IP

01. Sep 2010

Schwarze Schwäne in der Weltwirtschaft

Von bekannten und neuen Risiken für die globale Ökonomie

Katastrophen schlagen deshalb so überraschend zu, weil die zugrunde liegenden Risiken im Vorfeld oft unterschätzt oder gänzlich übersehen werden. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen darauf internationale und interdisziplinäre Antworten finden sowie eine neue Risikokultur fördern.

Als die Finanzmärkte im September 2008 kurz vor dem Kollaps standen, sprachen viele Analysten von einem Black-Swan-Ereignis oder auch von einem Perfect Storm. Das Unwahrscheinliche, Nichterwartete war eingetreten. Mit Hypotheken hinterlegte Wertpapiere, die noch kurz zuvor als Investition ohne Risiko gepriesen worden waren, zwangen Finanzsysteme weltweit in die Knie. Die Weltwirtschaft konnte nur mit umfangreichen staatlichen Finanzspritzen gerettet werden.

Für Risiken und Zufälle sind die meisten Menschen blind, so Nassim Taleb, Ökonom und Professor für Risikoforschung in New York. Investmentbanker jedenfalls erlagen dem Trugschluss, durch hochkomplizierte mathematische Optimierungsverfahren das Ausfallrisiko der neuen Anlageinstrumente beseitigt zu haben. Zwar berücksichtigten ihre Modelle durchaus die Möglichkeit eines Einbruchs der Immobilienpreise, doch basierten die Berechnungen auf historischen Erfahrungswerten – und diese sind generell, so Taleb, nur bedingt verlässlich. Mit einem Wertverlust, wie er letztendlich zu beobachten war, hatte niemand gerechnet.

Unterschätzt wurde auch die Korrelation von Risiken (Kredit-, Liquiditäts- und Marktrisiken). Ratingagenturen gaben den neuen Finanzinstrumenten Bestnoten, Risiken wurden zu gering bepreist und Banken bildeten zu geringe Rücklagen für mögliche Kreditausfälle – mit fatalen Folgen. Das Ausmaß der Krise ist bekannt. Der IWF schätzte im Frühjahr 2010 die Abschreibungen der Banken auf 2,3 Billionen Dollar. Während die Krise auf den Finanzmärkten einigermaßen gebannt ist, bedrohen nun die maroden Staatshaushalte die Weltkonjunktur. Das System sah stabil aus – bis es zusammenbrach.

Entscheidungen, die in die Zukunft gerichtet sind, ignorieren oftmals extreme Risiken. In der Statistik sind dies die Randbereiche der normalen Verteilung von Ereignissen, die so genannten fetten Verteilungsenden (fat tails). Die Möglichkeit, dass es zu einer ungewöhnlichen Katastrophe kommen könnte, wird aus der Erwartungsbildung oft ausgeklammert. Sie gelten als „schwarze Schwäne“, deren Vorkommen Jahrhunderte lang als vollkommen abwegig galt – bis sie im 18. Jahrhundert in Australien entdeckt wurden. Jetzt steht der Begriff „schwarzer Schwan“ sinnbildlich für etwas, das so lange als absolut unvorstellbar gilt, bis es eben doch in der Realität auftaucht.

Welche Folgen das „überraschende“ Auftauchen eines solchen schwarzen Schwanes haben kann, zeigt die Katastrophe nach dem Untergang der Explorationsplattform Deepwater Horizon Ende April 2010 im Golf von Mexiko.1 Die Risiken der Tiefseebohrungen wurden schlicht unterbewertet, auch, weil die Unfallstatistik relativ gut aussah. BP bezifferte die Risiken in einem Umweltgutachten zur Deepwater-Horizon-Bohrung für die zuständige Regulierungsbehörde, dem Minerals Management Service (MMS), denn auch als minimal. Die Regierung wiederum hielt es nicht für nötig, strengere Regulierungen zu erlassen. Nach der Explosion, die einer „unglücklichen Verkettung von Problemen geschuldet“ gewesen sei, flossen offiziellen Schätzungen zufolge täglich zwischen 5,6 bis 9,5 Millionen Liter Öl ins Meer. Die ökonomischen Folgekosten werden zweistellige Milliardenbeträge erreichen. Monate nach der Explosion gab der inzwischen zurückgetretene BP-Chef Tony Hayward zu, dass dem Unternehmen nicht die nötigen technischen Mittel zur Verfügung stehen, ein solches Unglück in den Griff zu bekommen. Einen wirklichen Katastrophenplan gab es nicht.2

