Buchkritik

11. Apr. 2025

Revolution am rechten Rand

In Europa tobt ein Kulturkampf. Seine Protagonisten heißen Kickl, Weidel, Orbán oder Meloni, sein Ziel ist die Zerstörung der liberalen Demokratie, seine Methode der Populismus. Wo fing das an, wie lässt es sich aufhalten? Vier Versuche.

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Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
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Ein leiser Seufzer der Erleichterung ging Anfang März durch Europa. „Kompromiss statt Kickl“, titelte die ZEIT aus Hamburg, „Österreich: Die extreme Rechte ist raus“, meldete die Rai aus Rom, und der Standard aus Wien traute dem Frieden noch nicht so recht: „Wird Österreichs neue Regierung halten?“.

Im zweiten Anlauf hatte sich die christlich-soziale ÖVP mit Sozialdemokraten und liberalen Neos auf eine Koalition geeinigt. Damit war es amtlich: Herbert Kickl von der FPÖ würde nicht Kanzler werden, der europäische Rechtspopulismus keinen weiteren Erfolg feiern. 

Woran die Gespräche zwischen ÖVP und FPÖ zuvor gescheitert waren, blieb unklar. Von Maximalforderungen Kickls war die Rede, aber auch davon, dass die ÖVP, immerhin, „ein bisschen Rest-Anstand bewahrt“ habe, wie es der Wiener ARD-Korrespondent Oliver Soos nannte. Man ist bescheiden geworden in Europa. 
 

Heimat, Helden, Hegel

Vor 25 Jahren sah das noch anders aus. Als die FPÖ unter Kickls politischem Ziehvater Jörg Haider im Februar 2000 den Juniorpartner in einer ÖVP-Regierung gab, gingen Hunderttausende in Wien und anderswo dagegen auf die Straße. „Wehret den Anfängen“, lautete die Losung der Stunde. 

Genutzt hat es im Rückblick nicht viel. Haider war „ein singuläres Phänomen damals in Europa“, sagt Robert Treichler, Journalist des österreichischen Magazins Profil, Kickl dagegen sei Teil einer immer größer werdenden politischen Gruppierung. Über diese Kulturrevolution hat Treichler mit seinem Profil-Mitstreiter Gernot Bauer ein Buch geschrieben: „Kickl und die Zerstörung Europas“. 

1968 wird Herbert Kickl in Radenthein, Kärnten geboren, im Jahr der europäischen Studentenrevolte. Der Heranwachsende begeistert sich fürs Militärische, für die Philosophie. Alles Linke wird ihm zeitlebens suspekt bleiben, alles „Fremde“ ebenso. „Heimat, Helden, Hegel“, fassen die Autoren das zusammen.

Wie der Niederländer Geert Wilders (Jahrgang 1963), die Französin Marine Le Pen (1968), die Italienerin Giorgia Meloni (1977) oder die Deutsche Alice Weidel (1979) wird Kickl in einem Europa der Christ- und Sozialdemokraten sozialisiert. Zwar gibt es Parteien, die weit rechts der Konservativen angesiedelt sind, doch sie sind einem Parteiverbot weit näher als einer Machtoption.

Eine Ausnahme bildet da die Freiheitliche Partei Österreichs, kurz FPÖ. Eine Partei, „die Ex-­Nazis für Ex-Nazis gegründet haben“, zitieren die Autoren den Politologen Anton Pelinka, und die doch wie selbstverständlich Teil der österreichischen Parteien­landschaft ist. 

1983 ist die FPÖ erstmals an einer Regierung beteiligt, drei Jahre später übernimmt Jörg Haider die Parteiführung, auch er ein Kärntner. Mit seinem jungenhaft-aufmüpfigen Auftreten, seinem spöttisch-aggressiven Tonfall und seinem eingängigen Vokabular wird Haider nicht nur zum politischen Idol und später zum Mentor Kickls. Er ist auch der „Vater des Rechtspopulismus, wie man ihn heute in Europa versteht“, so Bauer und Treichler.

