Stell dir vor, es gibt Europa und keiner macht mit
Eine persönliche Betrachtung über die ethnozentrische Ignoranz vieler Europäer
Meine Wut ist groß. Nicht auf die, die mit Nein gestimmt haben; ich habe großen Respekt vor dem Ergebnis. Aber auf diejenigen, die, zumal in Frankreich, verantwortungslos mit diesem Referendum und damit mit Europa umgegangen sind, das zum Gegenstand intriganter Ränkespielchen wurde.
Auf Laurent Fabius, der auf dem „Non“ dem sozialistischen Ticket für die Präsidentschaftskandidatur entgegensegeln wollte und Europa mithin seinen persönlichen Ambitionen unterstellt hat. Wie soll ich das meinen Kindern später einmal erklären, wenn jetzt alles implodiert? Dass Europa an den Eitelkeiten einzelner Herren gescheitert ist? Auf Jacques Chirac, der aus genau diesem Grund das Referendum dazu benutzen wollte, die französische Linke zu spalten – was ihm auch gelungen ist. Und auch darauf, dass er sich auf seine Fernsehsendung zur EU-Verfassung mit den Jugendlichen nicht anständig vorbereitet hat. „Il plonge l’Europe depuis dix ans“ („Er versenkt Europa seit zehn Jahren“), sagte eine französische Freundin kürzlich . Ach, wenn nur Jacques Delors 1995 französischer Präsident geworden wäre!
Auf Giscard d’Estaing, der entgegen mannigfacher Warnungen im Präsidium des Verfassungskonvents den komplizierten dritten Teil dieser Verfassung nicht aus dem Text nehmen wollte. Auf den niederländischen Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende und seine Parteikollegen, die sich überhaupt keine Mühe gemacht haben. Dabei war doch gerade die letzte niederländische Ratspräsidentschaft schwerpunktmäßig dem Thema „Europa, Zivilgesellschaft und Kommunikation“ gewidmet. Auf die ganze Fahrlässigkeit und das geballte Desinteresse, mit dem ein großer Teil des politischen Establishments, aber auch Medien und Wirtschaft mit dem Thema Europa umgehen, und damit irgendwie, so will mir scheinen, den Ast absägen, auf dem wir alle sitzen. Auch hierzulande. Frei nach dem Motto: Deutschland macht Dosenpfand, aber Brüssel ist bürokratisch!
Und auf Tony Blair und viele andere Briten, die jetzt, wenn nicht den europäischen Todesstoß, dann zumindest den Sieg des „britischen Europas“ feiern. Ich will kein britisches Europa. Auch kein französisches oder deutsches. Das sind die falschen Vokabeln.
Mich beschleicht das ungute Gefühl, dass wir wieder über das Ob der europäischen Integration diskutieren, und nicht nur über das Wie. Dass viele zur Verfassung Nein gesagt haben, aber eigentlich Maastricht meinten. Sind wir einer kantianisch inspirierten Utopie hinterhergejagt? Woher kommt es nur, dieses Faszinosum Nationalstaat, woher bezieht es sein Gewicht? Wo doch alle übereinstimmen, dass kleine, aber auch große Staaten in einer globalisierten Welt nicht mehr ausreichend Regelungskapazität haben und daher nicht viel ausrichten können, während Europa gerade da gut und stark ist, wo es supranational organisiert ist. Warum ist es dann so schwer, über seinen nationalen Schatten zu springen? Mit der europäischen Integration, scheint mir, sind wir eben wegen dieser vermeintlich nationalen Interessen immer wieder zu kurz gesprungen: Man will auf halber Strecke lieber zurück an das rettende Ufer, statt das gegenüberliegende Ufer anzustreben, das vielleicht viel lohnender ist. Heute erinnert die EU an einen alten Wagen, der Formel 1 fahren soll. Man erwartet das Unmögliche, ohne dass die EU in die Lage versetzt würde zu liefern. Bestes Beispiel: die Lissabonner Agenda. Die EU soll das Wirtschaftswachstum fördern und Arbeitsplätze schaffen, um den EU-Raum zur führenden Wissensgesellschaft zu machen, aber quasi ohne Zuständigkeit und Geld. Durch Herbeibeten also wohl.
Ich hätte gerne mehr Ehrlichkeit in der Debatte: Entweder verlangt man etwas von der EU, dann muss sie auch die Mittel und Instrumente bekommen. Oder man darf nichts von der EU einfordern, wenn man meint, national gehe alles besser.
Wahrscheinlich will die französische Jugend Europa gerade darum nicht mehr. Weil sie dieses Küchentheater durchschaut hat. Europäisch reden, national handeln und damit Zukunft aufs Spiel setzen. Es ist meine Hoffnung, dass die jugendlichen Nein-Sager ihre Politiker abgestraft haben, weil sie die EU nicht richtig und konsequent bauen und diese daher nicht richtig funktioniert. Aber vielleicht irre ich mich. Vielleicht haben sie das Bauen insgesamt satt. Ich habe lange Zeit gedacht, Europa sei eine Art Generationenprojekt, man müsse nur noch zehn Jahre warten, bis die nationalen Haudegen vom Schlage eines Le Pen gleichsam aus dem politischen System herausgewachsen und dann alle europäisch sind. Es stimmt aber nicht (mehr), trotz Erasmus und Easy-Jet. Europa ist alt, und seine Gegnerschaft jung. Die einzige Altersgruppe, die in Frankreich mit Ja gestimmt hat, waren die über 57-Jährigen. Die Altersgruppen 18–24 und 25–40 lagen sogar über den durchschnittlichen 55 Prozent Ablehnung.