Mit der Wirtschafts- und Finanzkrise sowie dem BP-Unglück ist das Risikobewusstsein in der Öffentlichkeit und bei Unternehmen deutlich gestiegen. Laut einer Studie der Firma Marsh, einem Unternehmen für Risiko- und Versicherungsmanagement, aus dem Jahr 2009 gaben 69 Prozent der befragten Unternehmen an, ihre Risikoanfälligkeit aus Anlass der Finanzkrise überprüft zu haben.3 Doch Identifizierung und Kalkulation von Risiken sind alles andere als einfach.

Risiko um jeden Preis?

Risiken fallen unter den Oberbegriff „Unsicherheiten“ – Situationen, in denen zukünftige Entwicklungen und Ereignisse nicht mit vollständiger Sicherheit prognostiziert werden können. Für Risiken lassen sich – zumindest theoretisch – Wahrscheinlichkeiten für alternative Umweltzustände errechnen. Bevor dies allerdings möglich ist, müssen sie zunächst einmal erkannt werden. Und hier liegt die erste Widrigkeit, das Induktionsproblem, also welche Schlüsse von individuellen empirischen Erfahrungen und Beobachtungen auf das Allgemeine gezogen werden können. Dies illustriert das bekannte Beispiel: Ein Truthahn könnte aufgrund seiner Erfahrung davon ausgehen, dass er täglich gefüttert wird. Für 364 Tage im Jahr stimmt diese Annahme. An Thanksgiving aber, dem amerikanischen Erntedankfest, wird er nicht gefüttert, sondern geschlachtet, seine „Erfahrung“ ist wertlos. Er hat das für ihn bestehende Risiko nicht erkannt, für ihn ist Thanksgiving ein schwarzer Schwan.4

Das zweite Problem liegt in der Berechnung der Risiken. Klassische Kriterien sind Eintrittswahrscheinlichkeit, Schadensumfang, räumliche Verteilung, zeitliche Ausdehnung und Wiederherstellbarkeit. Ist ein Risiko einmal erkannt und berechnet, können adäquate Strategien zur Risikovermeidung, -minderung und -absicherung gewählt werden. So glaubt man wenigstens. Doch die Berechnung der Risiken ist schwierig: Aus den Erfahrungen der Geschichte lassen sie sich nur bedingt erfassen, denn keine Katastrophe ähnelt der andern völlig. Erschwert wird die Berechnung von Risiken durch Verzerrungen in der Wahrnehmung und falsche Interpretation von Tatsachen.

Neben dem Problem der Risikoperzeptionen kommen drittens noch unterschiedliche Regulierungsphilosophien hinzu. Gesellschaften nehmen Risiken unterschiedlich wahr, und die Politik reagiert nicht in allen Ländern gleichermaßen auf Risiken. Europa ist in vielen Bereichen risikoaverser als die USA. Reguliert man dort häufig schon, wenn sich ein Problem abzeichnet, greift man in den Vereinigten Staaten erst ein, wenn das Problem entstanden ist – dann aber umso heftiger. Auch auf dem Finanzsektor glaubte man in den USA lange an die Selbstheilungskräfte des Marktes. Die Deregulierung der Finanzmärkte galt gar als Beitrag zur Stärkung der amerikanischen Finanzindustrie im internationalen Wettbewerb. Ähnliches galt für den Ölsektor. Da man annahm, dass die Experten ohnehin nicht in den staatlichen Behörden, sondern in der Industrie tätig waren, überließ man die Regulierung des Sektors der Industrie selbst. Mittlerweile hat US-Präsident Barack Obama ein umfassendes Gesetz zur Re-Regulierung der Finanzmärkte unterzeichnet; ein Gesetz mit strengen Auflagen für Offshore-Ölbohrungen wird gerade im Kongress debattiert.