Stilistisch unterscheiden sich Haider oder später Marine Le Pen und Giorgia Meloni deutlich vom Bild der männerbündlerischen Rechtsparteien. Inhaltlich eint sie der Kampf gegen das „System“, gegen Einwanderung, gegen die EU. Alles das ist schon bei Haider angelegt, zeigen die Autoren, es wird später nur noch ergänzt durch Feindbilder wie Gender oder Globalisierung.

Ähnliches gilt für das Weltbild der Rechtspopulisten, das der Politologe Jan-Werner Müller so beschreibt: Einem „moralisch reinen, homogenen Volk“ stünden unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüber – wobei diese Art von Eliten eigentlich gar nicht wirklich zum Volk gehöre. Oder, wie es in einem Slo­gan Haiders aus dem Wahlkampf 1994 heißt: „Sie sind gegen ihn, weil er für Euch ist.“ 

1995 stößt dann ein abgebrochener Philosophiestudent namens Herbert Kickl zur FPÖ. Mit der Ankündigung „Ich kann zwar nichts, aber ich kann alles lernen“ bewirbt er sich bei der Partei. Und er hält Wort. Obwohl für einen Politiker eher menschenscheu, „ein Volkstribun mit Kontaktstörung“, arbeitet sich Kickl in der Parteihierarchie rasch nach oben, entwickelt fremdenfeindliche Slogans wie „Daham statt Islam“, wird Minister, Parteichef und schließlich Kanzlerkandidat. Bundeskanzler wird Kickl, wie gesehen, erst einmal nicht. Noch nicht?
 

Italiens Schmuddelkinder

Weiter südlich hält die Brandmauer gegen rechtsaußen etwas länger. Und wie später in den USA ist der Abbruchunternehmer auch hier ein milliardenschwerer Geschäftsmann: Silvio Berlusconi, Herrscher über Werbeagenturen, Fernsehketten und Baufirmen.

Wir schreiben das Jahr 1993. Soeben ist das traditionelle Parteiengefüge Italiens in einem gigantischen Korruptionsskandal hinweggefegt worden und mit ihm das Vertrauen der Menschen in die Politik. Vor den Wahlen im Frühjahr 1994 gilt ein Sieg der Linken als ausgemacht. Düstere Aussichten für Silvio Berlusconi. Für keine seiner geschäftlichen Kernkompetenzen – Klüngel, Korruption, Monopolismus – hätte Berlusconi von einer linken Regierung viel Verständnis zu erwarten. Was nun?

Berlusconi reagiert mit einem „aus der Verzweiflung geborenen Geniestreich“, schreibt der Italien-Korrespondent der taz Michael Braun in „Von Berlusconi zu Meloni“: Wenn dem Unternehmer die politische Protektion wegbrach, dann musste er sie sich eben selbst organisieren, mit der Gründung einer neuen Partei. 

„Forza Italia“ tauft Berlusconi sein Machtvehikel, nach einem Fußball-Schlachtruf. Für die Wahl tut er sich mit der separatistischen Lega Nord zusammen und mit den „Schmuddelkindern“ (Braun) des neofaschistischen, kurz zuvor in Alleanza Nazionale umbenannten Movimento Sociale Italiano. Der Sündenfall.

Die folgenden gut 30 Jahre gleichen einem Quentin-Tarantino-Film: An der Oberfläche passiert so wahnsinnig viel, dass man kaum merkt, wie dünn der Plot ist. Regierungen aller Couleur kommen und gehen, mal mit, mal ohne Berlusconi. Koalitionen werden geschmiedet und zerbrechen, und vom Rande der Geschichte winken Figuren wie die Linkspopulisten der 5 Sterne – zeitweilig gehypt, erfinden sie sich gerade mühsam neu.

Doch das ist der Blick von außen, und ihm entgeht das Wesentliche. Es lohnt, das im Detail bei Braun nachzulesen: Wie die linken und moderaten Kräfte Italiens über Jahrzehnte ihre Unfähigkeit beweisen, die politischen und wirtschaftlichen Probleme des Landes zu lösen. Und wie das die radikale Rechte so sehr erstarken lässt, dass die Eroberung der Macht für sie zum realistischen Szenario wird.

