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01. März 2009

Europa, wie es sinkt und lacht

Groß muss die Union sein, und politisch: Fünf Thesen für eine neue EU-Debatte

Soll die Europäische Union eigentlich erst untergehen, bevor wir erkennen, was sie uns wirklich bedeutet? Natürlich nicht, und deshalb ist es höchste Zeit für eine neue Debatte über die Zukunft der EU. Groß muss sie sein, die Union, und politisch, will sie ihre Interessen und Ambitionen durchsetzen. Deutschland spielt dabei eine zentrale Rolle.

Nicolas Sarkozy demontiert munter den Binnenmarkt, Deutschland hat die europäischen Klimaschutzziele zugunsten seiner Autoindustrie verraten, EU-Ratspräsident Vaclav Klaus möchte hinter den Maastrichter Vertrag zurück, die Iren ringen noch immer um ein Ja zum Lissabonner Vertrag, wenn ihnen nicht sogar das Bundesverfassungsgericht mit einer Ablehnung zuvorkommen sollte. Fast jedes europäische Land verkauft seine Seele der Gasprom, und in Davos spekuliert man offen darüber, ob der Euro die Finanzkrise überlebt – kurz, die EU ist zur Abrissbude geworden, rette sich wer kann!

Da trifft es sich gut, dass das Jahr 2009 viele Erinnerungsdaten bereithält, um noch einmal Revue passieren zu lassen, was die europäische Integration einmal war und wofür sie gemacht wurde, bevor sie jetzt – in die Jahre gekommen – vielleicht mangels kollektiver Energie sang- und klanglos zerfällt. Denn mit der europäischen Integration ist es wie mit Freiheitsrechten oder der Demokratie allgemein: hart zu erkämpfen, aber schnell verspielt. Meistens merkt man erst, was fehlt, wenn es nicht mehr da ist.

1919 Ausrufung der Weimarer Republik, 1929 Börsenkrach, 1939 Zweiter Weltkrieg, 1949 Bundesrepublik Deutschland, 1959 Fouchet-Pläne, 1969 Gründung der Kommission, 1979 erste Direktwahl zum Europäischen Parlament, 1989 Mauerfall, 1999 Euro – fast 100 Jahre Werkeln, um einen zerfransten und zerbombten Kontinent zu kitten. Monnet und Schuman, Adenauer, De Gasperi und De Gaulle, Giscard und Schmidt, Kohl und Mitterrand, EGKS, Binnenmarkt und Euro – nein, einfach war die europäische Integration nie, Krach und Streit gab es immer. Aber wenigstens den konstanten politischen Willen, die europäische Einigung voranzutreiben. Und 2009?

Der Gründungsmythos der EU – Frieden und Aussöhnung nach zwei verheerenden Weltkriegen – klingt heute banal und ausgelutscht. Ein neuer Begründungsmythos wurde nie gefunden, und so ist die EU, -schleichend und doch spürbar, zwischen Osterweiterung, Türkei-Debatte, (T)Euro-Rhetorik und Finanzkrise dabei, sich aufzuribbeln wie ein Wollpullover. Es könnte darum wieder kalt werden in Europa.

Wollen wir doch in Erinnerung rufen, was einmal die Grundprinzipien europäischer Politik – vor allem in Deutschland – waren, und wo sie drohen, in Vergessenheit zu geraten. Sich dieser zu erinnern, ist indes nur die halbe Miete, denn mit den alten Argumenten baut man das neue Europa nicht. Dazu bedürfte es eines Paradigmenwechsels über das, was die EU in Zukunft sein soll und eine entsprechende Debatte hierüber. Im Zuge dieser Debatte müsste es dann auch darum gehen, mit den hartnäckig falschen Argumenten über die EU aufzuräumen. Hier ein Versuch, diese Debatte auszulösen, durch fünf bewusst überspitzte und nicht unbedingt akademische Thesen.

