Stille Tage in der Calle Ocho
Seit Jahrzehnten ist das immer gleiche Mantra zu hören: Schuld an Kubas ökonomischer Misere seien das US-Embargo und „die“ kubanischen Exilanten in Miami. Die scheint man immer noch für eine homogene Masse Zigarre paffender Oligarchen zu halten, die nach einem Ende des Castro-Regimes flugs wieder auf ihre Latifundien zurückkehren und dem Sozialstaat den Garaus machen würden. Die Alternative zu Castro wäre also feudale Regression.
Die alte Exilanten-Generation mag längst auf den idyllischen Friedhöfen Floridas liegen. Doch ein Verweis auf die sichtbare kubano-amerikanische Präsenz im Finanzdistrikt Miamis genügt, um das Schreckgespenst eines dollarstarken „militärisch-industriellen Komplexes“ auch heute noch zu beschwören. Dabei plädiert die Mehrheit der Exil-Kubaner (deren größter Teil in den USA geboren wurde) für eine Lockerung der Sanktionen; Geldüberweisungen und Hilfspakete des „Miami-Exils“ sichern Kubas Bevölkerung seit Jahrzehnten das Überleben.
Wer in diesen Tagen durch Miamis 8th Street, die als „Little Havanna“ berühmte „Calle Ocho“ streift, wird in Cafés und Geschäften jedoch vor allem nicaraguanisches und venezolanisches Personal finden: eine gänzlich neue Generation von Flüchtlingen, die vor autoritärer Misswirtschaft geflohen sind. In einem winzigen Park spielen muntere Greise Domino und fügen sich dabei klaglos einer Regelwut, die sich am Parkeingang mit einem Verbotsschild für öffentliches Rauchen und Trinken bemerkbar macht. Auch das ist eine lebensweltliche Relativierung einer weiteren Dämonisierung, die vor einigen Jahren der konservative Samuel P. Huntington betrieben hatte: Er beschrieb Miami als unregierbare, nach hispanischem Korruptionsmuster umgemodelte Stadt. Ähnlich hatten damals auch Linksliberale wie Joan Didion und Susan Sontags Sohn David Rieff argumentiert: Miami befände sich im Würgegriff von Anti-Castro-Rechtsextremisten wie Orlando Bosch und Jorge Mas Canosa, die der ebenfalls kubanischstämmige Bürgermeister Xavier Suarez stillschweigend gewähren ließe.
Inzwischen aber weilen der ehemalige Terrorist Bosch wie der autoritäre Exilführer Mas Canosa längst nicht mehr auf dieser Welt. Und den einst von Suarez senior betriebenen Stimmenkauf kann sich dessen Sohn kaum leisten. Ohnehin schleppt sich die Kampagne für die Bürgermeisterwahl im November dahin. Amtsinhaber Tomás Regalado und Herausforderer Francis Suarez streiten sich manierlich über Sachfragen.
„Das ist das Wunderbare an der amerikanischen Demokratie: Selbst die größten Hitzköpfe respektieren irgendwann die Regeln und halten abweichende Meinungen nicht mehr für Hochverrat.“ Carlos Alberto Montaner weiß, wovon er spricht. 1943 in Havanna geboren, nach kurzer Haft 1961 geflohen, ist er seit Jahrzehnten der exilkubanische Intellektuelle schlechthin – präsent in spanisch- und englischsprachigen Zeitungen und Talkshows. Er hat zahlreiche Bücher geschrieben, von denen ihm besonders der mit Alvaro Vargas Llosa verfasste „Guide to the Perfect Latin American Idiot“ den treuen Hass des Castro-Regimes und seiner intellektuellen Sympathisanten eingebracht hat. Aber auch die Hardliner im Exil hatten den überzeugten Liberalen wegen seiner Präferenz für eine kubanische „Transición“ nach spanischem Vorbild als „Verräter“ gebrandmarkt.
Davon ist keine Rede mehr. Doch auch die Hoffnung eines evolutionären Regime Change hat sich verflüchtigt. „Wenn Fidel stirbt, könnte der pragmatischere Raúl zur flexibleren Machtsicherung das vietnamesische Modell von Privatwirtschaft plus politischer Repression ausprobieren oder auch das nicaraguanische Sandinisten-Vorbild kopieren: Man erlaubt freie Wahlen, aber behält die Macht über die Armee, die gleichzeitig ihre wirtschaftlichen Pfründe wahrt.“
Dass hingegen die kubanische Exilgemeinschaft viel heterogener wurde, das sei nicht zuletzt durch jene Anfang der neunziger Jahre eingetroffenen Immigranten zustande gekommen, die Castro vor allem aus ökonomischen Gründen hinauskomplimentiert hatte, darunter unzählige freigesetzte Geheimdienstmitarbeiter. Eine neue Fünfte Kolonne? Montaner lächelt. „Nicht in jedem Fall. Die meisten wurden Teil der kubanischen Exilcommunity und gehören inzwischen zur unteren Mittelschicht. Auch das zeigt die trotz aller Krisen funktionierende Bindekraft des amerikanischen Modells.“ Er schaltet dann, um die frohe Botschaft ein wenig zu konterkarieren, einen vom venezolanischen Erdölunternehmen CITGO finanzierten Sender ein, der zwei Stunden täglich seine Frequenz an hiesige Pro-Castro-Journalisten vermietet. Und da sind sie wieder, die altbekannten Kampfbegriffe für den Klassenfeind: „Saboteure, Ver-räter, Würmer, CIA-Söldner, Agenten des Imperialismus, Schwuchteln, Volksfeinde“. Das Regime in Havanna ist kein Jota moderater geworden. Das viel gescholtene „Miami-Exil“ aber ist derart ausdifferenziert, dass es sogar solche Rabulistik toleriert. Ein Pluralismus, von dem Kubaner auf der Insel nur träumen können.
Marko Martin lebt als freier Autor in Berlin. Soeben ist sein neuestes Buch erschienen: „Die Nacht von San Salvador.
Ein Fahrtenbuch“ (Andere Bibliothek).
Internationale Politik 5, September/Oktober 2013, S. 132-133