Im Herbst 2022 ist es passiert: Giorgia Meloni, 45 Jahre, Chefin der postfaschistischen Fratelli d’Italia, wird Ministerpräsidentin in einer Rechtsallianz, zu der neben den Fratelli auch Lega und Forza Italia gehören. Eine weiter rechts stehende Regierung hatte es in den Demokratien Westeuropas seit 1945 nicht gegeben.

Dass der Aufschrei der Empörung vergleichsweise leise bleibt, hat mit der Macht der Gewöhnung zu tun, aber auch mit Melonis Fähigkeit, den rechtspopulistischen Sound ihrer Partei in der Öffentlichkeit runterzuregeln. Und es hat damit zu tun, dass Italiens Regierungschefin sich außenpolitisch als zuverlässige Kantonistin erweist, besonders in der europäischen Gretchenfrage „Wie hältst du’s mit der Ukraine?“. 

Doch davon sollte man sich nicht täuschen lassen, mahnt Braun. In Wahrheit pflege Meloni eifrig die faschistischen Traditionen ihrer Partei, die aus der Alleanza Nazionale hervorgegangen war. Und sie arbeite in aller Stille daran, Italien umzugestalten; vor allem mithilfe einer Verfassungsreform, die das Land zu einer Art Präsidialrepublik machen würde. 

Die Folge wäre ein autoritäreres Land, ein regional und sozial ungleicheres Land. Ein Land, in dem die Regierungschefin zum alles dominierenden Machtfaktor würde und in dem die Justiz der Politik „nicht mehr in die Quere kommen kann, wie sie es noch zu Berlusconis Zeiten tat“.
 

Wie man einen Frosch kocht

Schwarzmalerei? Leider nein, sagt Maximilian Steinbeis. Der Berliner Verfassungsrechtler zeigt in „Die verwundbare Demokratie“ am Beispiel Thüringens, wie Populisten den freiheitlichen Staat zerstören könnten, und schaut dabei auch immer wieder über die Grenzen Deutschlands hinaus.

Für Giorgia Melonis Taktik wählt Steinbeis in Anlehnung an den Juristen Michał Stam­bulski das etwas makabre Bild vom „Kochender-Frosch-Syndrom“: Ein Frosch, den man in einen brodelnden Topf werfe, springe sofort wieder heraus, während er geduldig sitzen bleibe, wenn man ihn in kaltes Wasser setze und es allmählich zum Kochen bringe. „Die Maßnahmen kommen nicht auf einen Schlag. Sie kommen graduell“, ohne dass man von Beginn an wisse, wo­rauf das alles hinauslaufe.

Angesichts solcher Ambitionen kritisieren Beobachterinnen wie die Rechtsextremismusexpertin Natascha Strobl ein Etikett wie „postfaschistisch“ für Melonis Fratelli als verharmlosend. Nicht nur, weil sich die Partei auf diese Weise bequem vom historischen Faschismus abgrenzen könne. Sondern auch, weil so die Entschlossenheit der Fratelli, Demokratie und Rechtsstaat möglichst rasch auszuschalten, in Frage gestellt werde. Letztlich ist das eine ebenso ungewisse wie gefährliche Wette auf die Zukunft, nicht nur bei der italie­nischen Spielart des Rechts­populismus.

Ein Land, in dem diese Wette schon verloren scheint, ist Ungarn. Wie Steinbeis erklärt, konnte Viktor Orbán seine autoritären Pläne hier verwirklichen, weil ihm das ungarische Wahlrecht eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament sicherte, obwohl er 2010 nur etwas mehr als die Hälfte der Stimmen erzielte. Und das in einem System, in dem die Regierung mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit fast grenzenlos mächtig ist. So konnte Orbán die Verfassung ändern und sein Land weitaus erfolgreicher und geräuschloser in eine plebiszitäre Führerdemokratie verwandeln als etwa die PiS-Regierung in Polen.
 