1. Falsch: Deutschland muss „normal“ werden

Nach den Worten von Gerhard Schröder müsse Deutschland in Europa ein „normales“ Land werden. Gemeint ist dabei, es müsse seine nationalen Interessen genau wie andere Staaten verteidigen dürfen. Gemeint damit ist wiederum meistens, dass Deutschland nicht mehr so viel für die EU bezahlen soll. Das ist gleich dreifach falsch. Erstens ist „normal“ eine kaum messbare Größe, für Psychologen nicht und in der EU auch nicht. Normal wie Griechenland? Oder normal wie Frankreich? Kein Land in der EU ist normal, jedes bringt eine spezifische Geschichte mit, jedes hat einen spezifischen Platz in Europa. Der deutsche Platz, bedingt durch den deutschen Sonderweg, war jahrzehntelang der, dass Deutschland die europäische Integration zur Staatsräson gemacht hat. „Deutschland ist größer als jedes seiner Nachbarländer, aber nicht größer als alle seine Nachbarstaaten zusammen“, so lautete der erste Satz des Schäuble-Lamers-Papiers von 1994, das eine Ortsbestimmung Deutschlands in Europa vorgenommen hat. Anders formuliert: Seit mindestens 100 Jahren ist die Frage auf diesem Kontinent, ob es ein deutsches Europa oder ein europäisches Deutschland gibt.

Seit 1949 hat man diese Frage mit einem eindeutigen Engagement für das europäische Integrationsprojekt beantwortet – kein europäisches Interesse, das nicht auch ein deutsches gewesen wäre, genauer: Die europäische Integration an sich war als solche das übergeordnete nationale Interesse Deutschlands. Wenn deutsche und europäische Interessen gegeneinander ausgespielt werden, gerät diese Determinante deutscher Außenpolitik ins Wanken. Und derzeit wackelt es schon beträchtlich im Gebälk. In der bundesrepublikanischen Außenpolitik gibt es, sehr kurz gesagt, zwei Traditionslinien, die eine ist „Rapallo“, die andere West- oder europäische Integration. Die erste war immer unheilvoll. Ähnlich unheilvoll ist die Zahlmeisterdiskussion, ganz abgesehen davon, dass in BIP pro Kopf gerechnet Deutschland gar nicht Spitzenreiter ist. Vergessen wird dabei, dass der Binnenmarkt von Walter Hallstein nach deutschem Wettbewerbsrecht und der Euro von Hans Tietmeyer nach deutschen Vorstellungen gleichsam als „erweiterte“ D-Mark entworfen wurden. Die deutsche Opferolle (wir geben die D-Mark auf) ebenso wie die Zahlmeister-Larmoyanz sind insofern unredlich, als dass Deutschland de facto der größte Nutznießer vom Binnenmarkt und vom Euro und damit vom europäischen Projekt als Ganzes ist: In großen Zügen wurde Europa stets sowohl von als auch für Deutschland gemacht.

Die Europäische Union ist sublimierte deutsche Hegemonie auf dem Kontinent, und die europapolitische Kunst von Adenauer bis Kohl war es, den anderen Staaten „ownership“ (Teilhabe) zu geben, indem sich Deutschland als stärkstes und mächtigstes Land in europäische Vertragsregelungen einbinden ließ. Deshalb hat Deutschland auch heute noch die größte Verantwortung für die europäische Einigung, aber es wird ihr nicht mehr gerecht. Deutschland ist das einzige große Land der EU, das tatsächlich jahrzehntelang für die Integration war. Großbritannien war es nie und Frankreich nie wirklich. Wenn Deutschland jetzt unter Normalisierung versteht, sich wie Frankreich und Großbritannien zu gebärden (z.B. auf Macht im Rat zu pochen, anstatt wie früher die Kommission und das Parlament zu unterstützen oder der Anwalt der kleinen Länder zu sein), ist das schlecht, denn dann verlässt Deutschland seinen Platz in Europa. Deutschland aus der europäischen Opferrolle herauszuführen, wäre der erste Paradigmenwechsel. Im Grunde hat kein Land Europa so in der Hand wie Deutschland. Es mag ja sein, dass sich Tschechien, Frankreich oder Litauen europapolitisch daneben benehmen. Aber dies ist kein Grund für Deutschland, dem nachzueifern. Denn Europa steht und fällt mit der deutschen Vorbildrolle. Wir sind Europa!

