All You Need Is Pop
„Optisch sind sie ein Albtraum: enge, geschniegelte, edwardianische Beatnik-Anzüge, das Haar wie große Puddingschüsseln. Musikalisch läuten sie den Untergang ein. Ihre Texte (unterbrochen von sinnlosen Yeah-Yeah-Yeah!-Rufen) sind eine Katastrophe, ein absurdes Gemisch romantischer Sentimentalitäten im Stile von Valentinsgrußkarten.“
Nein, so richtig begeistert war die US-Zeitschrift Newsweek nicht vom Auftritt der Band aus England in der Ed-Sullivan-Show am 9. Februar 1964. Was für ein Glück für John, Paul, George und Ringo, dass ein paar Amerikaner das anders sahen. Etwa die Tausenden von Teenagern, die den Liverpoolern am New Yorker Kennedy-Airport einen geradezu hysterischen Empfang bereitet hatten. Oder die jüngeren der 73 Millionen Amerikaner, die der TV-Show an diesem Abend folgten – 60 Prozent Einschaltquote, Rekord. Als „Adrenalinstoß, der durch das ganze Land ging“, hat Beatles-Biograf Hunter Davies das später beschrieben und hinzugefügt, in dieser Nacht habe „in den USA kein Teenager ein nennenswertes Verbrechen begangen“.
Wenige Wochen nach ihrer Ankunft in Amerika eroberten die Beatles Anfang April 1964 im Handstreich die komplette Spitze der US-Charts. Platz 1: „Can’t Buy Me Love“, Platz 2: „Twist and Shout“, Platz 3: „She Loves You“ (ja, das mit den „Yeah-Yeah-Yeahs“), Platz 4: „I Want to Hold Your Hand“ und auf Platz 5: „Please Please Me“. Auf Rang 6, die Chronistenpflicht verlangt, das nachzutragen, rettete ein gewisser Terry Stafford mit „Suspicion“ die Ehre der US-Musiker zumindest halbwegs.
Ein Meilenstein, und der Startschuss für eine Erfolgsgeschichte britischer Popmusik, die bis heute ihresgleichen sucht. Nimmt man das Jahr 2014 zur Grundlage – neuere Zahlen liegen noch nicht vor –, so kommt nach Angaben des Branchenverbands UK Music jedes siebte Album, das weltweit verkauft wird, von einem britischen Künstler. International sorgten Musiker, Komponisten und Orchester von der Insel für einen Umsatz von fast 2,8 Milliarden Euro. Das bedeutet ein Wachstum um 17 Prozent und macht Großbritannien zum zweitgrößten Musikexporteur nach den USA. Allein fünf Plätze der globalen Top 10 wurden 2014 von britischen Acts besetzt: One Direction (2), Ed Sheeran (3), Coldplay (4), Pink Floyd (7) und Sam Smith (8) – und derzeit eilt Adele mit ihrem Ende 2015 veröffentlichten Erfolgsalbum „25“ von Verkaufsrekord zu Verkaufsrekord.
Welthauptstadt der Kultur
Eins ist den Nachfolgern der Beatles bis heute nicht gelungen: die Band mit ihren geschätzt 1,3 Milliarden verkauften Tonträgern vom Thron als erfolgreichste Popgruppe aller Zeiten zu stoßen. Versucht haben es einige. In den sechziger Jahren waren es drei Londoner Bands, die den Liverpoolern Konkurrenz machten: die Rolling Stones – ein bisschen wilder, ein bisschen aufsässiger als die Fab Four –, The Who, die der Jugend das Motto „Hope I die before I get old“ lieferten, und die Kinks, denen das Kunststück gelang, mit Texten über die britische Arbeiterklasse weltweit ein Millionenpublikum zu erobern.
Dabei kam den Briten nicht nur ihre enge kulturelle und sprachliche Verbundenheit mit den Amerikanern zugute. Sie erwiesen sich auch als ausgesprochen versiert darin, die Musikstile der US-Vorbilder aufzunehmen und neu zu erfinden. So schnappten sich die Bands aus Liverpool, Manchester und London den amerikanischen Rock ’n’ Roll und vermischten ihn mit Elementen des Rhythm and Blues und des Skiffle – einer Spielart des Jazz – zum Beat.
