Internationale Presse

01. Sep 2013

„Nach Letta kommt das Nichts“

Italiens Presse sorgt sich um den Fortbestand ihrer Regierung – trotz allem
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Manchmal kommt es nur darauf an, wie hoch der eigene Erwartungshorizont ist. Dass die Regierung Enrico Letta noch im Amt sei, sei nichts weniger als ein "Wunder", schrieb Antonio Polito Ende Juli im konservativen "Corriere della Sera" (23. Juli). Ein Wunder? Da war man schon mal ambitionierter.

Als der Sozialdemokrat Letta Ende April eine Koalitionsregierung aus seiner Demokratischen Partei (PD), dem Volk der Freiheit (PdL) Silvio Berlusconis und der Bürgerlichen Wahl (SC) Mario Montis bildete, setzte er sich hohe Ziele. "Ohne Wachstum ist Italien verloren", erklärte der neue Regierungschef. Ganz oben auf seiner To-do-Liste: institutionelle Reformen, wirtschaftliche Erholung und eine Verbesserung des italienischen Ansehens in Europa, verbunden mit einem größeren Mitspracherecht.

Doch vom Start weg machte kaum einer der ungleichen Partner einen Hehl daraus, dass diese große Koali­tion alles andere als eine Liebesheirat war. Da hatten sich drei Wahlverlierer zusammengefunden, deren sonstige Gemeinsamkeiten überschaubar blieben. Dass mit Ex-Regierungschef Berlusconi dann noch der Vorsitzende einer der Koalitionsparteien rechtskräftig wegen Steuerbetrugs verurteilt wurde, machte die Sache nicht einfacher. Währenddessen saß der eigentliche Wahlgewinner Beppe Grillo in seiner Villa hoch über Genua und schimpfte via Facebook und Blog über die neue Regierung (eine "Bunga-Bunga-Orgie") und den Euro, durch dessen Einführung Italien "seine Seele dem teutonischen Teufel verkauft" habe.

Berechtigte Zweifel

Kein Wunder, dass man nicht nur von Brüssel aus mit Sorge nach Rom schaute. Die drittgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone in der Dauerrezession, eine Schuldenquote von über 130 Prozent, dazu eine Bevölkerung, die den Reformer Mario Monti mit überwältigender Mehrheit aus dem Amt gewählt hatte: Würde eine so wacklige Koalition wie die Lettas in der Lage sein, Italien wieder auf Kurs zu bringen? Stellvertretend für viele Skeptiker schrieb der britische Italien-Kenner Bill Emmott in der linksliberalen "Stampa" (21. Juli), man wisse in London, dass Letta es ernst meine und man habe mit Freude zur Kenntnis genommen, was er angekündigt habe, allein: "Wir bezweifeln, dass er in der Lage ist, es umzusetzen."

Gemessen an dieser niedrigen Erwartungshaltung startete Enrico Letta durchaus verheißungsvoll. Seinen ersten Erfolg auf europäischer Ebene hatte er noch von seinem Vorgänger Mario Monti geerbt. Dessen strikter Sparkurs hatte die Rezession verstärkt und ihn selbst das Amt gekostet, aber die Neuverschuldung knapp unter die Drei-Prozent-Marke gedrückt.

Die Folge: Brüssel entließ Italien aus dem EU-Strafverfahren wegen zu hoher Haushaltsdefizite. Und im Juli kündigte die EU-Kommission an, die Defizitgrenzen für Länder, die in künftiges Wachstum investieren wollen, flexibler zu gestalten. Wie um zu unterstreichen, dass er seine Chance nutzen und sich alles, nur keine Tatenlosigkeit vorwerfen lassen wollte, nannte Letta sein zentrales Gesetzespaket "decreto del fare" – Dekret des Handelns.

Neben Investitions- und Konjunkturanreizen wie einer Absenkung der Energiesteuern, einem Drei-Milliarden-Programm zur Beschleunigung öffentlicher Bauarbeiten und Maßnahmen zum Abbau bürokratischer Hindernisse sieht das Anfang August vom Parlament verabschiedete Paket eine Reform der Zivilprozesse vor ("La Stampa", 9. August). Sie soll die vier Millionen Zivilverfahren beschleunigen, die derzeit bei den Gerichten liegen. Die Rechtsunsicherheit hat Letta als eines der größten Probleme Italiens bei der Werbung um Investoren ausgemacht.

