Credo quia absurdum
Kultur
In seinem Buch „Beschleunigung“ entwirft der Jenenser Soziologe Hartmut Rosa eine Theorie der destruktiven Dynamik des Projekts Moderne
Abt Tetzels Ablasszettel, so haben wir es gelernt, markierten den Anfang vom Ende der katholischen Hegemonie. Das Seelenheil verheißende Finanzpapier erlebt gerade seine Renaissance, als Innovation im Verschmutzungshandel: als Ablass für den kleinen Gewissensbiss zwischendurch. Umweltminister und Abteilungsleiter fahren weiterhin BMW – aber sie zahlen ein Euro-Äquivalent der CO2-Sünde als Buße. Aus unseren Steuergeldern. Die Zivilgesellschaft salviert sich selbstzahlend: Ferntouristen und Vielfahrer können sich ihre Klima-Missetat ausrechnen lassen, und, auf Euro und Cent berechnet, an Klimaschutzprojekte überweisen.
Seelenheil salviert, aber ans Dogma rührt das alles nicht: Klimaschutz und Wachstum seien kompatibel, lautete die erste Reaktion der Kanzlerin auf den Alarmgipfel von Paris, und die zweite, dass sie nicht an ein Tempolimit denke. „Klimawandel bedroht Weltwirtschaft“ schrillen die apokalyptischen Schlagzeilen der neoliberalen Kardinäle, nicht umgekehrt. Credo quia absurdum, ich glaube es, weil es absurd ist.
In jener Zeit, so werden Historiker in 500 Jahren sagen, paarte sich die Torheit der Herrschenden mit einem Phänomen zwanghafter kollektiver Sündhaftigkeit. Jeder – Unternehmer, Konsument, Spekulant und Politiker, Autofahrer und Ingenieur – „jeder, der sich auf dem kapitalistischen Markt bewegt, fühlte sich für sein Überleben zu etwas gezwungen, das er jenseits des Marktes niemals anstreben würde“. In seinem großen systematischen Entwurf „Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne“ (Suhrkamp 2005) rekonstruiert der Jenenser Soziologe Hartmut Rosa, was jeder fühlt: Hinter dem Rasen der Produktion, des Weltverbrauchs, des Lebenstempos, der Zunahme von Containerschiffen und Gadgets, hinter den Massenentlassungen, hinter Kindernervosität und Erwachsenendepression steckt ein weltumgreifender Furor, den keine Gegenkraft mehr aufhalten kann.
Die Beschleunigungen von Ökonomie, Politik, Kultur und Leben, so zeigt es Rosas großer Bogen, verstärken sich wechselseitig. Demokratische Verfahren sind zu zeitraubend, um die Akkumulationsdynamik zu steuern. Die Gesellschaft, konfrontiert mit einer Politik, die immer zu spät kommt, verliert „ihren Charakter als politisch zu gestaltendes Projekt“. Zukunftslose Bürger optimieren individuell ihre Optionen, nähren so den Konsumismus und untergraben Gesellschaftlichkeit immer weiter. Die Verflüssigung der biographischen Zeit, die Verschleifung der Generationen in der Mühle konstanter Innovation lässt einen neuen Typ Mensch entstehen, der keine Nötigung zur Bindung an Orte und Gruppen mehr sieht, der nicht mit Rebellion, sondern mit Depression reagiert. Appelle an Individuen, ihren Lebensstil zu ändern, wirken nur kurz und rühren nicht an den Gang des Ganzen.
Rosa spitzt scharf zu, aber seine Theorie gründet auf schwer bestreitbaren Trends und alltäglichen Welterfahrungen. Seine Analyse führt in vier mögliche Ausgänge. Erstens: Die Politik schafft es, die destruktive Dynamik mit dem politischen Projekt der Moderne – Demokratie und Sozialstaat – neu und stabil zu synchronisieren (unwahrscheinlich). Zweitens: Die Menschen passen sich der Beschleunigung an, mutieren anthropologisch (wirft alle unsere Vorstellungen von Individuum und Gesellschaft über den Haufen). Drittens: eine vom europäischen Menschenbild getragene plötzliche „Entschleunigung“ auf ein „humanverträgliches Maß“ (wer sollte ihr Träger sein?). Schließlich viertens, und für Rosa am wahrscheinlichsten: „das ungebremste Weiterlaufen“, mit den Stationen nuklearer oder klimatischer Katastrophen, sich rasend ausbreitender Seuchen, neuer Formen des politischen Zusammenbruchs, Revolten der Ausgeschlossenen. Rosas Buch schließt mit der Aufforderung an den werten Leser, nach einer fünften Möglichkeit zu suchen.
Ende der Theorie. In der Praxis ändern Gesellschaften ihren Aggregatszustand nicht so säuberlich wie in soziologischen Schemata. Die Antwort der frühbürgerlichen Welt auf unerträgliche Machtausübung, obsolet gewordene Dogmen und irritierende Unsicherheit war zunächst das unkoordinierte Wachsen von Inseln des Neuen inmitten der krisenhaften alten Welt. Umwälzende Techniken, freie Städte, ketzerische Abweichungen vom Dogma, regionale Bewegungen, grundstürzendes, schnell verbreitetes Wissen. Erst als diese Inseln erstarkten und an Zahl wuchsen, mutierten Staatstheorien zu politischen Parolen, wuchs der geistige Überbau der Reformation.
Irgendwann und allerorten geschah es dann sehr plötzlich, dass die Menschen die Ablasszettel anders lasen: als den Versuch der alten Eliten, durch Scheingeschäfte mit der Zukunft des Volkes ihre Schulden zu begleichen und neue Kathedralen wachsen zu lassen. In dieser Situation erst wirkte der Thesenanschlag von Wittenberg.
Auch unser Jahrhundert ist auf der Suche nach einem neuen Glauben, einer neuen Weltverfassung und einer neuen Art des Wachstums. Das wird noch spannend, und spannender als der Blick auf die großen Arenen ist einstweilen die Wahrnehmung – und die Gründung von kleinen Inseln des Neuen – aber vor allem darf man historische Analogien nicht überstrapazieren.
Internationale Politik 3, März 2007, S. 104 - 105.
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