Und Großbritanniens Beitrag zur Kultur der sechziger Jahre ging weit über die Musik hinaus: Minirock und Bob, Pop Art und Op Art, James Bond und Emma Peel machten aus der britischen Metropole die neue Welthauptstadt der Kultur. „Swinging London“, das war der Ort, an dem „die Popkultur ganz zu sich kam“, wie es der Kulturwissenschaftler Rainer Metzger nennt.
Neue Subkulturen wie die Mods oder später Punk und New Wave starteten von Großbritannien aus ihren Siegeszug um die Welt. Die Musik dazu lieferten die Bands von der Insel gleich mit, vom Beat über den Glam-Rock und den Hard-Rock bis hin zu Synthie-Pop, Drum ’n’ Bass und Trip-Hop. Und als in den siebziger Jahren Pink Floyd und andere britische Vertreter des Progressive Rock die Popmusik in die Sackgasse ambitionierter Langeweile zu führen drohten, kam auch der Gegenspuk von der Insel. „Anarchy in the UK!“, forderten die Sex Pistols 1976 und gaben der Popkultur damit den Gestus der jugendlichen Rebellion zurück, der ihr zeitweise abhanden gekommen war.
Doch so rotzig und selbstbewusst sich die Sex Pistols auch gaben, ihr Mentor und Stichwortgeber saß im Hintergrund. Malcolm McLaren, Ehemann der Modedesignerin Vivienne Westwood, war weit mehr als ein bloßer Bandmanager. Er hatte die Anfänge der Punkbewegung in den USA erlebt und rasch ihr kommerzielles Potenzial erkannt. Zurück in London, nahm McLaren die Teenager unter seine Fittiche, steckte sie in zerrissene Klamotten und war sich auch nicht zu fein, den einen oder anderen Skandal selbst zu inszenieren, um seine Schützlinge in die Schlagzeilen zu bringen. Alles nur ein „großer Rock ’n’ Roll-Schwindel“? Nicht nur McLaren selbst hat das rückblickend so gesehen.
Und so waren es neben den Musikern auch immer erfindungsreiche Manager oder regelrechte „Hitfabriken“ nach dem US-Vorbild Motown, die die Szene im Mutterland des Pop prägten. In den siebziger Jahren versorgte das Komponisten- und Produzententeam Nicky Chinn und Mike Chapman praktisch die gesamte Elite der britischen Popstars von The Sweet bis Smokie mit Songs; in den Achtzigern tat es ihnen das Trio Stock/Aitken/Waterman nach.
In den Neunzigern ging man der Einfachheit halber dazu über, die Boy- und Girlgroups gleich selbst zusammenzustellen. Kaum einer zog dabei das Prinzip Casting konsequenter durch als der Spice Girls-Manager Simon Fuller. Er erfand die erste Musiksendung, bei der TV-Zuschauer ihren eigenen Superstar wählen dürfen: „Pop Idol“, eine weltweit in zahlreichen Varianten ausgestrahlte Castingshow, hierzulande als „Deutschland sucht den Superstar“ bekannt.
Cool Britannia und der Kater danach
Wo die Popmusik spielt, ist die Politik nicht weit. Schlecht für Deutschlands Volksvertreter, die meist nur die Wahl zwischen Wolf Biermann und den Scorpions haben, wenn sie bei jungen oder jung gebliebenen Wählern punkten wollen. Ihre britischen Kollegen dagegen können aus einer Popkultur schöpfen, die weit tiefer in der Gesellschaft verankert ist, als das bei uns vorstellbar ist.
Man muss sich nur einmal auf Youtube den Clip aus dem britischen Parlament ansehen, in dem eine Labour-Abgeordnete Premier David Cameron unter Berufung auf Songtitel der Independent-Band The Smiths zur Rede stellt: Nicht nur, dass Cameron firm genug im Gesamtwerk der außerhalb der Insel nur Eingeweihten bekannten Gruppe ist, um die Anspielungen von „Miserable Lie“ bis „I Don’t Owe You Anything“ zu verstehen. Er kann sogar mit der Pointe punkten, er sei sich wohl bewusst, dass er bei der Jugend des Landes kaum als „This Charming Man“ durchgehe.
