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01. Mai 2009

Der Garten des Candide

Europa 2030: Der erfolgreichste Staatenbund der Geschichte zieht sich zurück

Das Zeitalter der Globalisierung ist zu Ende. Die Verknappung zentraler Ressourcen wird eine Abkehr vom Welthandel und die Entstehung kontinentaler Autarkiezonen zur Folge haben. Doch Europa ist für diese Herausforderungen gerüstet. Es hat die beste sozio-politische Ordnung der Weltgeschichte hervorgebracht und wird diese – hinter Mauern – aufrechterhalten.

Aus der Traum?

Die Zukunft düster zu sehen, ist eine europäische Spezialität. Von einem Kontinent, der sein Selbstverständnis über 2500 Jahre hinweg der Tugend fragenden Nichtwissens, methodischer Skepsis und grundlegender Vernunftkritik verdankt, sollte die Welt auch gar nichts anderes erwarten. So mangelt es zu Beginn des dritten Jahrtausends keineswegs an Innenperspektiven, die dem alten, trägen Europa und insbesondere seiner Gemeinschaft ein absehbares und denkbar übles Ende prophezeien. Man muss schließlich nur den Mut aufbringen, die Augen zu öffnen und damit in den Abgrund zu blicken: Überaltert sind unsere Bevölkerungen, überreguliert unsere Funktionssysteme, verteidigungsunfähig unsere Armeen, lahmend die Wachstumsraten, geschwächt die Werte, eine heikle Rohstoffarmut paart sich mit einer kulturellen Aushöhlung durch muslimische Diasporen; die EU steht vor dem zentrifugalen Zerfall, der ausgerechnet mit einer weiteren Expansion nach Osten abgewandt werden soll!

Der Euro, als phantastischer Totengräber des Systems, wird dem EU-Overstretch als erstes zum Opfer fallen und die Rede von der neuen gesamteuropäischen Identität als das entlarven, was sie von Anfang an war: Bürokratenpoesie für eine ökonomische Zweckgemeinschaft, die an den Herzen und Bedürfnissen der nationalen Bevölkerungsmehrheiten spurlos vorbeiging.

Mit dem Jahr 2030 wird der konsequente Aufstieg des Neonationalismus zu einer Konstellation vierer, sich misstrauisch belauernder europäischer Blöcke geführt haben: dem britisch-amerikanischen, einer (sich bereits abzeichnenden) Mittelmeer-Union mit Frankreich und Spanien als Leitnationen, dem wiedervereinigten Ostblock unter Führung des autokratischen Rohstoffriesen Russland und inmitten – zerrieben und geopolitisch isoliert – ein alternder deutschsprachiger Raum. Also im Groben die gleiche Konstellation, die Europas Geschicke auch die vergangenen Jahrhunderte bestimmte und schließlich in zwei verheerende Auslöschungskriege führte. Das Endspiel kann von neuem beginnen.

Das weltgeschichtliche Optimum

Wie ich diese Zeilen schreibe, erinnere ich mich an ein schwarzweißes Poster, das gut zehn Jahre lang das Kinderzimmer meiner affluenten Reihenhausjugend schmückte. Darauf war ein Teenagerpärchen in einem Garten zu sehen, das vor aufsteigendem Atompilz Händchen hielt. Im Atompilz formte sich der Schriftzug: No future.

Es kam anders. Wer über die Zukunft Europas sprechen will, hat deshalb zunächst festzuhalten, dass wir – in diesem Moment! – eine über Jahrtausende gepflegte europäische Utopie konkret erleben. Der dogmenfreie, demokratische Marktplatz der Ideen, für den Sokrates in Athen sein Leben gab, ist heute eine kommunikative Wirklichkeit, an der hunderte Millionen Bürger (zunehmend aktiv) teilhaben. Der Geist wissenschaftlicher Methodik und Wahrhaftigkeit, den Bacon, Descartes und Newton als Maßstab kollektiver Welterschließung verkörperten, treibt eine in ihrer Vielfalt einzigartige Gemeinschaft der Forschenden an. Der föderale Bund grundlegender Menschenrechte, den Erasmus und Kant als Reich der Zwecke erhofften, ist unsere politische Ordnung. Die kollektive Sicherung leiblich- geistiger Grundbedürfnisse, die Aristoteles als Fundament jedes Gemeinwesens erkannte, und der ethisch interessierte Liberalismus, den Adam Smith (in „The Wealth of Nations“ und seiner „Theory of Moral Sentiments“) als nachhaltiges Ideal auszeichnete, leiten die Logik unseres wirtschaftlichen Handelns. Die Vision einer säkularen, aktiven Vielsprachigkeit des Daseins schließlich, die Shakespeare, Cervantes und Goethe zum Kern des Menschlichen selbst erhoben, beschreibt heute treffend die kulturelle Existenz werdender Europäer.