2. Falsch: Die politische Union ist nicht mehr möglich

Darum trägt Deutschland auch die größte Verantwortung dafür, zwei Debatten wieder zusammenzuführen: die der politischen Union und die der europäischen Geostrategie, d.h. die der europäischen Interessensicherung. Irgendwann zu Beginn dieses Jahrzehnts ist das Bekenntnis zur politischen Union in Deutschland verwelkt wie ein alter Blumenstrauß. Seither verhaspelt sich die Europa-Diskussion in dem müden Bekenntnis, man würde ja gerne die politische Union realisieren, aber in dem erweiterten Europa sei dies leider nicht mehr möglich.

Schlimmer ist diese Diskussion noch in Frankreich. Die Altgardisten der Europa-Diskussion werden nicht müde zu beteuern, man würde ja gerne den großen Integrationssprung machen, aber nicht mit 27 Mitgliedern. De facto hat sich ein Großteil der französischen politischen Eliten in die jakobinische Schmollecke zurückgezogen, seitdem der relative Einfluss Frankreichs in der erweiterten Union reduziert wurde. Aber das Liebäugeln mit Kerneuropa-Philosophien führt nicht weiter: Wenn die EU eine Chance haben soll, ihre machtpolitischen Ambitionen zu verwirklichen, ihre realpolitischen Interessen angemessen zu verteidigen und auf diese Art in der multipolaren Welt ihre Gestaltungsfähigkeit zu bewahren, dann muss sie beides sein: groß und politisch! Diese Synthese kann nur Deutschland leisten, und Anstöße hierfür müssten vor allem von Deutschland ausgehen. Leider ist dem nicht so. Ob mit Blick auf den Balkan, die Türkei oder die Ukraine: Deutschland ist nicht Treiber, sondern Bremser in der Diskussion.

In Frankreich, aber eben auch in Deutschland – dem alten Führungsduo – findet die statischste und rückwärts gewandteste Europa-Diskussion statt: Die Erweiterung ist Problem und nicht Teil der Lösung. Noch immer werden die Kosten der Erweiterung anstatt die Kosten der Nichterweiterung diskutiert. Dabei hängen sowohl unsere Energiesicherheit, unser Verhältnis zu Russland, unser Einfluss auf den Nahen und Mittleren Osten, unsere wirtschaftliche Prosperität als auch das Problem der Migration von einem mutig ausgreifenden Europa ab. Die Diskrepanz zwischen dem Interesse der EU an ihren Grenzregionen im Osten und Süden und dem Grad des europäischen Engagements könnte größer nicht sein – dies gilt von Irak bis Georgien.

Die Zeit ist reif, dass die EU ihre unbestrittene Statebuilding- und Stabilisierungskompetenz jenseits von Beitrittszusagen geostrategisch geltend macht und EU-Geld in einer Region auch in EU-Einfluss ummünzt. In Vergessenheit geraten ist die alte Weisheit, dass Erweiterung und Vertiefung sich stets gegenseitig bedingt haben. Hier soll keiner unkontrollierten Erweiterung das Wort geredet, noch behauptet werden, dass die Verbindung zwischen politischer Union und Erweiterung in Zukunft einfach sein wird. Und doch gehen der EU im Jahr 52 nach den Römischen Verträgen ihre supranationalen Reflexe und die wirklich großen Integrationsprojekte verloren.

Eine einheitliche Stimme Europas im IWF und die Eurogruppe in der G-8 als Initiative zwecks gemeinsamer Bewältigung der Finanzkrise, ein integrierter europäischer Gas- und Energiemarkt, ein schlagkräftiger Auswärtiger Dienst der EU mit europäischem Außenminister, Sicherheitsrat und Armee wären konkrete Projekte, um als politisch gestärkte Union in das 21. Jahrhundert zu gehen. Zum Teil liegen die Vorschläge, z.B. der Lissabonner Vertrag, bereits auf dem Tisch; doch im Moment regiert die Mutlosigkeit. Der Lissabonner Vertrag, wäre er denn endlich ratifiziert, greift bereits heute zu kurz. Es ist wieder Zeit für große, pragmatische Integrationsprojekte, da die Verfassungsdiskussion in die Leere lief. Und auch hier gilt: Was Deutschland und Frankreich nicht machen bzw. nicht vorschlagen, passiert nicht.