Schließlich wird das Risikomanagement erschwert, weil erkennbare Risiken auch ganz bewusst eingegangen werden – eine derzeit in der Ölindustrie oder an den Finanzmärkten vorherrschende Risikokultur, die der Wirtschaftskolumnist David Leonhardt jüngst als „Spillonomics“, eine Art „Katastrophenwirtschaft“, bezeichnete.5 Nicht jede staatliche Regulierung bringt dafür Abhilfe. Falsche Regulierungen können durchaus die Kostenkalkulation von Unternehmen verzerren und ihre Risikobereitschaft erhöhen. Dass beispielsweise die Risiken der Tiefseebohrung im Vergleich zu den Gewinnen als relativ niedrig eingeschätzt wurden, lag auch am staatlichen Haftungslimit. Zwar müssen die Konzerne nach geltendem US-Recht für die Reinigung verschmutzter Gewässer aufkommen – für darüber hinausgehende Schadensansprüche galt bislang jedoch eine Haftungsgrenze von 75 Millionen Dollar. Forderungen, die diese Grenze überschreiten, wurden aus dem staatlichen Oil Spill Liability Trust Fund bezahlt. Das hat Unternehmensentscheidungen verzerrt. Die Obama-Regierung will deshalb die Haftungsgrenze für Tiefseebohrungen aufheben. Ob dies geschehen wird, ist derzeit allerdings noch offen. Denn die Versicherungsgesellschaften warnten bereits, dass sie sich dann nicht mehr in der Lage sehen könnten, das Offshore-Geschäft weiter zu versichern.  Vielleicht ist dies eine leere Drohung, vielleicht wären die Risiken auch  einfach zu hoch, wenn sie richtig bepreist werden.

Bekannte und schleichende Risiken

Bei ihrer Frühjahrstagung 2010 begrüßten der Internationale Währungsfonds (IWF) und die G-20-Länder die Erholung der Weltwirtschaft, warnten jedoch zugleich vor anhaltenden Risiken für einen globalen Wirtschaftsaufschwung.

Manche dieser Risiken sind so offensichtlich, dass sie kaum als schwarze Schwäne bezeichnet werden können. Hierzu gehören die globalen makroökonomischen Ungleichgewichte und Staatsschulden ebenso wie der Klimawandel und Engpässe in der Rohstoffversorgung. Das Problem liegt hier nicht so sehr darin, dass diese Risiken übersehen oder unterschätzt werden, sondern dass es keinen Konsens gibt, wie mit ihnen umzugehen ist.

Anderen Risiken wird weniger Aufmerksamkeit zuteil, doch sollten auch sie nicht unterschätzt werden. Hierzu zählt die Verwundbarkeit von Transportwegen, Produktionsketten und kritischer Infrastruktur. Das Risikonetzwerk des Davoser Weltwirtschaftsforums identifizierte in seinem Global Risk Report 2010 zudem mangelnde Investitionen in die Infrastruktur und chronische Krankheiten als „schleichende Risiken“, die die Welt in Schwierigkeiten bringen können.6

Im Folgenden werden exemplarisch einige der genannten Risiken diskutiert, die Liste erhebt aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Während diese Risiken bereits teilweise in internationalen Foren wie der G-20 angesprochen werden, sind die Ergebnisse bislang jedoch eher dürftig.

Globale Ungleichgewichte

Die globalen makroökonomischen Ungleichgewichte trugen maßgeblich zur Wirtschafts- und Finanzkrise bei, und solange sie nicht korrigiert werden, wird die Weltwirtschaft krisenanfällig bleiben. Ein erhebliches Risiko besteht darin, dass hohe Kapitalflüsse in Länder wie die USA zur Bildung neuer Blasen führen können, deren Platzen die Finanzmärkte erneut destabilisieren würde. Das größte Risiko besteht allerdings nach wie vor in einer abrupten und ungeordneten Korrektur der Ungleichgewichte, rapiden Währungsabwertungen und einem Einbruch des Welthandels.

