Gegen den Strich

01. Sep 2019

Saudi-Arabien

Fünf Thesen auf dem Prüfstand

Herrscht in Riad ein Verbrecherregime, oder ist das Land ein verlässlicher Partner beim Handel und im Kampf gegen den Terrorismus? Fünf Thesen auf dem Prüfstand

„Saudi-Arabien will Krieg mit dem Iran“

Nein. Trotz der massiven anti-iranischen Rhetorik des Kronprinzen Mohammed bin Salman, der den Iran als Wurzel allen Übels in der Region bezeichnet und Revolutionsführer Ayatollah Khamenei als „neuen Hitler“ dämonisiert, wünscht sich niemand in Riad explizit einen Krieg. Zwar gilt Teheran in ­Saudi-Arabien seit der Revolution vor 40 Jahren als ärgster Konkurrent um die regionale Vormachtstellung am Golf. Man hat hier genau beobachtet, wie der Iran das nach dem Arabischen Frühling entstandene Machtvakuum ausgenutzt und seine Präsenz in der Region über die Hisbollah, die Huthis und iranische Milizen im Irak sowie die Unterstützung Bashar al-Assads in Syrien ausgeweitet hat. Dieses Eindringen in das direkte Einflussgebiet Saudi-Arabiens führte in Riad zu einer regelrechten „Iranoia“. Mit dem Abschluss des iranischen Nuklearabkommens sah sich die saudische Führung insbesondere durch die USA unter dem damaligen Präsidenten Barack Obama brüskiert und verraten, da ihrem Erzfeind hierdurch wieder eine Rückkehr auf das internationale Parkett erlaubt wurde, ohne dass der Iran seine interventionistische Regionalpolitik hätte revidieren müssen.

All das betrachtet Saudi-Arabien mit wachsender Sorge. Dennoch: Ein militärischer Konflikt würde die fragile direkte Nachbarschaft des Königreichs noch weiter destabilisieren und damit seine nationale Sicherheit gefährden. Zudem ist auch den meisten Experten im Königreich bewusst, dass eine offene Konfrontation kaum zu gewinnen wäre. Die iranischen Truppen dürften den saudischen an Kampferfahrung, Motivation und strategischem Geschick weit überlegen sein. Außerdem fürchtet sich das saudische Königshaus vor den iranischen Verbündeten in der Region – insbesondere vor der libanesischen Hisbollah und den jemenitischen Huthi-Rebellen, die aus saudischer Perspektive als Vasallen und Marionetten des Iran im Falle eines Krieges rasch mobilisiert werden könnten.

Ein direktes militärisches Vorgehen gegen den Iran käme nur in Kooperation mit starken Verbündeten infrage. Dazu zählen in erster Linie die USA: Präsident Donald Trumps anti-iranische Rhetorik und seine Aufkündigung des Nuklearabkommens mit dem Iran werden von der saudischen Führung unterstützt. Riad hat sich unter anderem bereit erklärt, US-amerikanische Truppen im eigenen Land zu stationieren. Dahinter steckt Kalkül: Man will alles dafür tun, Wucht und Einfluss des iranischen Rivalen einzudämmen, sich aber selbst möglichst aus direkten Konflikten heraushalten. Stattdessen sollen die USA die Politik des maximalen Drucks fortführen. Dafür sucht das Königreich sogar die Nähe zum einstigen Erzfeind Israel. Der gilt zwar bei einer Mehrheit der saudischen Bevölkerung als Unterdrücker der palästinensischen Brüder und Schwestern, doch Teile der politischen Führung können sich eine sicherheitspolitische Zweckehe mit der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vorstellen. Ganz nach dem Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.

„Riad verbreitet eine rückständige Form des Islam und fördert den Terrorismus“

Nein, sofern die amtierende Regierung gemeint ist. Das saudische Königshaus hat seit den Anschlägen vom 11. September 2001 umfassende Maßnahmen eingeleitet, um die Finanzierung von dschihadistischen Akteuren auf der ganzen Welt zu stoppen. Nachdem bekannt geworden war, dass es sich beim Drahtzieher der Anschläge, bei Osama bin Laden um einen ehemaligen saudischen Staatsangehörigen gehandelt hatte und 15 der 19 Attentäter aus dem Königreich stammten, wuchs der Druck auf die damalige Führung, sich klar und konsequent gegen den Dschihadismus zu positionieren. Zwischen 2003 und 2005 kam es sogar im Königreich selbst zu Terroranschlägen. Das erhöhte den Druck, sich der dschihadistischen Bedrohung zu stellen. Allerdings musste das Königshaus einen Balanceakt vollführen, da sich Teile der dschihadistischen Ideologie an der saudischen Islamauslegung des Wahhabismus orientieren, der im Königreich als Staatsglaube gilt. Er fordert eine Rückkehr zur Lebensweise des Propheten Mohammed und seiner Anhänger – ohne weltlichen Luxus.

