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01. März 2009

Inside Pentagon

Fast schon eine Art Kleinstadt: Ein Tag im Zentrum des Krieges

Es ist eher wie eine kleine Stadt, das amerikanische Verteidigungsministerium. In dem fünftgrößten Gebäude der Welt arbeiten 23 000 Menschen rund um die Uhr. Hier fallen die wichtigen Entscheidungen für den Irak und Afghanistan. Doch manchmal werden die Planer mit den Realitäten des Krieges auch in ihren langen Gängen konfrontiert.

Eine spitze Kehre über den Potomac-River, dann fliegt der Hubschrauber direkt auf das riesige Fünfeck zu. Ein atemberaubender Anblick. Klar wie eine Regel, groß wie eine Stadt. Drei Millionen Mal wird das Pentagon täglich angegriffen, erklärt eine sonore Stimme aus dem Hintergrund, von Feinden aus aller Welt, die sich Zugang zu den Computersystemen des amerikanischen Verteidigungsministeriums verschaffen wollen. Konzentrierte Soldaten vor Laptops, pulsierende Riesenbildschirme im Lagezentrum. Die Zukunft beginnt hier, bei der US-Army, schließt der Werbespot. Er ist dieser Tage auf allen Kanälen zu sehen. Aus gutem Grund. Die Neueinschreibungen sind lange rückläufig.

Freilich, wer nach drei nicht einmal spektakulär strengen Sicherheitsschleusen in die steinerne Vorhalle tritt, um von dort aus auf einer Rolltreppe ins Innere des Pentagons zu gelangen, hat seine mythischen Erwartungen bald mit der Prosa des Alltags abzugleichen. Denn von innen zeigt sich das Pentagon als Labyrinth immergleicher, fensterloser Gänge. Die Wände kahl, hellbraunes Laminat im Neonlicht, alle 20 Meter ein Kasten mit Giftgasmasken, die Gebrauchsanweisungen in Englisch und Spanisch als Wandanschlag. 25 000 Masken sind es insgesamt, binnen zweier Minuten muss für jeden Mitarbeiter eine greifbar sein.

Tief, immer tiefer führt mich Deputy Division Chief William Mackie in den Bau hinein. Mackie ist Jahrgang 1937 und damit sechs Jahre älter als das Pentagon selbst. Ein höchst sympathischer Mann mit rundem Gesicht und gedrungener Gestalt. Früher flog er Versorgungseinsätze, doch die vergangenen Jahrzehnte hat er in den Büroräumen des Pentagon gedient, die Schreibtische eng beieinander, durch nichts als weiße Spanplatten voneinander getrennt. Mackie ist für die Logistik der Auslandstruppen zuständig, besonderer Schwerpunkt Ökologie und Gesundheitsfragen. Er kämpfe schon ewig für dieses Thema – und mittlerweile sogar erfolgreich. 

Nach 20 Minuten und zahllosen Abzweigungen haben wir den A-Ring erreicht, und der Blick wird frei auf den Innenhof des Fünfecks. Ground Zero, wie dieser Platz früher genannt wurde. Denn dort sollte sie gemäß Standardprogrammierung einschlagen, die erste sowjetische Langstreckenrakete. „Ich weiß es noch wie heute“, erzählt Mackie, „es war im Juli 1982, da meldeten die Systeme einen russischen Angriff. 24 Stunden währte der Alarm. Wir saßen in den Schutzräumen, überzeugt vom Ausbruch des dritten Weltkriegs.“ „Mackie, Mackie, was erzählst du wieder für Geschichten?“ Ein kurzer Klaps auf die Schulter, eine feste Umarmung. „Den Jungen da“, erklärt Mackie und stellt einen uniformierten Mann mit Barett und asiatischem Gesicht vor, „haben wir als Dreijährigen mit einem der letzten Schiffe aus der vietnamesischen See gefischt. Heute ist er Oberst der Air Force. Das ist amerikanische Geschichte.“

Eine Geschichte. Mackie weiß auch andere zu erzählen, von den Jahrgangskameraden in West Point, die sich danach das Leben nahmen, von alten Freunden, die bis heute auf der Straße leben. Vietnam, das war der Krieg seiner Generation, die erste Heimkehr ohne Stolz.

Ob ich „die Stelle“ sehen wolle? Wir machen uns auf zum Westflügel, Korridore vier und fünf. Mackie saß in seinem Büro, als es geschah. Doch gespürt hat er nichts, tief drinnen im Bauch des Gebäudes. Keine Explosion. Keine Erschütterung. Erst eine halbe Stunde später, als evakuiert wurde, hat er überhaupt vom Einschlag erfahren und wenige Minuten danach, vom Parkplatz aus mit Zehntausenden anderen in das Flammenmeer gestarrt. Einen Laserschutzschild wollten sie im All installieren. Und dann kommt ein halbes Dutzend arabischer Jungmänner, mit kaum mehr als Teppichmessern bewaffnet, und jagt einen Jumbo ins Pentagon. Unfassbar, bis heute.