Infolge der Wirtschaftskrise verringerten sich die globalen Ungleichgewichte 2008/09 temporär: Durch die Abwertung des Dollar und die Konsumzurückhaltung der US-Amerikaner sowie die relativ schwache Binnenkonjunktur schrumpfte das große Leistungsbilanzdefizit der USA. Das Gegenteil war in den Überschussländern zu beobachten: Die sinkende weltweite Nachfrage und der Einbruch der Rohstoffpreise hatten bei den großen asiatischen Exportnationen wie China und Japan ebenso rückläufige Handelsbilanzüberschüsse zur Folge wie in den ölexportierenden Ländern des Nahen und Mittleren Ostens sowie in Deutschland. Im März 2010 verbuchte beispielsweise China zum ersten Mal seit rund sechs Jahren einen Importüberschuss. Ursächlich für die hohe Binnennachfrage war das massive Konjunkturprogramm, das die chinesische Regierung in der Krise aufgelegt hatte.

Doch mit der konjunkturellen Erholung der Weltwirtschaft hat sich diese Korrektur bereits wieder abgeschwächt, und die Europäische Zentralbank (EZB) warnt, dass der Abbau der Ungleichgewichte nicht nachhaltig war. Denn die asiatischen Schwellenländer könnten zu ihrem alten exportgeleiteten Wachstumsmodell zurückkehren und neue Ausfuhrüberschüsse und Währungsreserven anhäufen. In den USA könnten, getrieben vom hohen Binnenkonsum, die Leistungsbilanzdefizite wieder steigen, vor allem, wenn es nicht gelingt, das staatliche Defizit abzubauen.7 Schon jetzt zeichnet sich eine deutliche Verschlechterung der US-Handelsbilanz ab. Maßgeblich verantwortlich hierfür ist der steigende Außenwert des Dollar.

Es wird immer positive und negative Leistungsbilanzsalden in der Welt geben, denn nicht alle Länder können mehr exportieren als importieren. Problematisch werden die Ungleichgewichte allerdings dann, wenn die Salden zu groß werden oder auf einer unsoliden Wirtschaftspolitik beruhen und nicht nachhaltig finanzierbar sind. Beides war vor der Finanz- und Wirtschaftskrise der Fall – und beide Probleme sind nach wie vor nicht beseitigt.

Staatsverschuldung

Laut Global Risk Report 2010 ist die Schuldenlast der Industrienationen zu einem globalen Risiko geworden, das die weltwirtschaftliche Entwicklung gefährdet. Während sich die globalen Risiken insgesamt infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise nur geringfügig verändert haben, sind die Industrieländer aufgrund ihrer hohen Verschuldung immer weniger in der Lage, auf zukünftige globale Probleme oder Katastrophen angemessen reagieren zu können. Auch der Internationale Währungsfonds warnte in seinem aktuellen Bericht zur globalen Finanzstabilität vor der Verschuldung der Industrieländer.8

Um die Finanzmärkte zu stabilisieren und den Konjunktureinbruch abzufedern, legten viele Länder 2008/09 umfangreiche Rettungspakete auf. Dass die Regierungen stabilisierend eingreifen mussten, stellt niemand in Frage. Wenn die Schwerpunkte richtig gesetzt werden und nicht nur der Konsum kurzfristig angekurbelt, sondern weitsichtig – zum Beispiel in die Infrastruktur, Bildung, Forschung und Entwicklung – investiert wird, können die Staatsausgaben sogar das langfristige Wachstumspotenzial ei-nes Landes verbessern. Das Problem liegt allerdings im Ausmaß der Verschuldung. Viele Länder laufen derzeit Gefahr, sich in kurzer Zeit zu überschulden.

In den Industrieländern stieg das Budgetdefizit von durchschnittlich drei Prozent des BIP im Zeitraum 2000 bis 2006 auf fünf Prozent im Zeitraum 2007 bis 2009. Von 2000 bis 2009 wuchs die durchschnittliche Staatsverschuldung von 72 Prozent des BIP auf knapp 95 Prozent. Werden keine deutlichen fiskalpolitischen Anpassungen vorgenommen, könnte die Staatsverschuldung der Industrieländer von etwa 100 Prozent des BIP (2010) bis auf 133 Prozent im Jahr 2020 ansteigen.9

Diese Entwicklung ist nicht nachhaltig. Die Gefahr, dass nachkommende Generationen durch die Staatsverschuldung massiv belastet werden, ist groß. Denn der Staat greift automatisch via Kapitalmarkt auf die Reserven, also den Kapitalstock, zurück. Damit verringert er jedoch die finanziellen Ressourcen, die Unternehmen für private Investitionen zur Verfügung stehen. Leiht sich der Staat Geld auf den Kapitalmärkten, treibt er zudem die Zinsen in die Höhe; private Investitionen werden verdrängt und durch staatliche substituiert. Da staatliche Investitionen oftmals ineffizienter sind als private, kann dieser Crowding-Out-Effekt ein langfristig niedrigeres Wachstum bewirken. Ein weiteres Problem von Staatsschulden ist, dass es für Staaten attraktiver wird, Inflation zuzulassen.