Außerdem legitimiert er die Verfolgung von „Ungläubigen“, zu denen nach wahhabitischer Lesart unter anderem die Schiiten gehören. So hat sich in Saudi-Arabien eine ultraorthodoxe und puristische Islamauffassung etabliert, die viele dschihadistische Denker inspiriert hat. Gleichzeitig betrieb Saudi-Arabien vor allem in den 1980er Jahren eine massive Missionierungskampagne, um den Wahhabismus in der arabischen Welt, in Afrika, Südasien und in Südosteuropa zu verbreiten. Staatlich unterstützte Stiftungen und Wohlfahrtseinrichtungen bauten Moscheen, verteilten kostenlose Koranexemplare und finanzierten die Predigerausbildung. Dies schuf den Nährboden für Radikalisierung und Indoktrinierung, während gleichzeitig mit viel saudischem Geld Organisationen wie die von bin Laden gegründete Al-Kaida bei ihrem Kampf gegen die sowjetische Invasion in Afghanistan (1980–1988) mitfinanziert wurden.

Heute ist es jedoch unwahrscheinlich, dass die saudische Regierung noch direkte Unterstützung an dschihadistische Gruppen leistet. Stattdessen präsentiert sich das Königshaus als verlässlicher Partner im Kampf gegen den Terrorismus und stellt westlichen Geheimdiensten umfassende Informationen zur Verfügung. Die ersten Deradikalisierungsprogramme hat man bereits vor über zehn Jahren eingerichtet. Dubiose religiöse Stiftungen wurden wegen Terrorverdacht geschlossen, und strikte Kontrollmechanismen wurden eingeführt, um die Terrorfinanzierung einzudämmen.

Der Kronprinz betont immer wieder, dass der Kampf gegen den Terrorismus ein Schwerpunkt der saudischen Politik sei. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass nichtstaatliche Akteure wie religiöse Stiftungen, Privatpersonen wie Prediger oder Geschäftsleute noch immer dschihadistische Gruppen in Syrien, dem Irak oder Pakistan finanziell unterstützen. Auch Regierungsvertreter Saudi-Arabiens halten das für möglich, betonen aber, dass der Staat alles dafür tue, solche Aktivitäten zu verhindern.

Da jedoch die Strahlkraft des Wahhabismus nach wie vor groß ist, würde der Versuch einer rein sicherheitspolitischen Bekämpfung des dschihadistischen Gedankenguts zu kurz greifen. Um Denkweisen zu verändern, müssten der Wahhabismus reformiert und so die Wurzeln des Dschihadismus auf ideeller Ebene bekämpft werden. Dies fordern mittlerweile auch einige saudische Intellektuelle. Darauf reagiert der saudische Staat allerdings nur halbherzig, um Teile der wahhabitischen Religionsgelehrten nicht zu brüskieren.

„Saudi-Arabien ist verantwortlich für die humanitäre Katastrophe im Jemen“

Ja, allerdings nicht allein. Vor den Augen der Welt spielt sich im Jemen eine der größten Tragödien unserer Zeit ab: Bis Ende dieses Jahres könnte die Zahl der Getöteten auf über 230 000 Menschen gestiegen sein. Mehr als 14 Millionen Jemeniten leiden unter Hunger und Krankheiten – knapp die Hälfte der Bevölkerung. In den Medien wird oftmals die durch Saudi-Arabien angeführte Allianz, die im März 2015 die militärische Operation im Jemen startete, als alleinverantwortlich für die humanitäre Katastrophe präsentiert.

In der Tat tragen die Luftschläge, die Seeblockade und die Kämpfe zwischen der Allianz und den Huthi-Rebellen, gegen deren Vormarsch sich die Intervention richtet, zum Leid der Zivilbevölkerung bei. Gleichzeitig sind aber auch die Huthis selbst dafür verantwortlich, dass sich die Situation dramatisch verschlechtert hat: Berichte über menschliche Schutzschilde und den Einsatz von Kindersoldaten in den Reihen der Huthis zeigen, wie brutal und verbissen dieser Krieg auf allen Seiten geführt wird. Regelmäßig schlagen mittlerweile Raketen aus Huthi-Stellungen auf saudischem Territorium ein, was die Unversöhnlichkeit auf Seiten des Königreichs weiter erhöht. Gut und Böse lassen sich auch in diesem Konflikt nicht einfach unterscheiden.

