Porträt

01. Jan. 2021

Portugals Sonnyboy

Den schwierigen Spagat, Brüssels Spardogma auszuhebeln und sein Land gleichzeitig aus der Krise zu führen, hat António Costa gemeistert. Nun wartet mit der EU-Ratspräsidentschaft die nächste Bewährungsprobe auf Europas beliebtesten Sozialisten.

Portugals Ministerpräsident nimmt nur selten ein Blatt vor den Mund. Unvergessen sein Auftritt zu Beginn der Corona-Krise, als António Luis Santos da Costa den holländischen Finanzminister Wopke Hoekstra in die Mangel nahm. Der Niederländer hatte gefordert, Kredite aus dem Krisenfonds für EU-Südstaaten wie Spanien oder Italien an harte Bedingungen zu knüpfen, schließlich hätten diese Länder offenbar nicht genügend Lehren aus der Finanzkrise gezogen. Als „abstoßend“ bezeichnete der Portugiese diese Forderung; sie widerspräche dem Geist der Europäischen Union. Kein Land habe das Virus erfunden, auch Spanien nicht. Hoekstra kapitulierte vor dem temperamentvollen Politiker und entschuldigte sich für einige seiner Äußerungen.



Es war ein kleiner Sieg für Costa, dessen Land ab Januar die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Costa wurde im Jahr 1961 geboren und kann väterlicherseits indische Brahmanen im Stammbaum vorweisen. Sein Vater, der Kommunist Orlando Antonio da Costa, wuchs in der portugiesischen Ex-Kolonie Goa auf. Er war Dichter; seine Bücher waren unter der Salazar-Diktatur (1933 bis 1974) in Portugal verboten, er saß sogar zeitweise im Gefängnis. Costas Mutter, Maria Antónia Palla, war Journalistin und Gewerkschaftlerin.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass der heutige Generalsekretär der Partido Socialista (PS) schon mit 14 Jahren der sozialistischen Jugendorganisation in Portugal beitrat. Das war im Jahr 1975, unmittelbar nach der Nelkenrevolution, die im ganzen Land einen grundlegenden politischen und gesellschaftlichen Wandel einleitete.



Nach einem Jurastudium an der Lissabonner Universität begann ein schneller Aufstieg in der Politik. Costa wurde Abgeordneter, organisierte die Präsidentschaftskampagne seines Parteigenossen Jorge Sampaio und wurde im Alter von nur 36 Jahren Minister. Er sei eigentlich nur zufällig in der Politik gelandet, behauptet Costa gerne im Kreis von Freunden. Die vergangenen 20 Jahre habe er nicht geplant, die kommenden 20 auch nicht, schrieb Costa 2012 im Vorwort seiner Text- und Redensammlung „Caminho aberto“.



„Gandhi von Lissabon“

Nicht alle würden dem zustimmen. Die bekannte Journalistin São José Alameida von der portugiesischen Tageszeitung Publico sagt, Costa sei vor allem ein gewiefter Taktiker und Stratege. Als 2007 die Krise auch in Portugal anklopfte und schwere Jahre auf die Regierung von José Sócrates zukamen, wich Costa in die Kommunalpolitik aus. Im selben Jahr noch wurde er zum Bürgermeister von Lissabon gewählt.



Rasch setzte der neue Bürgermeister Akzente in einer Stadt, deren Einwohnerzahl seit 1980 kontinuierlich gesunken war. Dank eines ehrgeizigen Stadterneuerungsprogramms konnte dieser Trend gestoppt werden. Was die Portugiesen besonders an Costa zu schätzen lernten, waren seine Bescheidenheit und die Tatsache, dass er immer den Kontakt zu den einfachen Menschen suchte. „Er grüßte jeden, kannte auch uns alle beim Namen und war extrem hilfsbereit“, erinnert sich die frühere spanische Portugal-Korrespondentin Belén Rodríguez. Seine Beliebtheit als Bürgermeister ging damals so weit, dass ihn einige Medien als „Gandhi von Lissabon“ bezeichneten, eine Anspielung auf die indischen Wurzeln.



Doch 2015, inmitten seiner dritten Amtszeit als Bürgermeister, bot sich dann die Chance auf ein Comeback in die Landespolitik. Für die Parlamentswahlen trat Costa als Spitzenkandidat der Sozialistischen Partei an. Der damals amtierende Konservative Pedro Passos Coelho gewann die Wahlen, verfehlte aber die absolute Mehrheit und konnte für seine Regierungspolitik nicht genügend Verbündete finden.



