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01. Okt. 2007

Kunst in Zeiten des Klimawandels

Kultur

Erfahrungen statt Symbole: Tino Sehgal inszeniert kommunikative Experimente

Ein Quader aus Schnee steht im Eis. Sein Rauminhalt beträgt 0,54 m3 – das Volumen eines Sarges. Oder eines Kilogramms CO2. „Wir hätten 4000 Schneesärge bauen müssen, um den durchschnittlichen CO2-Verbrauch der Erdbewohner darzustellen, 10 000 für unseren und das doppelte für den der Amerikaner“, sagen die beiden Bildhauer. Zusammen mit Fotografen, Schriftstellern, Tänzern und Klimaforschern haben sie eine Expedition in die Arktis unternommen. Die Resultate sind in der Ausstellung „Burning Ice“ zu sehen: das Video einer schwangeren Frau, die über schwarzen Schnee läuft; die Taufe einer Insel, die aus schmelzendem Eis auftaucht; Toncollagen von berstenden Gletschern; Gemälde von hermaphroditischen Eisbären – Spurenelemente von Feuerschutzchemikalien sind bis Grönland gelangt und haben die Mutation verursacht.

Die Künstler haben das getan, was Künstler tun können: Sie haben Symbole produziert. Ihre Bilder sind originell, aber das Ganze ist auch – veraltet. Die dramatischen Prognosen des UN-Klimarats IPCC sind tief ins öffentliche Bewusstsein eingedrungen, die politischen Maschinen verarbeiten die Hiobsbotschaften, wenn auch gebremst von Lobbys, Parteikonkurrenz und heiligen Gewohnheiten. Es kommt etwas in Bewegung, bis hin zu Angela Merkels unerhörtem – weil radikal universalistischem – Vorschlag, jedem Erdenbürger das gleiche Volumen an Wohlstand und Verschmutzung zuzurechnen. Aber nicht deshalb wirken die Bemühungen der Künstler überholt. Auch wenn ihre Bilder den Klimawandel auf ungleich höherem Niveau als die Trivialikonen verarbeiten, etwa die Fotomontage von Leonardo DiCaprio mit Baby Knut auf einer schmelzenden Eisscholle: Sie verdoppeln nur, was wir schon wissen. Ihre emotionale Gewalt steht in einem krassen Missverhältnis zur Größe ihres Gegenstands. Die apokalyptischen Weltdeutungen Breughels, Boschs, Grünewalds mochten ihre Zeitgenossen erschrecken, die heutigen sind durch ein Jahrhundert profaner Bilderschwemme imprägniert gegen Schrecken und Rührung. Aber – kann die Kunst mehr als das, und dabei „Kunst“ bleiben?

„Die nachbürgerliche Welt (wird) die Kunst aus der feierlichen Isolierung befreien, welche die Frucht der Emanzipation der Kultur vom Kultus, ihrer Erhebung zum Religionsersatz war“, schrieb Thomas Mann nach der letzten Weltkatastrophe. Diese hohe Kunst werde „zum Aussterben allein sein, es sei denn, sie fände den Weg zu den Massen. (...) Die Zukunft wird in ihr – sie selbst wird in sich die Dienerin sehen an einer Gemeinschaft, die weit mehr als ‚Bildung‘ umfassen, und Kultur nicht haben, vielleicht aber dergleichen sein wird.“ Ein Jahrhundert lang haben sich diverse Avantgarden abgemüht, die Grenzen der „Kunst“ zu überschreiten, haben Provokation ausgeteilt, sind auf die Plätze gegangen und dabei doch in den Grenzen des Symbolisierens und der stellvertretenden Aktion geblieben. Sicher, man kann von der Kunst nicht erwarten, was die Politik nicht leistet. Aber was kann das heißen: eine Rückkehr aus der Isolation in das Leben einer „gebildeten Gemeinschaft“?

Das Umweltbundesamt in Dessau hat sich in diesem Jahr die Skulptur „This this“ des Choreographen und Ökonomen Tino Sehgal ausgeliehen. Und die sieht so aus: Jeden Morgen holt ein Mitarbeiter des Amtes einen Schüler aus dem Unterricht und verbringt mit ihm den Tag. Sie durchstreifen die Behörde, lesen Zeitung, reden. Mittags essen sie in der Kantine – ein elfjähriger Mahner unter 400 beamteten Zukunftsgestaltern. Dann übernimmt der Schüler die Regie, zeigt dem Beamten, was ihm im Leben wichtig ist: Computer, Sportplatz, was auch immer. All dies ohne Zeugen, ohne Fotos, ein Kunstwerk ohne einen Gramm Materialverbrauch. In Hamburg zeigte Sehgal die Arbeit „This progress“: Den Besucher fragt ein Kind am Eingang des Museums:„Was ist Fortschritt?“, und lockt ihn in Räume, in denen vier Menschen aus vier Lebensaltern das Thema variieren. Am Ende wird er von einem Greis „ins Leben entlassen“, mit Gedanken über den Fortschritt und einem sinnlichen Schock über das Vergehen seiner Lebenszeit. In London holte Sehgal Kinder ins Museum und stellte ihnen unter dem Titel „This success – this failure“ die Aufgabe, einen Vormittag miteinander zu spielen, ohne Gegenstände.

Nicht Wirklichkeit zu deuten oder zu symbolisieren, sondern Erfahrungen zu inszenieren ist die Kunst Tino Sehgals. Seine Arbeiten sind konsequent besessen von der Idee nichtmateriellen Wachstums. Es sind kommunikative Experimente, so nahe an verändernder Lebenspraxis, wie Kunst nur kommen kann. „Auf der Ebene der Zeichen kann man rumfuchteln, so lange man will. Das ändert gar nichts. Es zählt nur, was man tut.“ Sehgals Situationen sind aufstörende kleine Vorgriffe auf eine Zivilisation, deren Wachstum eines der zwischenmenschlichen Beziehungen sein wird, Initiationen in die „größte Veränderung, die es für die Menschheit je gegeben hat“: die „beängstigende Auf-gabe, sich selbst zu beschäftigen“ (John Maynard Keynes). Und zugleich eine Kunst, die uns an die jahrzehntelangen und nur vorübergehend inaktuellen Kämpfe zur Verringerung der Arbeitszeit erinnert. Eine Kunst, deren Verallgemeinerung ein politisches Kunststück wäre – weit teurer als die Maßnahmen zur Klimakontrolle: Dort stehen 2,8 Milliarden im Voranschlag, während auch nur ein skandinavisches Niveau unserer Bildungseinrichtungen 40 Milliarden mehr pro Jahr kosten würde. Es zählt nur, was man tut.

MATHIAS GREFFRATH, geb.1945, ist Soziologe und Journalist. Er war Chefredakteur der Wochenpost und schreibt für die ZEIT, taz, Süddeutsche Zeitung und ARD. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen „Montaigne heute“ (1999) und „Attac“ (2002).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2007, S. 116 - 117.

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