Das ist weder Lyrik noch philosophische Traumtänzerei, sondern empirisch belegbare Alltäglichkeit. Die EU des Jahres 2009 bezeichnet ein weltgeschichtliches Optimum. Niemals ging es 500 Millionen unter einer Ordnung vereinten Menschen besser, niemals waren sie freier, niemals gesünder und besser ausgebildet; nie friedlicher. Freilich, gerade die systemische Unwahrscheinlichkeit dieses Zustands verleiht dem aktuellen Zukunftspessimismus seinen guten Sinn.   

Ein Globus der Autarkiezonen

Um eine europäische Entwicklungsprognose im globalen Kontext abzugeben, soll hier auf lediglich zwei Grundannahmen zurückgegriffen werden. Zum einen wird sich der Prozess einer Verdichtung des globalen Chronotopos, als prägendes Merkmal der jüngeren Globalisierung, nicht weiter fortsetzen. Die vergangenen Dekaden waren von einer Verdichtung der Weltzeit geprägt, in der jedes Ereignis ohne handlungsrelevanten Zeitverlust an jedem Ort des Globus zeitlich zu beobachten, zu kommunizieren und zu bewerten war. Dieser panoptische Prozess ist irreversibel und abgeschlossen. Es ist allerdings nicht zu sehen, welche Technologien (Teleportation außen vor) jetzt noch zu einer weiteren lebensweltlich bedeutsamen Synchronisierung der Weltzeit beitragen könnten.

Auch was die Verdichtung des globalen Raumes angeht, bedeuteten die letzten 30 Jahre einen weltgeschichtlichen Einschnitt: Internationale Mobilität wurde zu einem Massenphänomen, der Globus für jeden Bürger und vor allem jedes Gut der industrialisierten Welt in 36 Stunden umrundbar. Dieser Prozess wird sich nicht nur abschwächen, sondern umkehren. In der Welt des Jahres 2030 wird die Bedeutung räumlicher Entfernung sozial, politisch und ökonomisch zugenommen haben. Einfach gesagt: Die Welt wird wieder größer.

Bewirkt wird dies von dem zweiten prägenden Entwicklungsfaktum: Die vergangenen 30 Jahre waren eine des empfundenen Ressourcenüberflusses, insbesondere was das Öl als Masterressource der Globalwirtschaft betrifft. Es schmierte die kapitalistische Expansion. Die kommenden 30 Jahre – als unsichere Übergangsphase weg von der Ölwirtschaft – werden im Gegenteil von einer Ressourcenknappheit, von einer Logik des Mangels geprägt sein. Das betrifft nicht nur Öl und Gas, sondern auch die noch elementareren Grundmittel Nahrung und insbesondere Wasser. Das bedrohliche, global geteilte Mangelempfinden lässt kontinental eine wirtschaftliche Logik der Protektion als rational erscheinen (Wir zuerst!). Beide Entwicklungen zusammen führen zu einer partiellen Umkehrung des politisch-ökonomischen Globalisierungsprozesses.

Anstatt einer zunehmenden transkontinentalen Vernetzung und ökonomisch-logistischen Einebnung (Thomas Friedmans „flat world“) werden sich gemäß der Logik des neuen Mangels vielmehr kontinentale Autarkiezonen ausbilden. Diese Autarkiezonen sind durch gemeinsame Sicherheitspolitiken bestimmt, die strategisch auf die militärische Verteidigung der ihrer Zone zur Verfügung stehenden Grundlagenressourcen abzielen. An die Stelle der imperialen Expansionslogik tritt also das Streben nach autarkiesichernder Inklusion (schon jetzt die europäische Strategie). Der jeweilige Binnenmarkt gewinnt das ökonomische Primat zurück.

