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01. März 2005

Terror und Tabu

Kultur

Der Fundamentalismus ist nicht zu verstehen ohne eine kritische Geschichte des Westens

Hunderte junger Menschen besuchen jeden Tag die RAF-Ausstellung in Berlin. Sie studieren die Zeitungsausschnitte und Videos, von der Studentenbewegung bis zum RAF-Terror, vom Schuss auf Benno Ohnesorg bis zur Ermordung Detlev Rohwedders. Was suchen sie? Am Ende von Margarethe von Trottas Film „Die Bleierne Zeit“ fragt Gudrun Ensslins Sohn die Frau, bei der er aufwächst, was seine Mutter getan habe, und warum. Sie entgegnet ihm: Ich werde es dir erzählen, wenn du größer bist. Soweit ich kann. Und er unterbricht sie: „Nein. Alles.“

Alles. Vollständige Aufklärung über die Taten der Eltern, ihre Gefühle, auch die heute versteckten, erloschenen, verurteilten. Über die Prügel, mit denen sie aufgezogen wurden und die Einöden des Schweigens, die aus der Nazi-Zeit wuchsen. Über ihre Angst vor einer neuen Gestalt des Faschismus. Über die Parteiausschlüsse nach Godesberg und das Massaker von My-Lai, das 14 Tage vor dem Kaufhausbrand von Frankfurt lag. Über die Frankfurter Schule und das, was in einer Pfarrerstochter vorging, die in drei Jahren vom SPD-Wahlkämpfer zur Terroristin wurde. Über alles das wäre zu reden, wollte man die RAF als Teil eines Generationenschicksals innerhalb der deutschen Geschichte verorten.

Aus dem Hamburger Institut für Sozialforschung kommt, zeitgleich zur Ausstellung, eine Deutung, die der RAF-Geschichte diesen Platz im Kontinuum der deutschen Geschichte verweigert („Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF“; siehe auch das Reemtsma-Interview in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 13.2.2005). Es sei intellektuell zumindest problematisch, schreibt Jan Philipp Reemtsma, den Terrorismus aus den politischen Motiven, sozialen Wahrnehmungen, moralischen Impulsen der Täter zu erklären.

Diese Verweigerung des Verstehenwollens ist erstaunlich, denn Reemtsma ist überzeugt, dass der Terror nicht aufhören wird. Der Konsumkapitalismus erfordere einen Zustand der Dauerjugendlichkeit, in dem die narzisstischen Exzesse und die Absolutheit der Adoleszenz immer wieder Gewalt produzieren würden. Die Faszination durch terroristische Lebensentwürfe verdanke sich dem „Phantasma unentfremdeten Lebens“, das alle ergreife, die der „Komplexität modernen Lebens“, dem Auseinanderfallen von Moral und Politik, dem „Druck der Vereinzelung“ nicht gewachsen seien. Wer sich nicht „an die bürgerliche Gesellschaft einigermaßen anpassen“ und sein Bedürfnis nach „Authentizität“ in den „Autonomiemasken“ der Kulturindustrie ausleben könne, der gerate in die Gefahr, in die „Solidarität respektive Kameradschaft“ paranoider Kleingruppen zu flüchten, die für solche bleiben, „die das bürgerliche Leben nicht aushalten, weil es sie überfordert“. Wer jenseits des Konsumangebots „rollenunabhängiger Rollen“ und „massenhafter Distinktionsmöglichkeiten“ (vulgo: Video und Nike unten; Kunst oben) nach „authentischen Lebensformen“ suche und diese nicht in der Meditation findet, wird zum „Gefahrenproduzenten“. Und Theoretiker, die der „Verführung zur Hermeneutik“ der Gefahrenursachen erlägen, gerieten in die Nähe der „Soziopathie“ der Mörder. Mehr noch: Sie seien „feige“, weil sie die Morde der Terroristen verurteilen, aber deren radikale Kritik und Leiden an den Zuständen teilen. Sie sind auch „verrückt“ in ihrem Insistieren auf „unentfremdetem Leben“, nur handlungsgehemmt – Gefahrenquellen am Schreibtisch.