Costa nutzte die Zerstrittenheit im konservativen Lager aus. Er brachte die Kommunisten und den Linksblock BE hinter sich, um Passos Coelho nach nur zwei Wochen im Amt mit einem Misstrauensantrag zu stürzen. Costa wurde der erste Ministerpräsident seit der Nelkenrevolution, dem es gelang, an die Macht zu kommen, ohne dass seine Partei die meisten Stimmen bei den Parlamentswahlen erhalten hatte.



Die konservativen Medien beäugten den Linksruck in Portugal voller Misstrauen und warnten vor einem neuen Griechenland an der Westflanke Europas. Costas politische Gegner bezeichneten seine Koalition als „geringonça“ (Wackelbau), der binnen eines Jahres Neuwahlen erforderlich machen würde. Doch Costa konnte sich halten, indem er die beiden Linksparteien, die zuvor für den Austritt aus dem Euro plädiert hatten, für seinen moderateren Kurs gewann.



Der pragmatische Portugiese

Außerordentlich wendig zeigte sich Costa auch beim Umgang mit Brüssel. Zähneknirschend erfüllte er zwar die Auflagen der Troika (Europäische Zentralbank, EU-Kommission und Internationaler Währungsfonds), die dem Land einen rigiden Sparkurs vorgeschrieben hatten, nachdem Portugal 2011 unter den EU-Rettungsschirm schlüpfen musste. Gleichzeitig aber erhöhte die Regierung den Mindestlohn sowie die Renten und die Gehälter der Beamten, um die Kaufkraft zu stärken und die Nachfrage anzukurbeln. Die Rechnung ging auf, der Sozialist milderte den Sparkurs ab, ohne die Haushaltskonsolidierung zu gefährden.



Im Ausland fand der pragmatische Portugiese Anerkennung. Plötzlich war vom portugiesischen Wirtschaftswunder die Rede. Angesichts der Fortschritte bei der Haushaltskonsolidierung und der überzeugenden Konjunkturbelebung stellte die EU-Kommission das 2009 eingeleitete Defizitverfahren gegen Portugal ein. 2017 lag das Wirtschaftswachstum wieder bei 2,8 Prozent und die Arbeitslosigkeit sank deutlich unter die 10-Prozent-Marke.



Sozialistische und sozialdemokratische Parteien in ganz Europa gratulierten Costa, dass er es mit seiner Linksregierung geschafft hatte, das Brüsseler Spardogma auszuhebeln. Die New York Times, der französische Figaro und die Financial Times stimmten ebenfalls in das Loblied ein. Sogar in Indien wurde der Premier stolz als der „einzige Regierungschef Europas mit indischen Wurzeln“ gefeiert.



Als sich Costa im Oktober 2019 zur Wiederwahl stellte, verfehlte er zwar die absolute Mehrheit, konnte aber den Stimmenanteil der Sozialisten auf fast 37 Prozent ausbauen. Alles lief glänzend, bis die Corona-Pandemie kam. Denn nun war Costa gezwungen, den Portugiesen schwere Opfer abzuverlangen. Plötzlich war auch die gute Laune des stets lächelnden Politikers dahin, der wegen seiner positiven Lebenseinstellung vom Tagesspiegel den Spitznamen „Sonnyboy der europäischen Politik“ erhalten hatte.



Sein Temperament ging mit ihm durch, als er eine Gruppe von Ärzten als Feiglinge beschimpfte, weil sie bei einem lokalen Corona-Ausbruch offenbar nicht energisch genug durchgriffen. Der Wutanfall sorgte für einen politischen Sturm und zwang Costa dazu, sich am Ende bei den Ärzten zu entschuldigen.



Doch diese unglückliche Episode dürfte mit der Übernahme des Vorsitzes im Rat der Europäischen Union in Vergessenheit geraten sein, wenn Costa sein übliches Verhandlungsgeschick unter Beweis stellen kann. Dann steht einer glänzenden Zukunft nichts mehr im Weg.



Portugiesische Ministerpräsidenten werden stets hoch gehandelt, wenn es um die Besetzung wichtiger internationaler Ämter geht. So leitete der ehemalige portugiesische Ministerpräsident José Manuel Durão Barroso fast zwölf Jahre die EU-Kommission, und Amtsvorgänger António Guterres, in dessen Kabinett Costa unter anderem als Justizminister diente, ist schon seit vier Jahren Generalsekretär der Vereinten Nationen. Vermutlich weiß António Costa, anders als er in seinem Buch behauptet, sehr wohl, was er sich von den kommenden 20 Jahren erhofft.



Ute Müller berichtet seit 27 Jahren als Korrespondentin für deutschsprachige Medien aus Madrid, lange für die Welt und nun für die Neue Zürcher Zeitung.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar-Februar 2021, S. 9-11

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