Professor Chu geht nach Washington
Obamas neuer Energieminister als Schlüsselfigur künftiger Weltpolitik
Im neuen US-Kabinett wirkt der Physiker Steven Chu als strahlende Leitfigur einer erhofften Vermählung von empirischer Wissenschaft und staatlicher Steuerung. Seine Berufung zeigt schon jetzt: Die amerikanische Klima- und Energiepolitik stehen unter dem Zeichen massiver Förderung neuer Umwelttechnologien.
Mit der Berufung von Steven Chu – Nobelpreisträger für Physik des Jahres 1997 und einer der führenden Forscher im Bereich erneuerbare Energien und Klimawandel – zum neuen Energieminister der Vereinigten Staaten hat Präsident Barack Obama ein deutliches Aufbruchsignal gesetzt. Ja, es ist nicht einmal übertrieben, in Chu die paradigmatische Verkörperung des neuen Administrationsideals zu erkennen.
Zunächst teilt der 1948 in St. Louis geborene, chinesischstämmige Chu mit seinem Präsidenten die Grunderfahrung einer kulturell hybriden Existenz. Vor allem aber erfüllt sein Werdegang beispielhaft eben jenes Muster aus früher akademischer Brillanz, praxisorientierter Grundlagenforschung und marktnaher Führungsposition, das Obama zur impliziten Aufnahmebedingung in sein Kabinett erhoben zu haben scheint. Als erster Minister mit Nobelpreis in der Geschichte der USA fungiert Chu im Tableau des Dr. Obama als strahlende Leitfigur einer erhofften Vermählung von empirischer Wissenschaft und staatlicher Steuerung. Nicht zuletzt zeigten sich der hoffnungsfrohe, faktenbasierte Pragmatismus sowie der humorvolle Charme, der die öffentlichen Auftritte des in zweiter Ehe verheirateten Familienvaters prägt, auch habituell ganz auf der Linie des neuen Präsidenten.
Doch sind es vor allem harte politische Gründe, die den Energieminister als Schlüsselfigur der neuen US-Regierung erkennbar werden lassen – insbesondere, was die außenpolitischen Aspekte betrifft. Denn entgegen gerade in Europa gehegten Erwartungen, Obamas Amtsübernahme werde eine grundlegende Abkehr von dem robusten, präventiven Unilateralismus der Bush-Ära bedeuten, sprechen die außenpolitischen Personalentscheidungen für eine Fortführung der bestehenden Ausrichtung. Sowohl Vizepräsident Joe Biden als auch Außenministerin Hillary Clinton gelten parteiintern als ausgesprochene „Falken“. Und mit der Entscheidung, Verteidigungsminister Robert Gates im Amt zu belassen, bleibt im Pentagon die bestimmte Erwartung auf einen äußerst behutsamen Abzug der Kampftruppen aus dem Irak verbunden – bei gleichzeitiger, gezielter Truppenaufstockung in Afghanistan.
Vor diesem Hintergrund gewinnt die Bühne globaler Klimapolitik für Obama eine besondere Bedeutung. Nicht, dass es hierbei um rein taktische Erwägungen ginge – Gehalt und Relevanz des Klimawandels stehen für Obama wie für Chu außer Frage –, aber die Energiepolitik stellt für die neue Regierung der USA zweifellos einen Teilbereich dar, in dem multilaterale Schlüsselsignale sowohl besonders sinnvoll als auch besonders imagefördernd gesetzt werden können. Obamas Ankündigung, Amerika werde sich im Kampf gegen die globale Erwärmung als progressive Führungsmacht etablieren, besitzt deshalb von allen Wahlversprechen die höchste Erfüllungsplausibilität.
Es wird maßgeblich in Steven Chus Verantwortung liegen, diesen Prozess erfolgreich zu gestalten. Hilfreich wird dabei nicht allein dessen hervorragende wissenschaftliche Vernetzung sein (Chu ist einer der Vorsitzenden des Inter-Academy Council, einem globalen Forschungsrat zu Problemen des Klimwandels), sondern in den entscheidenden Verhandlungen mit China gewiss auch Chus ethnischer Hintergrund. In diesem Zusammenhang kündigte Chu während seiner Anhörung vor dem Energiekomitee des US-Senats die Bereitschaft an, die Reduktionsblockade mit China im Bereich der CO2-Emissionen (beide Staaten sind derzeit für rund 50 Prozent des globalen Ausstoßes verantwortlich) wenn nötig auch durch zunächst einseitige Verpflichtungsschritte der USA aufzubrechen. Damit wird bereits im Vorfeld der diesjährigen UN-Klimakonferenz in Kopenhagen eine neue Dynamik geschaffen.
Als besonders förderlich für einen globalen Neubeginn der Klimaschutzpolitik dürfte sich ferner erweisen, dass Chus energiepolitische Überzeugungen zumindest zwei Abweichungen zu vorherrschenden Ansätzen aufweisen. Entgegen der insbesondere von Al Gore wirkmächtig verbreiteten Überzeugung, die Umsetzung einer ökologisch-ökonomisch tragfähigen Klimapolitik sei vorrangig eine Frage des politischen Willens, betont Chu in seinen Vorträgen immer wieder den Aspekt bislang ungelöster technologischer Grundlagenprobleme. Denn weder im Bereich erneuerbarer Energien noch im Bereich alternativer Antriebstechnologien seien die für eine volkswirtschaftlich gangbare Abkehr von fossilen Brennstoffen notwendigen Alternativen verfügbar. Ohne eine massiv verstärkte, global vernetzte Grundlagenforschung – insbesondere im Bereich synthetischer Biologie – sind die langfristig schlicht überlebensnotwendigen Reduktionsziele nicht zu erreichen. Exakt von dieser Einsicht war auch Chus Amtszeit als Direktor des Lawrence Berkeley Forschungslabors geprägt.