Demokratische Polarisierung

Wie lassen sich Verfassungen und Gesellschaften widerstandsfähiger gegen solche Angriffe machen? Besonders wichtig ist der Blick auf die Verfassungsgerichte, sagt der Mainzer Politikwissenschaftler Marcel Lewandowsky. Sie seien die letzte und größte Hürde, die Autokraten nehmen müssten, wenn sie danach trachteten, die Demokratie umzugestalten, so Lewandowsky in „Was Populisten wollen“.

Der deutsche Gesetzgeber scheint das ähnlich zu sehen. Kurz vor Weihnachten 2024 wurde im Parlament eine Reform zum Schutz des Bundesverfassungsgerichts beschlossen, mit deren Hilfe politische Einflussnahme verhindert werden soll – etwa die Wahl zusätzlicher, linientreuer Richter oder der Versuch, unliebsame Richter loszuwerden.

Sich aber allein auf die Optimierung der Verfassungsinstitutionen zu verlassen, hielte der Jurist Steinbeis für fatal. Keine noch so genial konstruierte Verfassung könne jemals allen denkbaren Bedrohungsszenarien vorbeugen. Wirksamer sei eine Art „ziviler Verfassungsschutz“, bei dem jeder und jede gefordert sei, für die Demokratie und gegen autoritäre Tendenzen einzutreten.

Und die Politik? Sollte alle Versuche unterlassen, Argumente und Rhetorik der Rechtspopulisten zu kopieren, rät Lewandows­ky; das nütze am Ende nur dem Original. Sinnvoller sei es, sich damit zu beschäftigen, wo hinter Migrationsfeindlichkeit andere Motive wie Wohnungsmangel oder Arbeitsplatzsuche stünden, und hier Lösungen anzubieten.

Ob sich allerdings viele Rechtsaußen-Wähler kurzfristig zurückgewinnen lassen, bezweifelt ­Lewandowsky, und das mit Recht. Denn denen geht es eben längst nicht nur um eine vermeintliche wirtschaftliche Benachteiligung, wie der französische Historiker Pierre Rosanvallon herausgearbeitet hat. Sondern auch und vor allem um das Gefühl, verachtet zu werden. Ihre Identität, ihr Lebensstil, ihre Tradition, ihre Religion: All das sehen sie in Gefahr, weil sie glauben, dass es den „Eliten“ nichts gelte und im Zweifel einer „multikulturellen Neuordnung“ werde weichen müssen.

Was tun? Ein Anfang wäre es, das angeknackste Vertrauen in die Demokratie zu reparieren, schlägt Lewandowsky vor. Etwa durch mehr Bürgerbeteiligung: durch den direkten Austausch in Townhall-Meetings oder durch die Einrichtung von ­Bürgerräten. Aber auch dadurch, dass die demokratischen Parteien sich immer wieder vergewissern, was sie gemeinsam haben. Gefragt sei eine Art „demokratische Polarisierung“: die Unterschiede aufzeigen, ohne dass sich die demokratischen politischen Gegner gegenseitig als Gefahr für die Demokratie brandmarken.

All das würde jede Menge guten Willen voraussetzen. Ist der in Europa vorhanden? Wer einen Blick zurück auf den deutschen Winterwahlkampf wirft, dürfte da seine Zweifel haben.

 

Gernot Bauer, Robert Treichler: Kickl 
und die Zerstörung Europas. München: Zsolnay 2024. 256 Seiten, 25,00 Euro

Michael Braun: Von Berlusconi zu Meloni. Italiens Weg in den Postfaschismus. Bonn: J.H.W. Dietz Nachfahren 2024. 
200 Seiten, 20,00 Euro

Maximilian Steinbeis: Die verwundbare Demokratie. Strategien gegen die 
populistische Übernahme. München: Hanser 2024. 304 Seiten, 25,00 Euro

Marcel Lewandowsky: Was Populisten wollen. Wie sie die Gesellschaft herausfordern – und wie man ihnen begegnen sollte. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2024. 336 Seiten, 20,00 Euro 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2025, S. 124-127

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Dr. Joachim Staron ist Redakteur der IP und Autor von „Fosse Ardeatine und Marzabotto. Deutsche Kriegsverbrechen und Resistenza“, Schöningh/Il Mulino 2002/2007.