Spanien hat die Wahl
Das ehemalige Zwei-Parteien-System ist in Bewegung geraten
Die Autobahn von Madrid nach Barcelona ist ein gutes Beispiel für den innerspanischen Kulturkampf, der im Wahljahr 2015 besonders heftig tobt. Auf der rund 600 Kilometer langen Strecke ist in den vergangenen Jahren ein veri-tabler „Fahnenwettstreit“ -entbrannt. Egal ob an Raststätten, Tankstellen, Hotels und sogar entlang landwirtschaftlicher Stallungen und Getreidespeicher – überall flattern viel mehr -Fahnen als früher.
Die ersten 350 Kilometer bis hinter Saragossa sind in regelmäßigen Abständen mit der spanischen Nationalflagge gesäumt. Mit ihrem rot--gelben Farbschema steht sie seit 240 Jahren für den ungebrochenen Stolz der einstigen Eroberernation. Doch kurz vor Lérida (Lleída, wie es auf dem Autobahnschildern heißt) ändert sich das Bild. Ab jetzt dominiert die Senyera, die die Selbstständigkeit des katalanischen Volkes, das über Jahrhunderte eine eigene -Sprache und Kultur bewahrt hat, symbolisieren soll. Sogar an schwer zugänglichen Felswänden befestigten Kletterer die katalanische Flagge mit ihren vier roten Streifen, wohl als Zeichen dafür, dass man sich durch nichts einschüchtern lassen will.
So verwundert es nicht, dass sich die Stimmung vor den Regionalwahlen in Katalonien am 27. September weiter auflud. Da die Landesregierung in Barcelona sie zum Plebiszit für die Unabhängigkeit erklärt hatte, wurden andere Themen wie die Flüchtlingskrise oder der nur zögerlich einsetzende Aufschwung der Wirtschaft in den Hintergrund gedrängt.
Schon Ende August warnte Luis Ventoso, stellvertretender Chef-redakteur der konservativen Tages-zeitung ABC, die in Madrid herausgegeben wird, dass ein unabhängiges Katalonien zunächst einmal aus der Europäischen Union ausgeschlossen werde. In seiner Kolumne (31. August) stimmte er der These des früheren sozialistischen Ministerpräsidenten Felipe González (1982 bis 1996) bei, dass ein unabhängiges Katalonien alle Privilegien eines EU-Staates verlieren würde und -Gefahr liefe, international isoliert und zum Albanien des 21. Jahrhunderts zu werden.
So befand denn auch die liberale Zeitung El Mundo einen Tag vor der Abstimmung, dass diese Wahlen die wichtigsten seit der Einführung der Demokratie in Spanien seien. Es gehe hier nicht nur um die Zusammensetzung des neuen Parlaments, sondern um die Zukunft Kataloniens und des übrigen Spanien unter dem Damoklesschwert der Unabhängigkeit. Am schlimmsten habe sich der katalanische Ministerpräsident Artur Mas in der Unabhängigkeitsdebatte benommen, indem er das Land spaltete und Töne anschlug, die an den Spanischen Bürgerkrieg erinnerten. Mas wolle sich ein Mandat besorgen, um die Unabhängigkeit der Region über die Köpfe der übrigen Spanier hinweg zu proklamieren. Damit stelle er sich aber über das Gesetz und vergesse dabei, dass nur darüber abgestimmt wird, wer in Zukunft Katalonien regiert, so El Mundo (26. September).
Als der Separatistenblock beim Urnengang 72 der 135 Sitze im Parlament erzielte, jedoch die absolute Mehrheit bei den Stimmen verfehlte, fielen die Reaktionen sehr unterschiedlich aus. In Madrid atmete man am 28. September erleichtert auf. „Mas hat sein Ziel nicht erreicht“, hieß es bei der rechtskonservativen La Razón, „Katalonien will sich nicht abspalten“ befand ABC, „die Mehrheit der Katalanen sagt Nein zur Unabhängigkeit“ jubelte El Mundo.