Dass Staatsschulden letztlich auch zu gravierenden internationalen Verwerfungen führen können, hat der Fall Griechenland eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Zusammen mit den Ungleichgewichten in den Handelsbilanzen sind sie ein erhebliches Risiko für den Euro und den Zusammenhalt der Währungszone. Hinzu kommt noch, dass mit dem wachsenden Unmut in der Bevölkerung das Risiko populistischer Maßnahmen der Politik und von wirtschaftlichem Nationalismus steigt, darunter Handels- und Finanzprotektionismus.

Rohstoffengpässe

Die Wirtschaftskrise hat nicht nur die Schwächen der Finanzmärkte, sondern auch der Rohstoffmärkte aufgedeckt: Die Märkte sind anfällig und volatil. Hohe geografische und unternehmerische Konzentration auf der Anbieterseite, rechtliche und politische Unsicherheiten in den Förderländern sowie staatliche Interventionen wie beispielsweise Exportbeschränkungen (allen voran durch China) sind nur einige der Charakteristika der Rohstoffmärkte, aufgrund derer die Versorgung mit bestimmten Rohstoffen immer stärker mit Risiken behaftet ist.

Die Preise entwickelten sich in den vergangenen Jahren außerordentlich turbulent: Die Nachfrage nach energetischen und metallischen Ressourcen stieg durch neue Marktteilnehmer aus Schwellen- und Entwicklungsländern – allen voran China – stark an und trieb so die Preise in die Höhe. Infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise brach dieser Trend 2008 zwar jäh ab. Doch bereits 2009 stiegen die Preise im Vergleich zum Vorjahr wieder sprunghaft an (wenn auch von einem niedrigen Niveau aus), mit einem Plus von über 150 Prozent bei einigen Metallen wie Kupfer oder Blei.10 Die Gründe für die Preisexplosion lagen in der Konjunkturpolitik vieler Staaten, in gesenkten Leitzinsen und erhöhter Liquidität sowie dem Aufstocken der chinesischen Rohstofflager. Zudem waren aufgrund des schwachen Dollar, niedriger Zinsen und Angst vor Inflation massive Investitionstätigkeiten an den Rohstoffmärkten zu verzeichnen. Mit einer Entspannung der Märkte ist nicht zu rechnen.

Während der Fokus bislang auf energetischen Rohstoffen lag, wird mittlerweile auch Metallen eine größere Aufmerksamkeit zuteil. Aufgrund des steigenden Einsatzes klimaschonender Technologien wie Elektromobilität und Windkraft ist die Nachfrage nach vielen von ihnen, darunter Lithium und die so genannten seltenen Erden, deutlich gestiegen. Seltene Erden sind unter anderem für die Herstellung leistungsfähiger Magneten für Windturbinen und Elektroautos erforderlich, Lithiumbatterien werden schon jetzt millionenfach in Handys, Laptops und iPhones eingesetzt.

Das Versorgungsrisiko ist nicht für alle Länder gleich. Es hängt von der Exportabhängigkeit des Landes, der Bedeutung eines Rohstoffs für die Wertschöpfungskette und den Recycling- sowie Substitutionsmöglichkeiten ab. Welche Rohstoffe als kritisch bewertet werden, fällt somit von Land zu Land und Industrie zu Industrie unterschiedlich aus. Gemein ist den Importländern jedoch die kritische Bewertung von zwei Trends: die steigende Konzentration in einigen Sek-toren des Metallerzbergbaus (vor allem dem Eisenerzmarkt) und die Exportbeschränkungen im Ausland.