Und doch sollte der Versuch von Labour-Regierungschef Tony Blair, den Boom der britischen Popkultur in den neunziger Jahren für sich zu nutzen, nur Episode bleiben. Strenggenommen hielt die Vermählung von Pop und Politik unter der Dachmarke „Cool Britannia“ gerade einmal ein gutes Dreivierteljahr: vom Sommer 1997, als Tony Blair mit Oasis-Chef Noel Gallagher und anderen Stars seinen Einzug in die Downing Street 10 feierte, bis zum Frühjahr 1998, als die ersten Britpop-Ikonen wie Blurs Damon Albarn und Jarvis Cocker von Pulp das Bündnis mit New Labour kündigten. Letztlich kam auch Blair nicht um die Erkenntnis herum, dass es das Wesen einer dynamischen und kreativen Kulturszene ist, sich der Vereinnahmung durch die Politik zu entziehen. Es erschien wie ein passender Epilog, dass der Kopf hinter der Kampagne, Blairs Spin Doctor Alastair Campbell, 2003 im Zuge des Irak-Debakels zurücktreten musste.
Cool Britannia ist heute Geschichte. Doch britische Musiker spielen international weiter bei den ganz Großen mit – auch wenn das Internet mit seiner Gratiskultur den Firmen teils empfindliche Verluste beschert hat. Prominentestes Opfer der Krise war ausgerechnet die Beatles-Plattenfirma EMI, eine nationale Institution im Königreich. Als einziger großer Firma gelang es ihr nicht, im Zuge fallender Absatzzahlen den Schulterschluss mit einem internationalen Medienkonzern einzugehen. Nach mehreren missglückten Rettungsversuchen wurde EMI 2012 von der Universal Music Group geschluckt.
Mittlerweile macht das digitale Geschäft fast die Hälfte des Gesamtumsatzes der britischen Musikindustrie aus. Gut für die Firmen, nicht immer gut für die Künstler. Denn während kostenpflichtige Downloads ähnlich wie der CD-Absatz auf dem Rückzug sind, wächst der Anteil der Streaming-Einnahmen rasant. Und am Abspielen ihrer Songs auf Musikstreaming-Plattformen wie Spotify oder Apple Music verdienen selbst namhafte Musiker kaum etwas. Bezeichnend ist die Aussage von James Blunt, der lakonisch twitterte, er bekomme ganze „0,0004499368 Pfund pro Stream. Die nächste Runde geht auf mich!“ Andere, wie Adele, sind dem Vorbild der US-Sängerin Taylor Swift gefolgt und verweigern sich dem Streaming-Geschäft ganz.
Insgesamt steuerte die Musikindustrie laut UK Music im Jahr 2014 rund 5,4 Milliarden Euro zum britischen Bruttoinlandsprodukt bei. Das entspricht einer Wachstumsrate von 5 Prozent – weit dynamischer als das Gesamtwirtschaftswachstum von 2,9 Prozent. Hinzu kommen Einnahmen, die mehr oder weniger direkt mit der Musikindustrie zu tun haben; etwa die rund vier Milliarden Euro, die der Konzerttourismus 2014 in die Kassen des Königreichs gespült hat. Vom Profit, den das Land aus der erfolgreichen Popkultur für seine Soft Power zieht, ganz zu schweigen.
Wenn also die britischen Fußballfans bei der EM im kommenden Sommer nach dem vorzeitigen Ausscheiden ihrer Lieblinge die zeitlos schöne Hymne auf das Scheitern „Football’s Coming Home“ anstimmen, dann wissen sie eins: Die besten Fußballer werden sie wohl niemals haben – den besten Soundtrack immer.
Dr. Joachim Staron ist Leadgitarrist und Redakteur der Internationalen Politik.
IP Länderporträt 1, März - Juni 2016, S. 60-63