Nur die linksliberale Zeitung El País überlies den Lesern die Schlussfolgerung: „Die Separatisten gewinnen die Wahlen, aber verlieren ihr Plebiszit.“ Das Wahlergebnis müsse die Regierung in Madrid hell-hörig -machen, zumal die Wahlbeteiligung mit 77 Prozent auf Rekordhöhe lag, hieß es im Leitartikel von El País (28. September). Ministerpräsident Mariano Rajoy müsse sich jetzt endlich um Dialog bemühen und eigene Lösungsvorschläge für die festgefahrene Situation präsentieren. Immerhin hätten die Separatisten genügend Mandate, um mit ihrer auf die Unabhängigkeit gerichteten Politik weiterzumachen.
Ein bitterer Sieg
Ähnlich argumentierte am Tag nach den Wahlen auch die größte katala-nische Tageszeitung La Vanguardia in Barcelona. Das liberale Blatt forderte einen sofortigen Dialog zwischen den Streithähnen, zumal das Kräfteverhältnis zwischen Gegnern und Befürwortern der Unabhängigkeit sehr ausgewogen gewesen sei. Die zweitgrößte katalanische Tageszeitung El Periódico sprach angesichts der verfehlten Mehrheit bei den Stimmen von einem „bitteren Sieg“ und warnte die Unabhängigkeitsbefürworter vor allzu großem Optimismus. Die bei einem Plebiszit erforderliche Mehrheit sei verfehlt worden; daher würde Europa das Wahlergebnis keinesfalls als Freibrief anerkennen, um einen Loslösungsprozess in Gang zu bringen. Lediglich einige Regionalblätter reagierten kämpferisch, wie beispielsweise Punt d’Avui, wo es „Auf Wiedersehen Spanien“ hieß.
Frei nach dem Motto „Nach den Wahlen ist vor den Wahlen“ beschäftigten sich die Medien auch mit den Auswirkungen des katalanischen Urnengangs auf die spanischen Parlamentswahlen am 20. Dezember. Für Ministerpräsident Mariano Rajoy braue sich der perfekte Sturm zusammen, befand die Kommentatorin Isabel Benjumea in El Mundo (9. Oktober). Die nächsten Wahlen werden nicht leicht sein für die konservative Regierungspartei, denn in Katalonien brachte sie es nur auf Platz fünf. Die Partido Popular habe nach allen Seiten hin Wähler verloren, unterstrich Benjumea. Die Korruption und fehlende Gradlinigkeit bei gesellschaftlichen Reformen hätten ein Übriges getan. „Wenn die PP bei den Wahlen nicht ein völliges Debakel erleben will, muss sie mit einer neuen Mannschaft antreten“, so Benjumeas Schlussfolgerung.
Erfolg für die Ciudadanos
Die auflagenstärkste Tageszeitung El País hingegen beschäftigte sich weniger mit dem Wahldebakel der Volkspartei, sondern mit dem heimlichen Gewinner der katalanischen Regionalwahlen, dem jungen liberalen Albert Rivera und seiner Partei Ciudadanos (zu deutsch: Bürger). Bei den Regionalwahlen brachte es Ciudadanos auf 25 Sitze und überholte damit sowohl die Volkspartei als auch die Sozialisten. Dieser Quantensprung böte Albert Rivera nun die Möglichkeit zu beweisen, dass seine Partei keinesfalls eine Modeerscheinung ist, sondern sich bei den nächsten Wahlen als eine echte Alternative zur Regierung präsentieren könne, so El País (5. Oktober).
Tatsächlich hat sich Ciudadanos – eine Partei, die vor acht Jahren in Katalonien gegründet wurde und sich die Bekämpfung der grassierenden Korruption auf die Fahnen geschrieben hat – dieses Jahr durchweg wacker geschlagen. Sie konnte bei allen Wahlen zulegen, sei es in Andalusien im März, bei den Kommunal- und Regionalwahlen im Mai sowie jetzt in Katalonien.
Für El País ist Ciudadanos nun der perfekte Koalitionspartner sowohl für die Volkspartei als auch für die Sozialisten. Die neue Partei hat ihre Wendigkeit bereits unter Beweis gestellt: In Andalusien ist sie Mehrheitsbeschafferin für die Sozialisten, in Madrid hingegen für die seit Jahrzehnten regierenden Konservativen. Doch laut El País sollte Rivera größere Ambitionen haben, als sich mit der Rolle des Juniorpartners in einer Koalition zu begnügen. Wenn es ihm gelänge, noch mehr Stimmen bei den Jungwählern und Politikverdrossenen zu holen, dann könnte er eine echte Alternative zu Spaniens’ beiden großen Parteien bieten.