Dieser Prozess muss sich nicht zwangsläufig kriegerisch vollziehen. Er könnte geordnet verlaufen und zu einem multipolaren Gleichgewicht führen, dessen Metastabilität –  ähnlich der des Kalten Krieges – von dem Bewusstsein gesichert bleibt, welche militärischen Optionen nicht und niemandem zur Verfügung stehen.

Aus diesen beiden Minimalannahmen folgt für Europa wiederum zweierlei: Erstens, die Stärkung des EU-Staatenbundes bleibt die einzige rationale Gestaltungsstrategie, ist allerdings nur mit einer (atomar bestückten) europäischen Gesamtarmee sinnvoll zu denken.  Zweitens: Kein Vergleichspartner ist für die neue Ära der Autarkiezonen besser gerüstet und strukturiert als Europa.

Semiotisch-kulturell vorverständigt, verfügt Europa über eine innovationsfördernde Sprachenvielfalt samt einer global anschlussfähigen lingua franca (Englisch, im Jahre 2030 wird Spanisch zweite Leitsprache sein). Politisch wirksame Fundamentalismen kennt es nicht, die europäische Infrastruktur ist kommunikations- wie auch verkehrstechnisch führend. 

Auch leiblich-demografisch hält die These des relativen Optimums. Die demografische Entwicklung ist gesamteuropäisch unkritisch rückläufig. Mängel werden – weil man es sich leisten kann – durch eine höchst selektive Einwanderungspolitik ergänzt. Die europäischen Kinder, die heute zur Welt kommen und 2030 unsere Kernarbeitskraft bilden, sind die global gesündesten. Ferner erweist sich Europa auch ökologisch-ökonomisch als autarkiefähig: Europa als Binnenmarkt ist auf ein wohlstandssicherndes Gleichgewicht einpendelbar. Eine über Jahrtausende nachhaltig diversifizierte Agrikultur verfügt (wiederum als einzige Autarkiezone) auch zukünftig über ausreichend Wasser. Und was auch immer die konkreten Auswirkungen eines Klimawandels in der kommenden Jahrhunderthälfte sein mögen, ein geeintes Europa wird von ihnen als Ganzes am wenigsten nachteilig betroffen sein. Nicht einmal die kulturelle Selbstbeschreibung als einer Weltmacht unter vielen muss umgestellt werden.

Das Ausland Europas

Das sieht für die USA – als ehemaligem transatlantischen Vormund – ganz anders aus. Sie stehen vor einschneidenden und schmerzhaften Umstellungen. Zunächst ist die Welt des Jahres 2030 distinkt multipolar und ohne dominante Führungsmacht. Auch wird die Notwendigkeit zur Abkehr von der Ölwirtschaft die USA infrastrukturell und vor allem habituell schwerer treffen. Es gilt einen gesamten Way of life samt vorstädtischer Landschaften grundlegend neu zu strukturieren. Die Dauer dieses als unausweichlich erkannten und gewiss chancenreichen Prozesses einer ökonomischen und infrastrukturellen Erneuerung wird heute auf mindestens 20 Jahre geschätzt und, wie sich ebenfalls bereits abzeichnet, der für Autarkiezonen prägenden Eigenorientierung auf den Binnenmarkt folgen.

Zudem stehen die USA mit der bereits jetzt irreversiblen sprachlichen wie kulturellen Hispanisierung ihrer (vormals rassistischen) Südgebiete bei Lichte betrachtet vor wesentlich spannungsreicheren Integrationsherausforderungen als Europa mit seinen muslimischen Minderheiten. Positiv gewendet wird der Entwicklungsverlauf der USA wesentlich von der Bereitschaft abhängen, sich bewusst zu hispanisieren und sich – gemeinsam mit Brasilien – langfristig als stärkstes Glied einer panamerikanischen Gemeinschaft zu begreifen. Diese Prozesse werden ab 2030 Gestalt annehmen, zunächst in einer EU-ähnlichen Grenzauflösung zu Mexiko und Kanada sowie der Bildung eines föderalen Staatenbundes in Lateinamerika – dem einzigen Kontinent, der die nächsten 30 Jahre als klaren Aufstieg begreifen kann.

