste Wert seit 2012, dem Jahr, in dem Spanien noch in einer großen Wirtschaftskrise steckte. Die größten Verwerfungen gibt es bisher auf dem Immobilienmarkt, in der Tourismusbranche und beim Konsum. Das bekommt vor allem die Metropole Barcelona zu spüren. Während Spanien mit über 80 Millionen Besuchern im vergangenen Jahr einen neuen Tourismusrekord erzielte, meldete Katalonien gegen Jahresende auch sinkende Besucherzahlen; allein zwischen Oktober und November kamen 96 000 Gäste weniger aus dem Ausland. Dabei ist der Tourismus mit einem Umsatz von jährlich 25 Milliarden Euro und rund 400 000 Beschäftigten einer der wichtigsten Wirtschaftszweige der Region. Der katalanische Hoteldachverband wies bereits darauf hin, dass aufgrund der instabilen politischen Lage die Hotelpreise im Oktober und November um fast 20 Prozent fielen. 

Auch im Immobiliensektor gingen die Investitionen 2017 laut der Immobilienberatungsgesellschaft CBRE um 17 Prozent auf 2,1 Milliarden Euro zurück. Und nicht zuletzt meldete der Einzelhandel eine rückläufige Konsumbereitschaft, weil die Kunden Kaufentscheidungen vor sich herschöben. 

Auch Spanien leidet unter der Katalonien-Krise  

Das Finanzkontrollgremium AIReF warnte bereits davor, dass sich das Wirtschaftswachstum in Katalonien im letzten Quartal 2017 von ursprünglich angepeilten 0,9 auf 0,5 Prozent verlangsamt haben dürfte. Die Bank von Spanien schätzt den entstandenen Schaden auf mindestens drei Milliarden Euro. Falls sich die Krise bis 2019 hinziehen würde, drohten ganz Spanien sinkende Wachstumsraten und in Katalonien könnte es zu einer Rezession kommen. Den dann zu erwartenden Schaden bezifferte die Notenbank auf bis zu 27 Milliarden Euro, das entspräche 2,5 Prozent des spanischen BIP. Das Mutterland würde bei einer „Scheidung“ mit einem Schlag 20 Prozent der Wirtschaftsleistung verlieren und das rasante Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre würde sich deutlich abschwächen. Schon jetzt hat die Regierung von Ministerpräsident Mariano Rajoy die Wachstumsprognosen für das laufende Jahr von ursprünglich 2,6 auf 2,3 Prozent gesenkt.

Für Katalonien ist das Dilemma noch größer. Zwar würde die Region keine Steuern mehr an Madrid überweisen, doch der wirtschaftliche Schaden wäre nach einer Abspaltung viel größer. Der Massenexodus von Firmen würde sich beschleunigen und durch die Verlegung von Produktionsstätten würden Arbeitsplätze verloren gehen. Auch der Außenhandel mit der EU geriete in Mitleidenschaft. Das kleine Land am Mittelmeer würde damit schnell in eine Rezession stürzen.

Ute Müller ist Spanien-Korrespon-dentin der WELT-­Gruppe und der Neuen Zürcher Zeitung.

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Bibliografische Angaben

IP Wirtschaft 1, März - Juni 2018, S. 16 - 20

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