Zum Zweiten bleibt dem seit 20 Jahren in Kalifornien lebenden und lehrenden Chu eine Verzichtsrhetorik alteuropäischer Provenienz fremd. Im Gegenteil hält er eine zukünftige Welt von zehn Milliarden Menschen, von denen jeder einzelne einen jährlichen Energieverbrauch des heutigen US-Amerikaners hätte (freilich, durch alternative Energiequellen), für ökologisch-technologisch machbar. Es ist dieser Horizont von dringlicher Innovationsnotwendigkeit bei gleichzeitiger Betonung denkbarer Entwicklungsziele, der eine Revitalisierung und Neuausrichtung des Kyoto-Prozesses gerade im Umgang mit Indien und China erhoffen lässt. Dieser Horizont bleibt aber auch notwendige Bedingung einer erfolgreichen innenpolitischen Vermittlung der „Grünen Revolution“, deren Voraussetzungen so günstig wie niemals zuvor scheinen.
Spätestens mit dem Juli 2008, als ein (binnen von nur zwölf Monaten) verdoppelter Benzinpreis von vier Dollar pro Gallone zum Katalysator des quasi-simultanen Zusammenbruchs von Immobilien-, Finanz- und Automobilmarkt wurde, lässt sich von einer erfolgreichen Entideologisierung des amerikanischen Umwelt- und Energiediskurses sprechen. Zum Zeitpunkt von Obamas Amtsübernahme ist die Gleichungstriade „Energiepolitik = Sicherheitspolitik = Wirtschaftspolitik“ gemeinsame programmatische Grundlage von Demokraten und Republikanern. Ferner ist der politischen Klasse bewusst, dass eine nachhaltige Revitalisierung der amerikanischen Binnenindustrie nur über eine grundlegende, ökologisch orientierte Erneuerung der eigenen Infrastruktur erfolgen kann. Das Detroiter Dilemma um General Motors, Chrysler und Ford steht nur beispielhaft für eine über drei Jahrzehnte währende, innovationshemmende Sorglosigkeit, die von Problemen der Stadtentwicklung über die Häuserisolierung bis zu fehlenden Industriestandards reicht.
Positiv gewendet herrscht derzeit eine innovationstheoretisch ideale Situation vor, da ein breiter Rückhalt in der öffentlichen Meinung sich mit ökonomischen Notwendigkeiten sowie dem unbedingten Regierungswillen zur Förderung der Erneuerung trifft (durch Anschubfinanzierungen und Steuererleichterungen). Die entscheidenden Budgets – gewiss im dreistelligen Milliardenbereich – werden dabei über Steven Chus Schreibtisch wandern.
Chu hat deutlich gemacht, dass ihm eine „Kalifornisierung der amerikanischen Energiepolitik“ als wichtigstes Kurzzeitziel seiner Amtszeit vorschwebt. Durch gesetzliche, breit legitimierte Vorgaben werden ehrgeizige Effizienzziele angestrebt, wobei diese Impulse dann von einer diversifizierten Innovationskultur aufgenommen werden – d.h. von zahlreichen Privatunternehmen, die in engem Austausch mit den wissenschaftlichen Forschungsinstitutionen des Landes stehen. Unter Chus Leitung investierte beispielsweise British Petroleum 500 Millionen Dollar in ein biosynthetisches Forschungsprogramm der Universität Berkeley. Gerade in den Zentren europäischer Umwelttechnologie sollte Chus Umzug von den Laboren Kaliforniens in die Washingtoner Gremien deshalb konkrete Verlustängste nähren.
Soweit der Plan. Gewiss, es gäbe da noch eine letzte, bisher unerwähnte Gemeinsamkeit zwischen Professur Chu und seinem neuen Präsidenten: Weder der eine noch der andere hat Regierungserfahrung. Lediglich die vergangenen vier Jahre war Chu als Direktor des Lawrence Berkely Lab auch administrativ für 400 Angestellte und ein Jahresbudget von 650 Millionen Dollar verantwortlich. Nun sind es im Energieministerium jährlich (mindestens) 24 Milliarden Dollar – bei gut 115 000 Angestellten.
Ob und inwieweit es dem Labormenschen Chu gelingen wird, seine kalifornischen Ideen in Washingtoner Programme umzusetzen, wird deshalb nicht zuletzt eine Frage der sozialen Intelligenz sein. Doch auch in diesem Bereich gilt der stets bescheiden wirkende Mann als genial begabt. Nur ein Anhaltspunkt sei genannt. Nach gut zwei Jahrzehnten in Stanford wechselte Chu 2004 zum Erzrivalen nach Berkeley – und dies ganz offenbar, ohne sich mit diesem Schritt mächtige Feinde zu schaffen: aus akademisch-amerikanischer Sicht eine diplomatische Meisterleistung nobelpreiswürdiger Güte.
Es gibt also konkrete Hoffnung – für Professor Chu, Amerika und vor allem unsere schöne Welt.
Dr. WOLFRAM EILENBERGER ist Publizist und langjähriger Korrespondent des Cicero. Derzeit lehrt er International Studies an der Indiana University, Bloomington.
Internationale Politik 2, Februar 2009, S. 22 - 26.