3. Falsch: Deutschland schafft die Finanzkrise alleine

Schlimmer noch ist, dass wir mit dem Euro zu kurz gesprungen sind: Es war von Anfang an klar, dass eine gemeinsame Währung ohne mehr wirtschaftspolitische Integration auf Dauer nicht funktionieren kann. Und jetzt führt die Finanzkrise uns das dramatisch vor Augen. Doch 15 Jahre lang haben sich wieder vor allem Deutschland und Frankreich eine Diskussion geliefert, die von dem pawlowschen Reflex bestimmt war: Wenn Frankreich „Wirtschaftsregierung“ sagte, haben die Deutschen Nein gesagt.

Es mag sein, dass damals mehr nicht möglich war. Aber jetzt muss mehr möglich sein! Es steht nicht mehr oder weniger auf dem Spiel als das Überleben des Euro. Deutschland muss ein zweites Mal Ja sagen. Diesmal richtig und zwar möglichst vor dem G-20-Gipfel am 2. April 2009. Ohne ein einiges Europa keine weltweite Lösung und ohne Deutschland keine europäische Lösung. Mit dieser Lösung muss geklotzt werden: Es bedarf einer Bad Bank zur völligen europäischen Solidarität, gemeinsamer -Eurobonds, einer europäischen Finanzaufsichtsbehörde sowie eines europäischen Finanzgarantiepaket von einer solchen Höhe (eine Trillion?), dass der grassierenden Nervosität an den Finanzmärkten der Boden entzogen wird. Am 2. April braucht Europa ein „United We Stand“ à 27 wie beim Irak-Krieg, nur dieses Mal Deutschland und Frankreich nicht gegen die anderen, sondern an der Spitze der EU.

Gleichzeitig sollten ein klares Signal und die Zielvorgabe ausgegeben werden, alle EU-Länder binnen fünf Jahren in den Euro aufzunehmen – sogar die Briten liebäugeln inzwischen damit. Schließlich sollte eine Initiative gestartet werden, dass  Europa durch die Eurogruppe in der G-8 und im IWF vertreten wird. Diesen Tipping Point herbeizuführen, kann nur Deutschland schaffen. Aber aus Angst, die Eurobonds könnten teurer sein oder aber Deutschland müsste Spanien oder Italien ausbailen, bastelt Deutschland gerade an Lösungen, die so aussehen, als wolle man sich mit einem Gartenzaun gegen einen Tsunami schützen. Ein Tor, wer denkt, Deutschland würde die Krise überleben, wenn alles um Deutschland herum zusammenkracht und eine spanische Staatspleite uns nichts angeht, nur weil es keine Eurobonds gibt. Deutschland hat gerade noch vier Wochen Zeit, um Europa zu retten – nicht aus Altruismus, sondern aus purem Eigeninteresse. Wenn diese Krise nicht genutzt wird, um die Disfunktionalitäten des Euro zu überwinden, dann scheitert Europa, weil Deutschland den historischen Horizont eines Gartenzwergs hat.

4. Falsch: Energiepolitik muss national bleiben

Ein weiteres ambitioniertes Projekt wäre ein integrierter europäischer Gasmarkt, eine Art moderne Variante der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Vielleicht liegt hier sogar Potenzial für einen neuen Begründungsmythos der EU. Energie ist heute das politische Thema Nummer eins, und die Kernidee der EGKS damals war es, dass man die Dinge vergemeinschaften wollte, die alle am dringendsten brauchten: Kohle und Stahl. Heute müsste es Gas sein. Leider betreiben zurzeit gerade Deutschland und Frankreich hinter den Kulissen die Demontage des dritten europäischen Energiepakets. Das ehemalige Führungsteam der EU ist in sinistre Konkurrenz um Eigeninteressen geraten und so kann die EU nicht funktionieren. Dies ist der Kern des Problems.

