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01. März 2010

Gekränkte Grazie

Ein Kontinent auf der Couch

Selbstverliebt, ungeliebt, beleidigt: So etwa würde die Diagnose lauten, unterzöge sich Europa einer Psychoanalyse. Wie könnte die Therapie aussehen? In Ermangelung einer realistischen Zukunftsvision wäre ein erster Schritt die ehrliche Überprüfung der Erwartungen und Ansprüche an die Europäische Union und das eigene Europäertum.

Mag der Rest der Welt sie auch noch so heiß bewundern, von den eigenen Bürgern darf die Europäische Union selbst im Jahre 2010, zum Zeitpunkt größter Ausbreitung und höchster Kohärenz, kaum mehr als schweigendes Desinteresse erhoffen. Ein diffuses Unbehagen, üblicherweise Verdrossenheit genannt, bestimmt die knapp 500 Millionen Gemüter des Kontinents, wann immer sie gezwungen werden, an ihre eigene Gemeinschaft zu denken – und dies in einem Ausmaß, das ernsthaft fraglich erscheinen lässt, ob es auf mittlere Sicht überhaupt noch eine EU geben wird.

Ein neues Narrativ muss her

Ein neues Narrativ muss her, schallt es deshalb einmal mehr durch die engen Flure der nationalen Ministerien. Eine neue Leiterzählung, eine neue Vision, etwas, das die Bürger wieder für ihre EU aktivieren, begeistern, ja mitreißen könnte! Keine so leichte Sache, herrscht doch gerade bei den realitätsgesättigten Zukunftsentwürfen der europäischen Szenarienindustrie eine rein reaktive Begriffsverwendung vor. Im günstigsten Falle werde es demnach gelingen, den Status quo bis zum Jahre 2030 zu erhalten, Gestalter des eigenen Schicksals zu bleiben oder, global gesehen, die Lebensform gehobener Mittelschicht zu verteidigen.

Visionen sind das nicht. Jedenfalls keine, die positive Energien freisetzten. Was also tun? Da erfolgreiche Therapien von korrekten Diagnosen abhängen, mag es den Versuch lohnen, zunächst eine alternative Beschreibung der Gründe für das Unwohlsein vorzunehmen. Ein Blick auf nackte Zahlen und Fakten lässt schließlich keinen Zweifel daran, dass die derzeitige EU das mit Abstand bestfunktionierende Staatenbündnis des Globus darstellt, ja ein welthistorisches Optimum markiert.

An den Leistungen der Gemeinschaft kann es also nicht liegen, was den Verdacht nahe legt, die wahren Gründe für den währenden Missmut seien psychologischer Natur.

Aller guten Kränkungen sind drei

Ein erster Grund für das derzeitige Unbehagen sind gewiss die konkreten Verlustängste, die eine transnationale Union notwendigerweise erzeugt. Der Prozess der Europäisierung führte und führt, so wird es in den meisten Mitgliedsstaaten empfunden, zu einer fortdauernden Schwächung nationaler Identität, Souveränität und Autonomie, so dass der Nationalstaat dem örtlichen Wahlvolk mittlerweile sogar offen einzugestehen hat, nicht mehr Herr im eigenen Haus der Landesgrenzen zu sein. Aus Sicht der EU bestehen die besorgniserregenden Folgen dieser Kränkung in einem politischen Wiedererstarken von Nationalismen oder Regionalismen, nicht zuletzt einem wachsenden Misstrauen gegenüber dem Modell der (parlamentarischen) Demokratie als solcher.

Ein zweiter Grund liegt zweifellos in dem öffentlich geteilten Eindruck, die fortwährende Delegierung politischer Autorität und regulatorischer Macht des Nationalstaats an die EU zeige sich von einem gleichzeitigen Einflussverlust der EU als Weltmacht begleitet. Wäre die EU in der Lage, auf internationalem Parkett ihren Mann bzw. ihre Frau zu stehen, so ließe sich der Verlust nationaler Selbstkontrolle unter Umständen sogar verschmerzen. Das Gegenteil hingegen ist, oder scheint, der Fall. Insbesondere auf dem Sektor, auf dem weltpolitischer Einfluss am spürbarsten und überzeugendsten zu dokumentieren wäre – also dem militärischen – nimmt sich die jüngere Bilanz der EU mehr als kläglich aus. Der desolate Zustand der NATO verstärkt dieses Gefühl. Jedoch ist der Eindruck, die EU verliere weltpolitisch permanent an Einfluss, keineswegs auf das Militärische beschränkt. Die Existenz der EU bestärkt also nationale Statusängste, anstatt sie zu lindern. Damit kommt eine gefährliche Dynamik empfundener Selbstentwertung in Gang.

