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01. Mai 2008

Schutzmacht Staat

Das Bankenversagen zeigt: Die Propheten eines freien Spieles der Kräfte haben geirrt. Die Frage, wie wir leben wollen, kann der Markt nicht beantworten

In seiner Tragweite noch nicht annähernd begriffen ist der Satz, mit dem sich der Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, anlässlich der Bankenkrise an die Öffentlichkeit wandte: Die Selbstheilungskräfte des Marktes seien in diesem Falle überfordert, der Staat möge helfend eingreifen. Die Süddeutsche Zeitung sprach von einem historischen Moment; und in der Tat reibt man sich noch immer die Augen. Hieß es nicht bis vor kurzem, der Markt regele naturwüchsig alles zum Guten, jeder lenkende Eingriff in das freie Spiel der konkurrierenden Kräfte sei von Übel?

Offenbar galt dies, jedenfalls was die Banken und ihren riskanten Derivatehandel anbelangt, nur für Zeiten steigender Renditen. Im Falle von Verlusten ist nicht mehr der Markt, sondern der Staat verantwortlich. Der Glaube an Adam Smiths unsichtbare Hand kennt offenbar Grenzen; man kann sie sich nur als segnende vorstellen. Tritt die unsichtbare Hand des Marktgeschehens jedoch als Rächerin auf, will man ihrer Autorität nicht trauen. Die ökonomische Theologie hat augenscheinlich ihr Theodizeeproblem entdeckt.

Gingen früher Firmen bankrott, sprachen die Wirtschaftsliberalen, ihrem Propheten Schumpeter folgend, von „schöpferischer Zerstörung“ und warnten vor jeder Sentimentalität. Was aber, wenn nur mehr zerstörerische Zerstörung zu erkennen ist? Muss, kann man dann von einer Grausamkeit der unsichtbaren Hand sprechen? Ackermann jedenfalls scheint die darin liegende Blasphemie zu fürchten und hat bei einer Erklärungsvariante Zuflucht genommen, die ebenfalls aus der christlichen Theologie bekannt ist, wenn auch als Ketzerei. Gott ist danach die Quelle des Glückes in der Welt, das Unglück hingegen ist menschengemacht, und selbst wenn es im Gewand von Naturkatastrophen daherkommt, steckt in ihm doch die menschliche Erbsünde. Nach diesem Muster ist seinerzeit das Erdbeben von Lissabon 1755 gedeutet worden: Die portugiesischen Bischöfe erklärten es als verdiente Quittung für das sündige Treiben des Volkes. Weniges im 18. Jahrhundert hat der Autorität der katholischen Kirche so geschadet wie dieser Erklärungsversuch: Voltaire hat sich davon bei seinen Angriffen gegen die zynische Mitleidlosigkeit der Kirche inspirieren lassen, und der große portugiesische Staatskanzler der Aufklärung, Marques de Pombal, Architekt des Wiederaufbaus, nutzte den Anlass, die Macht der Kirche rigoros zu beschneiden und die Jesuiten aus dem Land zu jagen. Die Kleriker, die in unserem Fall des Bankenversagens aus dem Haus gejagt werden müssten, wären die Propheten und Prediger des freien Marktes, die glaubten, auf jeden Eingriff des Staates verzichten zu können.

Es ist freilich schwer zu sagen, ob in weiteren, möglicherweise eskalierenden Wirtschaftskrisen nach einem Marques de Pombal gerufen würde, ja ob sich überhaupt jemand finden ließe, der gegen weitere ökonomische Fastenpredigten zu Felde zöge, mit nüchterner Staatsräson den deregulierten Markt wieder ordnete und menschenfreundlich fesselte. Ist es überhaupt denkbar, dass nach allen Verwerfungen des globalisierten Kapitalismus noch einmal der Staat als Retter und Hoffnung der Menschen auftreten könnte?

Der Berliner Essayist Friedrich Dieckmann hat neulich bei einem Gedenkabend zum 80. Geburtstag des einst berühmten Dramatikers Peter Hacks darüber spekuliert, unter welchen Bedingungen dessen Ideal von Staatskunst heute wieder verstanden werden könnte. Der Hintergrund der DDR und ihrer marxistischen Dogmatik ist verschwunden. Aber wenn der Staat als Schutzmacht des Bürgers gegen die Zumutungen des ökonomischen Darwinismus wieder erstarken würde, dann könnten sich auch jene Fragen und Ansprüche wieder stellen, die Hacks an den Staat richtete. Dessen verehrte Leitfiguren waren bekanntlich Stalin und Ulbricht; und diese trotzig vorgetragene Sympathie für die Diktatur hat nicht wenig zum Ruin seines Ansehens beigetragen. Aber heute, nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staatenwelt, ist es zumindest essayistisch möglich, sich über die Logik des Kalten Krieges hinwegzusetzen und zu verstehen, was Hacks, der gewiss kein Zyniker war, propagierte. Es war das Konzept Zukunft, einer mit bewusstem Willen gestalteten Zukunft. Die Kommunisten haben ihr Konzept mit gewiss nicht zu leugnender Brutalität durchzusetzen versucht. Das Eigentümliche unserer Gegenwart liegt aber weniger in dem Verzicht auf die menschheitsbeglückende Gewalt als in dem Verzicht auf politische Zukunftsgestaltung überhaupt. Wir wagen nicht mehr, eine gesellschaftliche Glücksvorstellung gegen das freie Spiel der Kräfte durchzusetzen, wir wagen nicht einmal mehr, Vernunft und Humanität zum Kriterium gelingender Zukunft zu machen. Wir sind vollständig resigniert. Was ehemals als Ergebnis von Politik oder doch Menschenwerk galt, betrachten wir als unausweichliches Ergebnis einer Ökonomie, der man genauso gut den Namen Schicksal geben könnte.

Vielleicht haben am Ende aber doch gerade Ökonomen wie Ackermann die überlegene Einsicht in die Grenzen ihres Handwerks, wenn sie nach der Politik rufen, wo ihre Profession versagt. Und in der Tat können sie nur innerhalb ihres ökonomischen Systems funktionieren. Die Bestimmung von Zweck und Nutzen, die notwendige Einhegung des Systems von außen müssen die Politik, der Staat, mithin der Souverän, also wir Bürger betreiben. Die Frage, wie wir leben wollen, kann der Markt nicht beantworten.

JENS JESSEN, geb.1955, war Feuilletonredakteur der FAZ, Feuilletonchef der Berliner Zeitung  und ist seit dem Jahr 2000 Feuilletonchef der ZEIT in Hamburg.