Wieder ist vor allem Deutschland der Hemmschuh bzw. läge es entscheidend an Deutschland, zum Befürworter einer solchen Idee zu werden. Die Analogie zum Euro – so hinkend sie ist – liegt auf der Hand, denn bei Gas geht es entscheidend um Russland. Deutschland würde, wie mit der D-Mark, den größten Anteil zum europäischen Picknick mitbringen: die intensivsten (und besten?) Beziehungen zu Russland und den größten Gasmarkt. Die deutsche Bereitschaft, dies zu vergemeinschaften, ist die vielleicht größte Herausforderung, vor der die EU steht bzw. der vielleicht wichtigste Schritt, die politische Solidarität der EU zu bekräftigen.

Wie beim Euro müsste es dazu gelingen, diejenigen Konditionen festzulegen, die es Deutschland ermöglichen würden, einen solchen einschneidenden Schritt zu wagen. Beim Euro waren es der Stabilitätspakt, die De-facto-Übernahme der geldpolitischen Leitlinien der Bundesbank durch die Europäische Zentralbank und auch die Tatsache, dass die EZB nach Frankfurt kam. Bei einem europäischen integrierten Gasmarkt käme es darauf an, Fragen der Energiereserven, des Energiemixes bzw. der Infrastruktur für einen Energietransfer von West nach Ost zu regeln, um Energiesolidarität mit den osteuropäischen Mitgliedsstaaten zu dokumentieren, denn diese leben in der Angst – wie jüngst im ukrainisch-russischen Gaskonflikt wieder geschehen –, dass Russland ihnen den Gashahn abdreht.

Auch wenn dies in Deutschland anders bekundet wird: Das NordStream-Pipelineprojekt wird in Osteuropa nicht als europäisches, sondern als deutsches Projekt verstanden. An Deutschland liegt es also, daraus ein europäisches Projekt zu machen. Dies klingt wagemutig, und im Detail wird dies sehr schwierig sein, zumal es neben den staatlichen Akteuren die Energieunternehmen als Akteure zu berücksichtigen gilt. Aber der Euro war auch kein einfaches Projekt, er war riskant – und doch war er gerade in der aktuellen Finanzkrise der entscheidende Rettungsanker. Man möchte sich die Auswirkungen der Finanzkrise ohne Euro nicht vorstellen.

Doch ebenso absurd ist es, sich vorzustellen, dass innerhalb eines Binnenmarkts und einer Währungszone in einem Teil der Mitgliedsstaaten das Licht und die Heizung ausgehen und in einem anderen Teil nicht. Die Angst vor dem Bail-out war damals eines der stärksten Argumente der Euro-Kritiker. Aber ebenso wenig wie man Italien mit oder ohne Euro in den -Staatsbankrott hätte gleiten lassen, so wird man heute zulassen, dass man in Polen friert. Wenn dem so ist, dann kann man dieser De-facto-Solidarität auch rechtlich Ausdruck verleihen. Die alte Weisheit lautet, dass die EU eine Schicksalsgemeinschaft ist, außer, dass auch dieser Begriff aus der aktuellen Debatte verschwunden ist.

5. Falsch: Die NATO ist unsere Zukunft

Eine der größten und schwersten Aufgaben der EU wird es sein, ihr Verhältnis zu den beiden Großmächten neu zu definieren, die einst ihre externen Föderatoren waren: die USA als positiver Befürworter und Beschützer der europäischen Integration und die damalige Sowjetunion, heute Russland, als gemeinsames Feindbild. Beide Beziehungen haben sich verschoben. Weder unterstützen die USA heute uneingeschränkt den europäischen Integrationsprozess, sie stehen zum Teil im multipolaren Wettbewerb mit der EU um Macht, Einfluss und Ressourcen; noch ist Russland heute Feind, wiewohl schwieriger Partner.

Die Aufgabe der EU gegenüber den USA ist also eine Emanzipation oder eine gepflegte, nostalgiefreie Abnabelung, die ein Verhältnis auf Augenhöhe erst möglich machen würde. Die Beziehungen zwischen den USA und der EU müssen verbessert werden, nicht die zwischen der EU und der NATO, denn letzteres ist ein Euphemismus. 20 Jahre mantraartiger Diskurs über die Notwendigkeit der verbesserten Beziehungen zwischen EU und NATO zum Trotz läuft dieser allein schon systemisch in die falsche Richtung, geht es doch im Grunde darum, ob die NATO (also de facto die USA) oder eben die EU die Akzente für die künftige geostrategische Gestaltung des europäischen Kontinents setzt. Und die Aufgabe der Beziehungsgestaltung gegenüber Russland ist jene einer strategischen Partnerschaft.