Rückschläge für Podemos
Casimiro García-Abadillo, der im -April abgesetzte Chefredakteur von El Mundo, sieht einen Zusammenhang zwischen dem kometenhaften Aufstieg von Albert Rivera und den Rückschlägen, die Spaniens linke Protestpartei Podemos (zu deutsch: wir können) bei den Wahlen in Katalonien einstecken musste. Eigentlich hatte die Partei, die aus der Protest-bewegung gegen die Sparpolitik im Jahr 2011 hervorging, lange Zeit die Rolle inne, die Ciudadanos jetzt übernommen hat.
Podemos war die erste politische Kraft, die das Ende des festgefahrenen Zwei-Parteien-Systems in Spanien einläutete. Die ehemaligen „Empörten“ mussten allerdings in Katalo-nien kräftig Federn lassen und teilen sich mit elf Abgeordneten den fünften Platz mit der Volkspartei. Das lag laut El Mundo (9. Oktober) freilich auch am Spitzenkandidaten Luis Rabell, der sich beim Thema Unabhängigkeit nicht festlegen wollte. An den Urnen wurde Podemos dafür bestraft. Ruhm sei eben vergänglich, urteilte García-Abadillo.
Vor einem Jahr stand Podemos in den landesweiten Meinungsumfragen noch an erster Stelle. Damals hatte Podemos-Chef Pablo Iglesias nicht nur die konservative Regierung und oppositionellen Sozialisten, sondern auch die Anleger und die Rating-agentur Moody’s eingeschüchtert, schreibt -Lucía Méndez, Kolumnistin von El Mundo (10. Oktober). Viele seiner Forderungen seien von den anderen Parteien aufgegriffen worden; Pablo Iglesias wirke bei seinen Auftritten nicht mehr elektrisierend, sondern eher -melancholisch.
Hoffnung für die Konservativen
Für das konservative Lager Spaniens, insbesondere für Ministerpräsident Mariano Rajoy, folgten auf das Fiasko in Katalonien dann aber doch noch gute Nachrichten. Der Wahlsieg seines portugiesischen Amtskollegen, Pedro Passos Coelho, am 4. Oktober gab Rajoy Auftrieb. „Das Wahlergebnis ist Balsam für die Volkspartei“, befand El País am 5. Oktober. Dies sei das erste Mal in Europa, dass die Wähler eines europäischen Landes die orthodoxe Sparpolitik nicht ab-straften. El Mundo äußerte sich ähnlich. Jetzt seien diejenigen bloßgestellt, die dachten, dass die Sparmaßnahmen jegliche Aussichten einer Regierungspartei auf einen Wahlsieg zunichte machen.
Die Lage in Portugal ist eins zu eins auf Spanien übertragbar. In beiden Ländern hat eine Mitte-rechts-Regierung mit absoluter Mehrheit im Parlament in den vergangenen vier Jahren der Bevölkerung große Opfer abverlangt. In beiden Länden sanken die Popularitätswerte der konservativen Regierungschefs stets auf neue Tiefstwerte, bis erste Anzeichen für eine wirtschaftliche Erholung einsetzten.
Aus diesem Grund sei es verständlich, dass Rajoy die Parlamentswahlen so spät angesetzt habe, nämlich erst zu Beginn der Weihnachtsferien am 20. Dezember, heißt es im Leitartikel von El País am 3. Oktober. Hauptgrund sei wohl die Hoffnung, dass der Aufschwung bis Weihnachten an Fahrt gewonnen habe. Allerdings, so das Blatt abschließend, wäre es besser gewesen, die Wahlen eher einzuberufen, um mit einer handlungsfähigen Regierung gegen das Risiko einer Abspaltung Kataloniens vorgehen zu können.
Ute Müller lebt in Madrid und -berichtet für die Welt-Gruppe aus Spanien und Portugal.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2015, S. 124-127