Ein weiteres Problem, dessen Lösung sich die Regierung auf die Fahnen geschrieben hat, ist die Jugendarbeitslosigkeit, mit fast 40 Prozent in Italien so hoch wie in kaum einem anderen europäischen Land. Und so erhalten italienische Unternehmen künftig steuerliche Vorteile, wenn sie junge Arbeitslose ohne Abschluss einstellen. 100 000 neue Stellen verspricht sich die Regierung davon, doch Experten wie der Mailänder Politikwissenschaftler Maurizio Ferrera sind skeptisch: Ob derartige Anreize einen eindeutigen Effekt haben, bleibe "zweifelhaft". Die Erfahrungen anderer Länder zeigten, dass der Königsweg, um jungen Menschen ohne Abschlüsse und Arbeitserfahrung zu helfen, über Arbeitsvermittlungsmaßnahmen und Investitionen in die Bildungspolitik führe (CdS, 10. August).

Weitere Entscheidungen, etwa zum Anti-Korruptionsgesetz, waren in der Koalition umstritten und wurden erst einmal vertagt. Die geplante Anhebung der Mehrwertsteuer von 21 auf 22 Prozent hat Letta auf Oktober verschoben.

Zwei verlorene Jahrzehnte

Reicht all das, um der Regierung nach den ersten 100 Tagen eine positive Zwischenbilanz zu bescheinigen – die ja nach Lage der Dinge von heute auf morgen ein Abschlusszeugnis werden könnte? "Ja", sagt etwa Eugenio Scalfari, Gründer und Kolumnist der linksliberalen "Repubblica": "Einige sind der Meinung, dass Enrico Letta nichts weiter getan habe, als anzukündigen und zu verschieben. Sie irren sich gewaltig" (28. Juli).

Anders sehen das die Ökonomen Alberto Alesina und Francesco Giavazzi. Nach zwei "verlorenen Jahrzehnten" stehe Italien vor der dringenden Notwendigkeit, grundsätzliche Reformen anzupacken, mit denen sich das Wirtschaftswachstum ankurbeln ließe. Letta aber sei in seinen ersten hundert Tagen über Ansätze, etwa bei der Verschlankung der ruinösen Provinzialverwaltung, nicht hinausgekommen. "Wieviele Tage müssen noch vergehen, bevor er anfängt, etwas zu tun"? (CdS, 8. August). Das beste Konjunkturprogramm müsse Stückwerk bleiben, so lange die grundlegenden Strukturprobleme des Landes nicht gelöst seien – vor allem im "Bermudadreieck" aus hohen Steuern, überbordenden Staatsausgaben und einer ausufernden Bürokratie (CdS, 12. Juli).

Netz des Nichtstuns

800 Milliarden Euro gibt der italienische Staat derzeit pro Jahr aus, abzüglich Sozialausgaben und Zinsen immerhin noch rund 200 Milliarden. Einen Großteil davon machen Verwaltungskosten aus. "Es würde reichen", rechnet Francesco Giavazzi im Gespräch mit der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit" vor (4. Juli), "die Staatsausgaben um 40 Milliarden zu kürzen, um die Steuerlast deutlich zu reduzieren und damit den Unternehmen und den Verbrauchern Mut zu machen".

Leichter gesagt als getan, so der "Corriere della Sera": Wenn es etwas gebe, in dem die Staatsdiener geübt seien, dann darin, jegliche Versuche einer Rationalisierung im "Netz des Nichtstuns" versickern zu lassen (14. Juli). Hinzu kommt, dass Zehntausende von der Schließung bedrohte Unternehmen darauf warten, dass der Staat seine offenen Rechnungen begleicht, derzeit nicht weniger als 100 Milliarden Euro. Immerhin hat die Regierung Letta auch hier einen Anfang gemacht, als sie versprach, die ersten 40 Milliarden Euro bis Ende 2014 zu bezahlen.

An eine Steuerreform wiederum, wie sie von vielen gefordert wird – etwa eine Senkung von Einkommens- und Unternehmenssteuern und Gegenfinanzierung durch Erhöhung der Besitz- und Konsumsteuern sowie Ausgabenkürzungen – ist mit Silvio Berlusconi nicht zu denken. Dem geht es um eine andere Reform, deren ökonomischer Ankurbelungseffekt unter Experten, vorsichtig gesprochen, umstritten ist: die Abschaffung der Immobiliensteuer IMU, ein Wahlkampfversprechen des "Cavaliere".