Diese Erweiterung des Gewalttabus zu einem Tabu, die Gründe der Gewalt zu kritisieren, ist ein Akt intellektueller Selbstbeschneidung. Gefährlich ist er dazu: In der Lesart der Hamburger Sozialforscher ist die Brutalisierung der RAF-Terroristen die „Vorwegnahme der Trash-Talkshows“ unserer Tage, Gudrun Ensslin der Typus der „begabten Sekretärin“, die von illusionären „großen Aufgaben träumt“, ihr Mann ein Minderbegabter mit zuviel Ehrgeiz, Baader ein halbschwuler, arbeitsscheuer Asozialer – aber genau das sind die Sozialbiographien, die der totale Kapitalismus gegenwärtig zu hunderttausenden erzeugt, wenn auch eher rechts als links. „Der Terror wird den modernen Staat begleiten“ – das ist beängstigend. Beängstigender aber ist eine intellektuelle Verarbeitung, die Aggressive, Hasserfüllte und Ausgestiegene nicht mehr als – an ihm oder in ihm verzweifelte – Bewohner unseres ökonomischen, sozialen und moralischen Universums versteht, sondern nur noch als zwangsläufige Ausfallprodukte der Moderne abschreibt, als „desparate Gestalten“, die Destruktivität „gewählt“ haben, oder noch kürzer: die „böse“ sind und (wie im Fall der NPD) „gemeine“ und „bösartige“ Regungen wie Neid hinter Leerformeln wie „soziale Gerechtigkeit“ verbergen.

Eine Vermutung liegt nahe: Solche voraus eilenden intellektuellen Ausschlussmechanismen reagieren darauf, dass fundamentale Kritik am „System“, etwa mit moralischen Kategorien wie sozialer oder historischer Gerechtigkeit, demnächst zu gefährlichen Zuspitzungen führen kann. Aber wenn der Versuch, sozial Gescheiterte, abstrakte und deshalb mörderische Moralisten zu verstehen – auch als politische Subjekte, auch als Mitbürger – bereits in die Nähe des Legitimierungsverdachts gerät, dann verleugnen wir die dunklen Kehrseiten unserer Zivilisation als das „schlechthin Böse“– ob nun im Fundamentalismus von Al-Qaida, RAF und NPD oder im individuellen Amok. Dann können wir nur noch ausgrenzen oder verdrängen oder töten. Damit hätten wir auf einige Zeit unsere Haut und unsere Ruhe gerettet, aber um einen hohen Preis: die Verletzung unserer Fähigkeit zur Selbstkritik.

Jeder Verstoß gegen das Gewalttabu muss mit Gewalt beantwortet werden. Aber wenn Politik darauf verzichtet, die Gründe zu thematisieren, die Gewalt hervorbringen, dann verschafft sie ihr nur Dauer. Jüngst ist Jürgen Habermas vorgeworfen worden, er rechtfertige den „kulturellen Protest“ von Fundamentalisten gegen die „liberale Welt“, weil diese Habermas zufolge nur „Marktfreiheit und entleerenden Säkularismus“ anbiete und im Übrigen die Verhältnisse mit geschaffen habe, in denen der Terror wurzelt. Damit aber, so die Kritik, verbreite er inmitten des Krieges gegen einen „tödlichen Feind“ das „Gift der antiwestlichen westlichen Kritik“. Er kenne kein Außen mehr, aus dem die „tödliche Bedrohung“ komme.

Die Intellektuellen haben, so sagte es Artur Koestler, „nothing to loose but their brains“. Es gibt kein „Außen“ mehr. Die Komplexität, vor der wir stehen, ist die des Verhältnisses von beschleunigter Modernisierung und wachsenden Gruppen von Modernisierungsverlierern oder -unwilligen; oder auch: die Komplexität von (prekärer) Komplexität und eigensinnigen Beständen an Tradition und Moral. Der Fundamentalismus ist nicht zu verstehen ohne eine kritische Geschichte des Westens, und die RAF nicht ohne die der deutschen Geschichte. Verstehen ist nicht rechtfertigen, und eine freie Gesellschaft lernt am meisten von denen, die sie nicht aushalten.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2005, S. 96 - 97.

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