Da die außenpolitische Aufmerksamkeit der USA zukünftig pazifisch gebunden wird, insbesondere durch ein nach allen asiatischen Seiten Einfluss heischendes China, büßt das transatlantische Bündnis letzte Verbindlichkeiten ein. Daraus folgt auch: Die Brisanzgebiete künftiger Weltpolitik liegen nicht an Europas Grenzen, sondern an denen der anderen Autarkiezonen.

Das gilt insbesondere auch für Russland, der derzeit wohl bestimmenden und gänzlich überschätzten Angstfigur des alten Europa. Für Russland ist an eine Reaktivierung seiner Einflusszone nicht vernünftig zu denken (allein die Bevölkerungsentwicklung ist fatal, strukturell wurde das vergangene Luxusjahrzehnt durch petropolitischen Nepotismus verschenkt), vielmehr sieht es sich an den Ostgrenzen schon jetzt einer schleichenden „Chinesierung“ weitgehend hilflos ausgeliefert und wird auch an seinen muslimischen Südgrenzen vollauf mit der Wahrung des Status quo beschäftigt bleiben: Spätestens im Jahr 2030 wird es (wohl unter Gebietseinbußen im Osten) nichts anderes hoffen wollen, als sich – der Ukraine und der Türkei gleich – von der EU und ihrem Markt sanft nach deren Regeln inkludieren zu lassen. Ein für beide Seiten erlösender Zug.

Ein positives Entwicklungsszenario kann für die muslimische Zwischenwelt (Ägypten, Syrien, Irak, Iran, Saudi-Arabien) nicht entworfen werden. Im Jahr 2030 wird der interne Bevölkerungsdruck (Gunnar Heinsohns Jungmänner-these) dort ein Maximum erreicht haben, gleichzeitig die Ölfinanzierung der Staatshaushalte austrudeln. Die Lage wird also hoffnungslos und ernst sein.

Da keine plausible Expansionsoption vorliegt, ist die kriegerische Auto-aggression letztes Ventil, absehbar mit der nichtarabischen Atommacht Iran und einem ebenfalls atomaren Saudi-Arabien als überbevölkerten und damit opferwilligen Hauptakteuren. Keine der bestimmenden Autarkiezonen wird Interesse zeigen, sich in diese Konflikte der „Liga der Ausgetrockneten“ zu verstricken – Indien wird es nicht vermeiden können.

Candides Garten

Man kann es drehen und wenden, wie man will, hält Europa als Staatenverbund zusammen (inkludiert es Russland und gewinnt es die Türkei als weitläufigen Puffer), wird es global weiterhin der Kontinent des relativen Optimums sein – die beste aller möglichen Zukunftswelten. Tatsächlich erinnert das hier entworfene Szenario an das Ende der ersten wahrhaft kritischen Globalisierungserzählung, also Voltaires Candide. Nachdem sich der abenteuerlustige Held Candide, angestachelt von der herrlichen These, in der besten aller möglichen Welten zu leben, einmal um den gesamten Globus begeben hat und also die tiefe „misère du monde“ in allen erdenklichen Formen am eigenen Leib erfuhr, kehrt er in einen hoch umzäunten Garten zurück, dessen Früchte zumindest ihm und den Seinen ein bekömmliches Auskommen garantieren. Durch die Mauern dringen hin und wieder Schreckensmeldungen aus anderen Weltteilen, führen zu Diskussionen um Verantwortung und öffnendem Neuaufbruch, worauf der weise gewordene Candide eins ums andere Mal erwidert: „Cela est bien dit, mais il faut cultiver notre jardin.“

Den eigenen Garten pflegen, ihn nachhaltig bestellen und weiter innovativ kultivieren, darin liegt Europas Zukunft – hinter Mauern.

Dr. WOLFRAM EILENBERGER ist Publizist und Korrespondent des Magazins Cicero. Derzeit lehrt er International Studies an der Indiana University, Bloomington.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2009, S. 10 - 16.

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