Ein einziger Mann kniet auf den Bänken der Kapelle, tief ins Gebet versunken. Das Tageslicht bricht in grellem Rot und Blau durch die Fenster. Mackie flüstert, zeigt nach draußen auf den Ort des neuen, erschütternd spröden Mahnmals, kaum von einem Parkplatz zu unterscheiden. Allein die Bäume zittern andächtig im Wind, 184 insgesamt, einer für jedes Opfer. Pechvögel. Helden. Am strahlend klaren Winterhimmel taucht eine Maschine auf, fliegt gemächlich auf uns zu, tief, immer tiefer, im Landeanflug auf Reagan-Airport. Mackie schüttelt den Kopf. Der reine Wahnsinn sei das mit diesem Flughafen gleich um die Ecke.

Wir müssen uns beeilen. Um 12 Uhr beginnt die Pressekonferenz. Keine Panik. In sieben Minuten sei von jedem Punkt des Gebäudes jeder andere zu erreichen. Fünf Seiten, fünf Ringe, fünf Stockwerke, habe man das System erst einmal begriffen, könne man sich hier gar nicht mehr verlaufen. Bei den meisten, fügt Mackie hinzu, sitzt es schon nach zwei, drei Jahren. Gut 20 Journalisten warten im Presseraum des Pentagon, als Joint Chiefs of Staff Admiral Michael Mullen hinter das Pult tritt. Das wöchentliche Briefing.

Die Amtsübergabe an den neuen Präsidenten verlief aus Sicht des Pentagon glatt und problemlos, es sei jetzt Zeit, die Unzahl von Problemen konkret anzugehen. Hände schnellen in die Höhe. Wie steht es nun um den angekündigten Abzug der Kampftruppen aus dem Irak binnen 16 Monaten? Gibt es überhaupt schon konkrete Abzugspläne? Ein dichtes Deutungsspiel beginnt, aus „vorgegebenem Zeitrahmen“ wird „notwendige Evaluierung“, man vertraue auf das Urteil der Verantwortlichen, die vor Ort waren, allen voran auf General David Petraeus. Petraeus, immer wieder derselbe Name, das Mantra der letzten Monate, des vergangenen Jahres, Petraeus soll diesen Krieg im Irak erfolgreich zu einem Ende führen. Doch woran ein Sieg, woran ein Ende zu erkennen wäre, das weiß auch hier im Pentagon noch immer niemand verbindlich anzugeben. Die Kriterien verschieben sich mit der Lage. Und die Lage ist jeden Tag eine andere. Der Krieg geht ins siebte Jahr.

Wäre es nach dem Willen von John McCain gegangen, hätte sich die Präsidentschaftswahl genau hier, an Mullens Pult, entscheiden sollen. Doch daraus wurde nichts. Der Börsenmarkt hat es verhindert. Immer neue Meldungen und Fragen. Wie es sich mit der Truppenaufstockung in Afghanistan verhalte? Es wurden bis 30 000 Mann angekündigt, gelte das noch? Wieder nur rhetorische Ausweichmanöver. Es seien noch keine Entscheidungen gefallen. Ein deutscher Kollege will wissen, wie das Engagement der Bundeswehr in Afghanistan beurteilt werde. Man ist zufrieden, weitere Abstimmungen müssten folgen. Ein Pakistani erkundigt sich nach der Sicherheit des dortigen Atomwaffenarsenals. Ein Inder hakt nach. Und Darfur? Der Kosovo? Kaschmir? Gaza? Iran? Nach 20 Minuten dankt General Mike Mullen für unsere Aufmerksamkeit.

Mackie steuert sofort das nächste Ziel an. Plötzlich laufen wir auf tiefblauem Teppichboden zwischen elegant getäfelten Wänden. Diener im Frack und mit weißen Handschuhen bereiten ein Bankett vor. „Hier ist das Büro des Verteidigungsministers“, wagt Mackie einen Blick um die Ecke. Keine Wache vor der Tür, die Luft ist rein. Im Vorraum sitzen zwei Sekretärinnen an polierten Holzschreibtischen, eine Farbige, eine Asiatin. Die Galerie der Amtsvorgänger kennt indes nur weiße Männer. Legendäre Namen, George G. Marshall, Robert McNamara, Caspar Weinberger, mittendrin der junge Donald Rumsfeld von 1975, entspannt lächelnd in angedeutetem Pointilismus. Ob er für die spätere Amtsperiode ein weiteres Porträt bekommt? „Ganz bestimmt, aber vermutlich ist das Öl noch nicht trocken“, scherzt Mackie. Ihm ist nicht nach Parteipolitik, doch der Wechsel an der Spitze habe der Stimmung im Hause gut getan. Mit Robert Gates fühlt man sich wieder in sicheren Händen. Und bei dem Namen Obama zwinkert er mir freundlich zu und reckt beide Daumen in die Höhe.