Infrastruktur- und Transportwege

Eine solide Infrastruktur und funktionstüchtige Transportnetze sind essenziell für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. Kritische Infrastrukturen sind Institutionen und Einrichtungen mit großer Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, darunter Transport und Verkehr, Energie (Elektrizität, Öl und Gas), Gefahrenstoffe (Chemie und Biostoffe, Gefahrguttransporte, Rüstungsindustrie), Informationstechnik und Telekommunikation, Finanz-, Geld- und Versicherungswesen sowie Versorgung – beispielsweise Gesundheitswesen, Katastrophenschutz, Lebensmittel- und Wasserversorgung.

Durch Naturereignisse, technisches und/oder menschliches Versagen oder auch durch Terroranschläge verursachte Schäden können weit-reichende soziale und ökonomische Folgen haben.11

Seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 wird die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus als besonders virulentes Risiko für die kritische Infrastruktur bewertet. Der Global Risk Report 2010 identifiziert allerdings auch fehlende Investitionen in Infrastruktur als Risiko für die Weltwirtschaft. Berechnungen der Weltbank zufolge sind bis 2020 Investitionen in Höhe von 35 Billionen Dollar notwendig, sowohl für die Aufrechterhaltung und Erneuerung existierender Infrastrukturen in den Industrieländern als auch für den Aufbau der Infrastruktur in Schwellen- und Entwicklungsländern. Denn Bereiche des Wasser-, Energie- und Transportsektors sind oftmals defizitär oder überlastet.12 Angesichts der hohen Haushaltsdefizite wird es für Regierungen jedoch immer schwie-riger, für die notwendigen Maßnahmen aufzukommen. Damit wird die Infrastruktur verwundbarer gegenüber den genannten Störungspotenzialen.

Pandemien

Epidemie bezeichnet das stark gehäufte, örtlich und zeitlich begrenzte Vorkommen einer Erkrankung, darunter viele Tropenkrankheiten wie Dengue, aber auch Cholera. Eine Pandemie ist eine Epidemie, die sich über Länder und Kontinente hinweg ausbreitet. Darunter fallen die Immunschwächekrankheit Aids sowie SARS (2002/03) oder der 2009 zunächst in Mexiko aufgetretene Virus-Typ H1N1 (Schweinegrippe). Dabei zeigte sich einmal mehr, wie schnell sich ein Virus international verbreiten kann. In einer globalisierten Welt ist die Verbreitung von Krankheiten nur schwer aufzuhalten. Am Beispiel der Vogelgrippe zeigen die Allianz und das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung, dass das Risiko des Ausbruchs weltweiter Pandemien zwar eher als gering einzuschätzen ist. Sollte jedoch der Ernstfall eintreten, hervorgerufen durch ein mutiertes Virus oder durch einen neuartigen, bislang unbekannten Erreger, so würden dessen Folgen viele Bereiche berühren.13

Bei der Einschätzung der wirtschaftlichen Folgen von Pandemien gibt es zahlreiche Unsicherheiten, wie zum Beispiel das Ausmaß oder die Dauer der Pandemie, die Reaktionen aus der Bevölkerung und der Unternehmen wie auch die Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft insgesamt. Es gibt demnach zahlreiche Risiken, die die Vorhersage volkswirtschaftlicher Auswirkungen schwierig gestalten.

Insbesondere in den Entwicklungs- und Schwellenländern ist die öffentliche Gesundheit ein zentraler Faktor, um wirtschaftliche Entwicklungsziele zu erreichen. So veröffentlichte der IWF bereits 2004 eine Studie mit dem Titel „Health and Development: Why investing in health is critical for achieving economic development goals.“14 Und auf dem G-8-Gipfel in Kanada im Juni 2010 wurde als einzige neue Initiative ein Programm zur Verbesserung der Mütter- und Kindergesundheit ins Leben gerufen.

Vor allem HIV/Aids ist eines der größten Probleme der Entwicklungsländer, da es in erster Linie die erwerbsfähigen Erwachsenen trifft. Dies führt zu Wachstumseinbußen und sozialen Spannungen. In einer Studie der Weltbank von Clive Bell kommen die Autoren zusätzlich zu dem Ergebnis, dass die HIV/Aids-Pandemie auch die Akkumulation von Bildung hemmt, da durch Einkommenseinbußen, die durch die Krankheit entstehen, weniger in die Bildung der Kinder und somit in die Zukunft investiert wird.15 Dies wiederum hemmt die langfristige Entwicklung von Staaten.