Am empfindlichsten aber trifft die Europäer die damit verbundene dritte Kränkung, vor allem, weil sie bislang eher unterschwellig wirkt und noch kaum ins öffentliche Bewusstsein getreten ist – vielleicht, weil ihre Anerkennung zu schmerzhaft wäre. Die dritte Kränkung betrifft den Kern dessen, was es bedeutet, im normativen Sinne ein Mensch zu sein. Denn im normativen Sinne ein Mensch zu sein, das bedeutete über die vergangenen 400 Jahre schlicht und einfach: Europäer sein!

„Ich stehe hier für die gesamte Menschheit!“, so lautet das Credo unseres Kontinents. Als Europäer sind wir gewohnt, weltweit mit einem quasi natürlichen Wertebonus aufzutreten und die implizite Anerkennung dieses Vorsprungs wie selbstverständlich von unserem Gegenüber zu erwarten.

Nun wird sich aber noch der eifrigste Verdränger eingestehen müssen, dass wir uns am Anfang eines tief greifenden kulturellen Gezeitenwechsels befinden, der Europa und die westliche Kultur ihres quasi natürlichen Führungsanspruchs beraubt. Weder militärisch noch wirtschaftlich, weder kulturell noch religiös wird der in unserem kollektiven Bewusstsein über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende sorgsam gepflegte Alleinvertretungsanspruch aufrechtzuerhalten sein.

Globalisierung bedeutet aus der gewählten Perspektive nichts anderes als die Zumutung, andere Völker und Kulturen nicht nur wahrzunehmen (das war nie ein Problem), sondern sie auch in ihrer Andersheit anzuerkennen. An diese Herausforderung aber ist Europa nicht gewöhnt. Sie passt ihr nicht. Es muss sie lebensweltlich als tiefe Kränkung und Beleidigung empfinden. 

Diese drei genannten Kränkungen des europäischen Alltagsbewusstseins sind natürlich den großen drei Kränkungen gegen die narzisstische Eigenliebe der Menschheit nachempfunden, wie sie Sigmund Freud einst in seinem Artikel „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“ (1917) freilegte. Namentlich der durch die Psychoanalyse erreichten Einsicht, das Ego sei nicht Herr im eigenen Haus des Bewusstseins, zweitens der Erkenntnis, der Mensch sei nicht etwa die gewollte Krönung der Schöpfung, sondern abhängiger Teil eines Naturprozesses, dessen Verlauf keine einzelne Macht oder Instanz kontrollieren kann (Darwin), und schließlich der Einsicht, dass die Erde mitnichten das Zentrum bildet, um welches das gesamte Universum seine Kreise dreht (Kopernikus).

Vor dem Hintergrund der gewählten Beschreibung erscheint das Alltagsbewusstsein des heutigen Durchschnittseuropäers damit als das eines gekränkten Narzissten, der noch nicht die innere Kraft gefunden hat, seine ihm natürlich erscheinenden Status-erwartungen mit den tatsächlich vorhandenen Fähigkeiten und Aussichten in Einklang zu bringen. Und ein tief gekränkter Narzisst wird überall verdrossen sein – selbst im besten aller existierenden Kontinente.

Wir sind die Guten

Sollte diese Diagnose zutreffen, hätten politisch wirksame Narrative oder Visionen für eine EU der Zukunft diese Kränkungen anzusprechen, mit ihnen zu arbeiten, ja, sie zu therapieren. Und ernsthafte Versuche in diese Richtung werden tatsächlich unternommen. Man denke nur an die derzeit populärste und modischste europäische Zukunftsvision, nennen wir sie „Europa, die Gute“. Diesem Entwurf zufolge liegt der komparative Vorteil Europas im Bereich der so genannten Soft Power. Ein stets diskursorientiertes Europa der Zukunft bleibt, laut Plan, auf weltpolitischer Bühne bereit zu sagen: „Ich stehe und spreche für die gesamte Menschheit“ – mag es nun um Werte und Rechte gehen, sozialpolitische Modelle, die Gestalt transnationaler Institutionen oder, natürlich, Umweltfragen.