Exakt 50 Meter tiefer, zwischen dröhnenden Waschmaschinen und Tausenden verschwitzter Handtücher, hat sich Traudl (Name auf Wunsch geändert) ein vergleichbares Ansehen erarbeitet. Traudl kennt hier jeden; jeder kennt Traudl. Seit 20 Jahren leitet die gebürtige Bayerin das PAC, das Pentagon Athletic Center, tief unter dem Bürokomplex. Eine Welt für sich, allein die Laufbänder füllen fabrikgroße Hallen, daneben drei Basketballfelder, Squashkammern, Tennisplätze sowie – Traudls ganzer Stolz – ein 50-Meter-Schwimmbecken samt Whirlpool. Sie wolle nicht prahlen, erklärt sie in urigstem Bayerisch, schon allein der Steuerzahler wegen, aber der Standard hier sei tiptop.

Ob es von hier aus noch weiter in die Tiefe geht, Bunker, Kommandozentralen? Niemand darf das bestätigen. Sieben Tage die Woche rund um die Uhr hat Traudls Fitnesswelt geöffnet, wie alles hier im Pentagon. Mackie kommt jeden Morgen um halb fünf zum Training. Länger, sagt er, kann er sowieso nicht schlafen.

Zurück in die Oberwelt. Der Fahrstuhl hält im zweiten Stock, E-Ring, endlich wieder Tageslicht. Applaus hallt plötzlich als Echo durch die Gänge, sämtliche Mitarbeiter verlassen ihre Büros, bilden ein Spalier von mehreren 100 Metern. Einige haben Pappschilder gebastelt. „Thank you!“ steht zu lesen oder: „We are proud of you!“ Amerikanischer Alltagspathos. Aber für wen? Ein Geburtstag? Ein Dienstjubiläum?

Zuerst sehen wir zwei Marines um die Ecke biegen, im würdigen Stechschritt tragen sie die Fahne voran. Und dann kommen sie, die Ehrengäste des Tages. Veteranen. In meiner Sprache klingt das nach uralten Männern. Doch diese Greise sind keine 20 Jahre alt. Langsam, quälend langsam geht es voran. Auf Krücken, in Rollstühlen, an Gehwagen. Die Menschen zu den Zahlen. Sie schütteln Hände, nicken tapfer, Lächeln aus vernarbten Gesichtern. Die meisten werden von ihren Familien begleitet. Staunende Kleinkinder auf den Armen junger Mütter. Lauter, immer lauter brandet der Applaus. „Wow, ihr seid Helden!“ Und Tränen, überall Tränen. Kaum einem gelingt es, sie zurückzuhalten. Auch Mackie nicht. Die Erinnerung, sagt er.

Als der Ehrenzug unsere Höhe erreicht, streckt mir einer der Helden vom Rollstuhl aus die Hand entgegen. Eine deutsch-amerikanische Begegnung. Was habe ich ihm zu sagen? Dass ich 1991, zur ersten Irak-Invasion, den Wehrdienst verweigert habe, aus Furcht, so zu enden wie er, mit amputierten Beinen und Augenklappe? „Thank you“ ist alles, was ich mit brüchiger Stimme herausbringe. Wofür und weshalb? Amerika gibt vor, es zu wissen, millionenfach, jeden Tag, vor jeder Sportveranstaltung, in jeder Schule, wenn die Nation sich zur Hymne erhebt, um die Freiheit ihres Landes zu feiern, „and those who protect us, and those who bring the ultimate sacrifice“, wie es in einer viel zu vertraut gewordenen Formel heißt. Weil ihn irgendjemand doch aufbringen muss, im Krieg, den Mut zur Verteidigung, den Willen, das eigene Leben zu opfern. Amerika ist im Krieg. Das Pentagon ist der steinerne Beweis dafür. Seit mehr als 60 Jahren. Jeden Tag.

Dr. WOLFRAM EILENBERGER ist Publizist und langjähriger Korrespondent des Cicero. Jetzt lehrt er International Studies ander Indiana University,

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2009, S. 80 - 84.

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