Ohne die Bereitschaft der Beteiligten, allen voran Saudi-Arabiens und der Huthis, eine diplomatische Lösung zu finden, ist ein Ende des Konflikts nicht denkbar. Die saudische Führung zeigt sich bislang nicht bereit, ernsthaft über eine Einbindung der Huthi-Rebellen in ein Nachkriegsjemen zu diskutieren. Riad besteht darauf, dass die sogenannte legitime Regierung unter dem Präsidenten Abd Mansur al-Hadi aus dem Exil zurückkehrt, obwohl sie im Jemen jegliche Autorität verloren hat. Die Huthis gelten der saudischen Regierung als enge Verbündete des Iran, was sie als politische Verhandlungspartner diskreditiert. Zwar hat eine Reihe von Verhandlungen stattgefunden, um Gefangenenaustausch, einen Waffenstillstand und die Einfuhr von medizinischen Hilfsmitteln zu regeln; über erste Annäherungen ist man aber nicht hinausgekommen.

Vor wenigen Wochen ist nun bekannt geworden, dass sich der engste Partner Saudi-Arabiens, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), zumindest teilweise militärisch aus dem Jemen zurückzieht. Das könnte eine neue Dynamik auslösen, da das Königreich ohne die Unterstützung der VAE noch weniger Aussichten auf einen militärischen Sieg hat. Bereits jetzt steht die saudische Regierung unter massivem Druck, im Jemen Erfolge zu präsentieren: Nach wie vor konnte das erklärte Ziel, die Hauptstadt Sanaa von den Huthis zu befreien, nicht erreicht werden. Der Krieg verschlingt Schätzungen zufolge jeden Monat bis zu 100 Millionen US-Dollar; er hat zudem die internationale Reputation Saudi-Arabiens massiv beschädigt. So könnte die Bereitschaft auf saudischer Seite wachsen, eine diplomatische Lösung zu erzielen: Damit könnte der nach dem Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi heftig umstrittene Kronprinz Mohammed bin Salman einerseits seinen Ruf verbessern und andererseits den steigenden innenpolitischen Druck abfedern.

„Die sogenannten ‚Reformen‘ des saudischen Kronprinzen sind nur kosmetischer Natur“

Nein, zumindest nicht nur. Zugegeben, von einer politischen Öffnung kann keine Rede sein, ganz im Gegenteil: Unter Mohammed bin Salman hat sich die Verfolgung von Kritikern, von Aktivisten und zivilgesellschaftlichen Akteuren zu einer Kampagne entwickelt, die eine Atmosphäre der Angst schüren soll. Dafür steht auch der Mord an Jamal Khashoggi. Unabhängig davon, ob tatsächlich der Kronprinz persönlich für die Ermordung verantwortlich war: Ein solch brutales Vorgehen sendet eine blutige Botschaft an alle Kritiker des Königshauses: Wer sich in irgendeiner Weise gegen die Politik des Kronprinzen stellt, gerät ins Visier der Staatsgewalt.

Mohammed bin Salman will sich als unangefochtener Anführer präsentieren; er duldet keine Widerworte. Früher war Kritik an korrupten Regierungsbeamten oder administrativen Missständen insbesondere in sozialen Medien im Königreich an der Tagesordnung. Heute ist das anders: Der Kronprinz generiert sich als Personifikation des Wandels, sodass Kritik an Fehlentwicklungen als direkte Kritik an seiner Person ausgelegt wird. Somit haben sich die politischen Freiräume in Saudi-Arabien nochmals reduziert.

Doch erlebt Saudi-Arabien unter Mohammed bin Salman gleichzeitig einen Modernisierungskurs, der in bestimmten Bereichen einen tiefgreifenden Wandel und eine gesellschaftliche Öffnung forciert. Das richtet sich vor allem an eine einflussreiche Jugend, die in den vergangenen Jahren stärker ins Rampenlicht drängt. 70 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre. Viele von ihnen haben im Ausland studiert und wollen nicht nur ihr Leben aus enggefassten traditionellen Zwängen lösen, sondern auch ein „neues Saudi-Arabien“ aufbauen, wie man immer wieder hört.