Letztens habe ich mit Jugendlichen diskutiert, die im Rahmen des Europäischen Jugendparlaments in Berlin waren. Das Jugendparlament umfasste die Balkan-Staaten und die Ukraine und hat damit diversen europäischen Erweiterungsschüben schon vorgegriffen. Es ging um die Zukunft Europas, und ich war erschrocken. Erschrocken über den ethnozentrischen Fokus dieser 20-Jährigen aus Kosovo, Albanien oder Serbien. Oder aus Zypern, Griechenland und der Türkei. Ich dachte, ich sei im falschen Film. So ähnlich wurde bestimmt schon im Jahr 1920 diskutiert. Aber kann man ihnen vorwerfen, nicht supranational zu denken, wenn man 1985 im Kosovo geboren wurde und seine Kindheit im Krieg verbracht hat? Anders als ihre französischen Altersgenossen erwarteten diese Jugendlichen ihr Heil aber trotzdem von der EU. Ohne EU keine Zukunft versus keine Zukunft wegen EU. Die einen erhoffen sehnsüchtig Visa und Zugang zu europäischen Universitäten; die anderen sind verunsichert. Werden diese 20-Jährigen zusammenkommen in dem gemeinsamen Wunsch, eine starke Europäische Union zu bauen?
Überhaupt: Warum ist die EU für einen großen Teil der (west-)europäischen Jugendlichen ein Synonym für das Weltwirtschaftsforum in Davos, obwohl mich vieles an europäischer Gesetzgebung und an EU-Ratsbeschlüssen eher an die Diktion des Gegenforums von Porto Alegre erinnert? Wenn wir es ernst meinen mit Europa, dann müssen wir mit Europa ehrlicher umgehen, dann darf Brüssel nicht mehr der Sündenbock für alles sein. Und wir müssen darauf hinwirken, dass wir uns alle in der EU verorten, wenn europäische Demokratie lebendig werden soll. Die EU sind nicht die wenigen da oben, sondern wir alle.
Die Aufklärung muss verbessert werden. Ist es vermessen, eine Art europäische Bürgerkunde für alle Schulkinder von Portugal bis Estland zu fordern? Von der ersten bis zur letzten Klasse? Damit wir als EU-Bürger wenigstens wissen, wer zur EU gehört und wie sie funktioniert? Damit man erfährt, dass es eine Mitsprache der nationalen Parlamente gibt, und auch, dass das eigene Land meistens mitgestimmt hat, wenn Brüssel etwas gemacht hat (siehe Feinstaubrichtlinie). Oder dass, wenn etwas problematisch ist (Dienstleistungsricht-linie), das Problem vielleicht nicht die Richtlinie ist, sondern die nationale Umsetzung und Kontrolle? Denn wenn 50 polnische Handwerker als selbständig in einer Wohnung gemeldet sind, ist das nicht das Problem von Brüssel, sondern der lokalen Aufsichtsbehörde. Oder dass nationale Ausführungsgesetze auch in Deutschland möglich sind, anstatt nach Karlsruhe zu ziehen und sich wieder über die Erosion nationaler Kompetenz zu beschweren – siehe Europäischer Haftbefehl. Damit unsere Kinder in Zukunft Spiegel-Artikel über Gurkenkrümmung und die Seilbahnrichtlinie für Mecklenburg getrost beiseite legen können, weil sie es besser wissen. Und weil das im Kern nicht wirklich wichtig ist.
Wir haben allenfalls noch zehn Jahre – jedenfalls nicht mehr – um die Welt von europäischer Seite aus zu gestalten, bevor die BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China), vielleicht im Rahmen der G-8 und anderswo, die Führung übernehmen. Wollen wir diese Zeit verschlafen, weil wir jetzt wieder meinen, dass der Nationalstaat, die Nation, die Antwort auf die Globalisierung ist?
„Le nationalisme, c’est la guerre“ („Nationalismus bedeutet Krieg“), hat Mitterrand immer gesagt. Wehret den Anfängen, möchte man heute murmeln. Im Übrigen ist manches an dem derzeitigen „Die-Erweiterung-ist-Schuld-an-der-Misere“-Gerede moralisch unerträglich und klingt nach „Geschichte ohne uns“ – in Frankreich, aber auch in Deutschland. Dabei sind die sozialen Fragen natürlich sehr, sehr ernst zu nehmen, aber ein bisschen mehr Großzügigkeit gegenüber Osteuropa und Verantwortung vor der Geschichte sollten dem europäischen Projekt schon innewohnen!
Die Europäische Union muss sich konsolidieren, aber sie ist nicht statisch. Die Erweiterung ist das europäische Wachstumspotenzial. Das gilt auch für Deutschland und Frankreich. Wir müssen diskutieren, ob die EU ein globaler Akteur werden soll, und, wenn sie das soll, müssen wir akzeptieren, dass dies Geld kostet, weil weder Verantwortung noch Einfluss Europas umsonst zu haben sind. Schaffen wir es, die EU wieder als positive Vision zu besetzen, die weltweiten Wandel gestalten kann, anstatt ihn zu erleiden? Oder müssen wir alle noch mal aus der EU austreten? Die jedenfalls, die draußen sind, wollen unbedingt hinein.
Internationale Politik 7, Juli 2005, S. 47 - 49