Aber auch in den Industrieländern sind Pandemien ein erhebliches Wirtschaftsrisiko. So können steigende Gesundheitskosten, ein massiver Arbeitsausfall oder die Störung von Zulieferketten die Wirtschaft stark beeinträchtigen, insbesondere, da letztere mittlerweile global vernetzt sind. Epidemien und Pandemien werden somit zu Recht vom Weltwirtschaftsforum als globales Risiko eingeschätzt.

Ein neuer Umgang mit Risiken

Sicherlich ist wirtschaftliches Handeln immer mit Risiken verbunden. Auch in Zukunft wird es unmöglich sein, risikolos Gewinne zu erwirtschaften. Angesichts der kostspieligen Katastrophen und Krisen im vergangenen Jahr stellt sich jedoch erneut die drängende Frage nach einem ganzheitlichen Risikomanagementansatz. Dieser umfasst grundsätzlich die Phasen Identifikation, Messung und Kontrolle.

Auf Grundlage der Nationalen Strategie zum Schutz Kritischer Infrastrukturen des Bundesinnenministeriums lassen sich drei für diese Phasen relevante Aspekte einer guten nationalen Risikostrategie ableiten: 1.    eine offene Risikokommunikation zwischen Staat, Unternehmen, Bürgern und Öffentlichkeit, auch um eine bessere Risikoperzeption in der Gesellschaft zu fördern; 2.    die Zusammenarbeit aller relevanten Akteure bei der Prävention und Bewältigung von Ereignissen, und 3.    die verstärkte Selbstverpflichtung der Unternehmen zur Prävention und zur Bewältigung von Ereignissen. Eine gute nationale Risikostrategie erzeugt keine Panik, öffnet aber die Augen für schwarze Schwäne und setzt der Kultur der Spillonomics ein Ende. Der Umgang mit Risiken wird jedoch durch zwei Faktoren erschwert: Erstens sind viele Risiken heute globaler Natur. Daher müssen sie auch auf internationaler Ebene gemanagt werden. Gesellschaften sind jedoch unterschiedlich stark von Risiken betroffen, nehmen diese verschieden wahr und bewerten sie oft nicht gleicher-maßen. Überdies variieren Akzeptanz und Legitimität des Risikomanagements von Land zu Land. Die unterschiedlichen nationalen Strategien erschweren ein international abgestimmtes Vorgehen.

Zweitens sind viele Risiken heute vernetzt. Deshalb muss ihr Management gleichzeitig verschiedene Politikfelder einbeziehen. So können beispielsweise die Risiken des Klimawandels nicht allein durch die Klima- und Umweltpolitik gemanagt werden, sondern verlangen unter anderem auch nach wirtschaftspolitischen Strategien ebenso wie nach sicherheits-  und entwickungspolitischen Maßnahmen. Risikoerkennung, -bewertung und -management variieren jedoch von Politikfeld zu Politikfeld. Entsprechend unterschiedlich fällt das Management in verschiedenen Politikfeldern aus. Angesichts dessen überrascht es kaum, dass es bislang wenig institutionalisierte Foren des Risikomanagements auf internationaler Ebene gibt und bestehende Kooperationsforen nicht immer zu einem befriedigenden Ergebnis geführt haben.

Zentrale Herausforderung für die Politik ist daher nicht nur die Schaffung einer neuen Risikokultur im eigenen Land. Um Risiken angemessen zu managen, bedarf es einer stärkeren internationalen Kooperation und der Entwicklung gemeinsamer Managementansätze. Auch wenn die Staats- und Regierungschefs während der diesjährigen G-8- und G-20-Gipfel in Kanada die Chance zunächst vertan haben, sollte das Window of Opportunity, das durch die Wirtschafts- und Finanzkrise entstanden ist, so schnell wie möglich genutzt werden.

Dr. STORMY-ANNIKA MILDNER koordiniert den Forschungsschwerpunkt „Konkurrenz um knappe Ressourcen“ in der SWP.

Dr. CLAUDIA SCHMUCKER leitet das Programm „Globalisierung und Weltwirtschaft“ im Forschungsinstitut der DGAP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2010, S. 74 - 85

Teilen

Mehr von den Autoren