Dafür sind sie bereit, Risiken einzugehen und sich von den traditionellen Annehmlichkeiten des saudischen Wohlfahrtssystems zu verabschieden. Allen ist bewusst, dass der auf dem Erdöl beruhende Reichtum des Landes zur Neige geht. Saudi-Arabien braucht einen gesellschaftlichen Wandel, an dessen Ende eine dynamische, motivierte und ambitionierte Gesellschaft die wirtschaftliche Diversifizierung vorantreibt. Dieser Prozess wird nur funktionieren, wenn er von einem fundamentalen Mentalitätswandel begleitet wird. Und hier gehört der Kronprinz durchaus zu den Treibern: Unter ihm wird die Vorherrschaft der Männer geschwächt und die Rolle der Frauen gestärkt. Prominente Beispiele dafür sind die Aufhebung des Fahrverbots für Frauen und die Möglichkeit für Frauen über 21 Jahren, ohne einen männlichen Vormund ins Ausland zu reisen. Frauen werden zu seiner wichtigsten Triebkraft des sozioökonomischen Wandels.

Dahinter steckt politisches Kalkül: Mohammed bin Salman braucht gut ausgebildete und engagierte junge Frauen, um die Wirtschaft zu diversifizieren und soziale Unzufriedenheit zu verhindern. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei etwa 30 bis 40 Prozent, ein Drittel aller arbeitsfähigen Frauen ist ohne Job. Die Maßnahmen müssen mittelfristig erfolgreich sein, um der jungen Bevölkerung zu beweisen, dass der Kronprinz das Land in eine bessere Zukunft führen kann. An der erfolgreichen Umsetzung seiner politischen Agenda hängt damit auch seine persönliche Karriere als designierter König und Nachfolger seines greisen Vaters Salman. Allein aus diesem Grund ist der Modernisierungskurs ernst gemeint.

„Ein Stopp der Waffenlieferungen verringert Berlins Einflussmöglichkeiten auf Riads Politik“

Keine Sorge. Deutschland kommt als Lieferant von Rüstungsgütern nur eine geringe Bedeutung zu: Der Umfang deutscher Rüstungsgüter am saudischen Gesamtvolumen belief sich zwischen 2013 und 2017 nur auf 1 Prozent, während aus den USA 61 Prozent, aus Großbritannien 23 Prozent und aus Frankreich 3,6 Prozent aller saudischen Rüstungsimporte stammten. So betonen saudische Offizielle immer wieder, dass man auf deutsche Rüstungsgüter verzichten könne, wenn sich die deutsche Politik dagegen entscheide.

Das Argument ist offenbar eher ein Versuch, davon abzulenken, wie wichtig das Königreich im Gegenzug als Abnehmer für die deutsche Rüstungsindustrie ist: Im Jahr 2018 lag Saudi-Arabien nach Algerien auf dem zweiten Platz deutscher Rüstungsexporte. Aus saudischer Sicht ist die Bundesrepublik allerdings nur ein Partner unter vielen. Überhaupt verfügt Deutschland im Königreich schlichtweg über zu wenig politisches Gewicht. Es sollte seine Rolle nicht überschätzen. Institutionelle oder persönliche Netzwerke zu saudischen Entscheidungsträgern existieren kaum. Bezeichnend, dass noch kein Treffen zwischen Kanzlerin Angela Merkel und Mohammed bin Salman stattgefunden hat.

Die erhitzte öffentliche Diskussion um das Für und Wider der Waffenexporte in der deutschen Öffentlichkeit verhindert außerdem eine differenzierte Debatte über den Umgang mit dem problematischen Partner Saudi-Arabien. Eine eindeutige Entscheidung gegen Rüstungslieferungen könnte die festgefahrene Diskussion aufbrechen und neue Möglichkeiten im bilateralen Verhältnis aufzeigen: So gibt es durchaus Potenziale in der Bildungskooperation, im Kulturdialog, im Know-how-Transfer oder in Wirtschaftsbereichen wie erneuerbare Energien, Tourismus und Unterhaltung.

Berlin könnte neue Netzwerke knüpfen und gleichzeitig ein Signal an das Königreich senden, dass Deutschland eine verantwortungsbewusste Außenpolitik betreibt, die einerseits das saudische Vorgehen im Jemen ablehnt, andererseits aber neue Wege der Kooperation anbietet. Damit könnte die deutsche Politik zeigen, dass man sich der strategischen Bedeutung Saudi-Arabiens bewusst ist und deswegen auch die Zusammenarbeit sucht – aber nicht um jeden Preis.

Sebastian Sons arbeitet unter anderem als Saudi-Arabien- Experte für das Bonner Forschungsinstitut CARPO. Er ist Associate Fellow der DGAP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2019, S. 70-75

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