An der Steuer entzünden sich die schwelenden Konflikte in der Koali­tion. Als "ungerecht" bezeichnet Wirtschaftsminister Fabrizio Saccomanni (PD) den Berlusconi-Plan – und schlägt gleich „neun Wege“ vor, wie sich eine Abschaffung der Steuer vermeiden ließe (CdS, 9. August).

Zudem gibt es sowohl im PD wie im PdL Flügel, die nur auf Gründe für eine Aufkündigung der Koalition warten. Eine Reihe von PD-Abgeordneten, deren Wortführer der Bürgermeister von Florenz Matteo Renzi ist, wünscht sich für die Zeit nach dem Zerbrechen der Koalition eine Zusammenarbeit mit Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung und der linken "Links – Umwelt – Freiheit" (SEL).

Und so verdichtet sich der Eindruck eines "blockierten Landes" ("La Stampa", 24. Juli); eines Landes, in dem man über eine Immobiliensteuer und damit "über vier Milliarden Euro oder 0,25 Prozent unserer Wirtschaftsleistung" diskutiert, wie der Wirtschaftswissenschaftler Roberto Perotti klagt, statt die wirklichen ­Probleme anzugehen ("Il Sole 24 Ore", 11. August).

Was die wirklichen Probleme des Landes sind, das hängt von der jeweiligen Perspektive ab. Aus Sicht der PdL-Abgeordneten etwa ist es das, was das Berlusconi-Blatt "Il Giornale" als "Enthauptung der Demokratie" geißelte: die Verurteilung von Parteichef Berlusconi zu einer vierjährigen Haftstrafe wegen Steuerbetrugs am 1. August 2013. Mit ihren Rücktrittsdrohungen für den Fall, dass Staatspräsident Giorgio Napolitano Berlusconi nicht doch noch begnadigen sollte, könnten die PdL-Mitglieder ihrem Chef allerdings einen Bärendienst erweisen: Denn bei Neuwahlen dürfte Berlusconi nach seiner Verurteilung für die kommenden sechs Jahre nicht kandidieren.

Mangel an Alternativen

Mit Neuwahlen ist das in Italien derzeit ohnehin so eine Sache. Staatspräsident Napolitano hat bereits angekündigt, dass er das Parlament nicht auflösen werde, solange nicht zumindest ein neues Wahlgesetz verabschiedet sei. Das alte, seit 2005 geltende Wahlgesetz schenkt den Parteien, die die relative Mehrheit erzielen, mehr als die Hälfte der Parlamentssitze; nicht zufällig wird es "Porcellum" (Schweinerei) genannt.

Man möge Letta zumindest bis zum Ende der EU-Präsidentschaft Italiens im zweiten Halbjahr 2014 Zeit lassen, meint die Wirtschaftszeitung "Il Sole 24 Ore" (13. August). Aus Sicht des Regierungschefs selbst wäre es geradezu ein "Verbrechen", die Regierung jetzt zu stürzen, wo ihre Arbeit beginne, Früchte zu tragen. Zumal  Wirtschaftsminister Saccomanni jüngst das "Ende der Rezession" in Italien ausgerufen hat ("La Stampa", 2./6. August).

Eine mutige Prognose, angesichts der Tatsache, dass die Wirtschaft des Landes mittlerweile das achte Quartal in Folge im Minus verharrt und die Industrieproduktion trotz leichten Anstiegs ein Viertel unter dem Vorkrisenniveau bleibt. Erst Mitte Juli setzte die US-Ratingagentur Standard & Poor’s Italiens Kreditwürdigkeit auf die Note "BBB" herab – zwei Stufen über Ramschniveau. Immerhin schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt zuletzt nur um 0,2 Prozent – nicht, wie befürchtet, um 0,4 Prozent. Entsprechend zurückhaltend und in seiner Gewundenheit fast ironisch klingt der Kommentar der "Stampa": "Der Gedanke greift um sich, dass sich Italiens ökonomische Lage derzeit nicht verschlechtert" (7. August).

Tatsächlich scheint das Weiterbestehen der Regierung Letta derzeit weniger ihren wirtschaftlichen Erfolgen geschuldet zu sein als dem Mangel an Alternativen. Oder, wie es der "Corriere della Sera" nennt (18. Juli): "Nach Letta kommt das Nichts."

Dr. Joachim Staron ist Redakteur der "Internationalen Politik".
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2013, S. 134-137

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