Diese Vision präsentiert die EU als politisch-institutionelle Avantgarde, als einen Modellkontinent für eine neue Weltordnung. Die anderen Kontinente sollten gemäß eigenem Wunschdenken zunächst EU-ähnliche Strukturen am eigenen Ort ausbilden, bis schließlich der gesamte Globus von einem EU-ähnlichen Staatenbund regiert und geleitet wird. Als philosophische Fundierung hat man sich dabei die Diskursphilosophie des Jürgen Habermas ausgeguckt, d.h. ein Modell, das tief in der grundeuropä-ischen Idee des einen, einzigen, einheitlichen und immer schon vorverständigten Vernunftraums verankert ist. Am europäischen Wesen soll die Welt genesen.

Spieglein, Spieglein an der Wand

Ein Karikaturist freilich könnte diese Vision der wegweisend guten „Europa“ in dem Bild einer durchaus ansehnlichen 50-jährigen Dame einfangen, die den ganzen Tag vor dem Spiegel steht und sagt: „Mein Gott, mein Gott, bin ich nicht schön!“ Es ist, mit anderen Worten, eine überaus selbstverliebte Vision. Und aus der gewählten Perspektive damit nicht etwa ein Mittel zur Heilung der Krankheit, sondern die Krankheit selbst.

Realpolitisch könnte sie sich in einer multipolaren Welt, in der verschiedenste Interessen, Geschichten und Gesellschaftsvisionen aneinander auf gleicher Ebene zu treffen haben, leicht als fundamental fehlgeleitet erweisen. Doch nicht einmal die Tatsache, dass alle Welt, sogar die Chinesen, offen mit dieser Vision sympathisieren, scheint das Misstrauen der schönen Europa zu erregen. Hoffnungslos selbstverliebt verharrt sie weiter im Spiegelstadium und hofft mit der Inbrunst eines Kleinkinds, allein mit der Macht ihrer schönen Gedanken und Worte den Ablauf der Begebenheiten beeinflussen zu können. Freud wäre nun gewiss der letzte gewesen, der die heilende Macht klärender Worte unterschätzt hätte, aber im Angesicht der Tatsache, dass es der guten Europa auf absehbare Zeit an Stärke und strategischer Kohärenz mangelt, ihren Zielen auch nur minimales militärisches Gewicht zu verleihen (die Dame kann ja nicht einmal für ihre eigene Sicherheit aufkommen!), mag sich die Grenze zwischen innovativer Master-Mediatorin und nett belächeltem Einfaltspinsel als gefährlich dünn erweisen. Gibt es denn keine wirklich keine andere Therapie?

Endlich alltäglich

Die Hoffnung auf eine neue, realistische Zukunftsvision, die in der Lage wäre, neue Funken der EU-Begeisterung zu entfachen, sollte angesichts der Umstände schlicht aufgegeben werden. Und eine wirksame Therapie ist bekanntlich schon im individuellen Fall kompliziert genug, um wie viel mehr aber, wenn es um den kollektiv geteilten Gemütszustand eines gesamten Kontinents geht. Doch gibt es Freud zu Folge durchaus erste wirksame Heilungsschritte, die jeder einzelne unzufriedene EU-Bürger für sich unternehmen kann. Im genannten Artikel von 1917 schreibt er: „Geh in dich, in deine Tiefen und lerne dich erst kennen, dann wirst du verstehen, warum du krank werden musst, und vielleicht vermeiden, krank zu werden.“

Die ehrliche Überprüfung der Erwartungen und Ansprüche an die EU und das eigene Europäertum wäre in diesem Sinne – für Politiker und Bürger gleichermaßen – ein erster entscheidender Schritt gegen die vorherrschende Verdrossenheit. Und bekanntlich ist es Freuds leitende Vermutung, dass der Wunsch nach neuen, mitreißenden Visionen sowie der narzisstische Wunsch strahlender Dominanz in dem Maße verlischt, wie der dialogische Prozess der eigenen Selbsterkenntnis voranschreitet.

Am Ende einer solchen Therapie könnte die Fähigkeit stehen, sich mit der eigenen Alltäglichkeit und Endlichkeit zu versöhnen. Wer wollte, bei einem Blick in den Spiegel, ernsthaft bestreiten, dass wir beste Gründe haben, mit dem Alltag in unserer europäischen Gemeinschaft mehr als zufrieden zu sein?

Dr. WOLFRAM EILENBERGER, Philosoph und Schriftsteller, ist Korrespondent des Magazins Cicero und lehrt an der University of Toronto.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2011, S. 74 - 78

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