Beides wird – oder wurde zumindest bis vor kurzem – dadurch verhindert, dass die USA und Russland gegenüber der EU eine Politik des Divide et impera verfolgt haben. Sowohl Washington als auch Moskau verstehen sich vortrefflich darauf, die europäischen Hauptstädte gegeneinander auszuspielen, wenn sie sich davon Vorteile versprechen, wobei die Osteuropäer dazu tendieren, mit Washington gegen Moskau zu bändeln, und viele Westeuropäer gerne einen Deal mit Moskau über die Köpfe der Osteuropäer hinweg machen. Die deutsche Nähe zu Russland, vor allem im Bereich der Gas- und Energiepolitik, wird östlich von Berlin genau so perzipiert. Es erinnert an Rapallo, und es ist gefährlich. Im Grunde aber müsste ein sich emanzipierendes Europa heute die Mediationsrolle zwischen den USA und Russland übernehmen. „Falls Europa erwacht“, so hat Peter Sloderdijk in einem hervorragenden Essay schon 1994 formuliert, müsste es sich aufschwingen, das Verhältnis der ehemaligen Blockmächte zueinander neu zu ordnen.

Drei Bedingungen müssten dazu erfüllt werden: 1. Frankreich und Deutschland müssten in Osteuropa das unbedingte Vertrauen gewinnen, die sicherheitspolitischen Interessen der Osteuropäer ernst zu nehmen und zu verteidigen; umgekehrt müssten die Osteuropäer dazu bereit sein, sich auf die EU zu verlassen. 2. Die USA müssten ihren tendenziellen Konfrontations- und Provokationskurs gegenüber Russland verlassen. 3. Russland müsste dazu gebracht werden, sich an internationale Spielregeln zu halten.

20 Jahre nach dem Fall der Mauer ist es Zeit wahrzunehmen, dass eine solche europäische Mittlerrolle im Rahmen der NATO institutionell nicht möglich sein wird. Die Struktur der NATO ist für ein neubegründetes trilaterales Verhältnis zwischen den USA, Europa und Russland nicht geschaffen. Erstens ermöglicht die institutionelle Struktur der NATO Europa nicht, unterschiedlicher Meinung mit den USA und trotzdem gleichberechtigter Partner zu sein, denn die USA sind Primus inter pares. Zweitens wird die NATO in Russland eben als Provokation empfunden, soll heißen: Russland hätte wahrscheinlich kein Problem mit einer eventuellen Mitgliedschaft der Ukraine oder Georgiens in der EU, es hat aber ein Problem mit der Mitgliedschaft dieser Länder in der NATO. Daher müssen die Debatten über NATO- und EU-Mitgliedschaft – die implizit bisher immer parallel und mit der NATO als Agendasetter verliefen – dringend entkoppelt werden.

Die Antwort darauf kann nur sein, dass die EU die Verantwortung und die Anbindungsfunktion für die Länder östlich der EU-Grenzen übernimmt und eine ehrliche Diskussion darüber beginnt, dass die Übernahme von nur humanitären Missionen schnell an ihre Grenzen stößt. Die diskutierte französische Rückkehr in die NATO ist vor diesem Hintergrund zwar nett, aber gleichsam ein Anachronismus der Geschichte und wird ihren Zweck nur erfüllen, wenn daraus eine konsequente Stärkung der eigenständigen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik erwächst.

Es ist höchste Zeit für einen Paradigmenwechsel in der europa- und sicherheitspolitischen Debatte. Momentan erinnert sie an eine Vinylplatte, die hängt. Wenn vor allem Deutschland die Klippe nimmt, hätte Europa eine Chance, aus der Krise wie Phönix aus der Asche hervorzugehen. Sonst eher nicht!

Dr. ULRIKE GUÉROT leitet das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations. Sie gibt hier ihre persönliche Meinung wieder.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2009, S. 52 - 60.

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