IP

01. Febr. 2006

Plädoyer für Mitteleuropa

OstOstmittel- MOE? Die Sprache hinkt der Geschichte hinterher

In Deutschland wird der Begriff „Mitteleuropa“ noch immer als politisch kontaminiert verstanden. Doch in Warschau, Budapest, Bratislava und Prag gilt das schon lange nicht mehr: Seit dem Fall der Mauer hat sich Mitteleuropa aufs Neue entwickelt – Zeit, dem Rechnung zu tragen.

„Mitteleuropa“ ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich. Bis in vergangene Jahrhunderte reicht der Begriff einer Region zurück, die infolge der Konferenz von Jalta und der Potsdamer Beschlüsse 1945 verschwunden war. „Zwischen Ost und West“, so Karl Schlögel 1986, „gibt es kein Niemandsland, sondern nur einen Todesstreifen. Wo sollte es in einem in Ost und West aufgeteilten Europa Platz für ein mittleres geben?“1 Die Teilung Europas führte zur „Auflösung der Mitte“, die mit der absurden Konstruktion eines „Ostmittel-“ und sich daraus ergebenden „Westmitteleuropas“ substituiert und unter dem Aktenzeichen MOE archiviert wurde.

Schon der Begriff Mitteleuropa sorgt immer wieder für Diskussionen. Seit dem Zweiten Weltkrieg scheint  dem Wort etwas Revanchistisches anzuhaften. Doch Mitteleuropa wird nicht nur zur Legitimation wie zur Anklage geopolitischer Überlegungen herangezogen, sondern diente auch als Bezugspunkt oppositioneller Intellektueller, insbesondere in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn. Schriftsteller, die sich selbst als mitteleuropäisch definierten – sie stammten jedoch aus Ländern, die wir von Deutschland aus als osteuropäisch bezeichneten –, riefen Mitteleuropa in den 1980er Jahren in den gesellschaftlich-politischen Diskurs zurück.

Mitteleuropa scheint in Abgrenzung zu „Europa“ das Bemühen um eine Begriffsdefinition zu provozieren. Verschiedene Versuche und immer neue Ansätze wurden unternommen, um der mythischen Verklärung Mitteleuropas wissenschaftlich entgegenzutreten. Geologisch-geographische, sozial-geographische und historische Ansätze versuchten spätestens seit dem 19. Jahrhundert, diesem Etwas, das per definitionem in der Mitte Europas zu liegen schien, näher zu kommen. Der liberale Pastor Friedrich Naumann verschaffte Mitteleuropa schließlich mit seiner 1915 erschienenen gleichnamigen Publikation den internationalen Durchbruch. Wenngleich auch in diesem Konzept dem Deutschen eine mitteleuropäische Dominante zugesprochen wurde, reduzierte Naumann seine Überlegungen nicht auf den im Pulverdampf des Ersten Weltkriegs propagierten reichsdeutschen Wirtschafts-imperialismus. Nach 1933 wurden Mitteleuropa-Vorstellungen aufgegriffen und geopolitisch instrumentalisiert. Die Wahnvorstellungen eines Germanischen Großreichs kannten jedoch letztlich keine wie auch immer gearteten Föderationen europäischer Staaten mehr.

Mitteleuropa ist kein wertneutraler geographischer Begriff, und gerade deshalb scheint die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung der verschiedenen Überlegungen und Konzepte geboten. In Deutschland wird der Begriff „Mitteleuropa“ noch immer als politisch kontaminiert verstanden. Insbesondere im Zusammenhang mit den Staaten, die einst Objektund Opfer reichsdeutscher Expan-sionspläne waren, dürfe der Begriff nicht wieder an die deutschen Untaten erinnern, so die immer wieder zu hörende Mahnung. Doch sollen wir uns unseren Wortschatz noch nach über einem halben Jahrhundert von damaligen Deutschnationalisten und Größenwahnsinnigen diktieren lassen? Nicht nur die oben genannten Intellektuellen, auch die heutigen Gesellschaften in Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Slowenien – um nur einige zu nennen – praktizieren einen neuen Umgang mit dem Begriff Mitteleuropa. In Warschau, Prag, Pressburg und Budapest ist der Begriff gegenwärtig.

Der intellektuelle Neuansatz in den 1980er Jahren wurde von Dissidenten aus Polen, der damaligen Tschechoslowakei und Ungarn angestoßen. „Die Erneuerer dieser Idee“, so Schmidt, „hegten jedoch gänzlich andere Gedanken als ihre Vordenker aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Was sie an der Idee retten wollten, jenseits der deutschen Verstrickung, war die Idee der Vermittlung, der Mitte – auch in metaphorischer und symbolischer Bedeutung – und die Funktion der brückenschlagenden Nationen in der Mitte Europas.“2 Milan Kundera versteht Mitteleuropa innerhalb einer kulturhistorischen Einheit als Teil Westeuropas. Mitteleuropa liegt für ihn nicht zwischen Ost und West, sondern im Westen. Dabei habe nur Mitteleuropa die moralischen und kulturellen Traditionen Europas erhalten, die im Osten durch Kommunismus und Kollektivierung, im Westen durch Kommerzialisierung und Individualisierung zerstört worden seien.3 György Konrád hingegen versteht Mitteleuropa als Brücke, die sich über die Blockgrenzen hinweg spanne. Die künstliche Teilung Europas müsse überwunden und ein friedliches Zusammenleben in einer multiethnischen und kulturell vielfältigen Region angestrebt werden. Gegenwärtig, so Konrád 1987, existieren jedoch weder Mitteleuropa noch Europa – es existieren nur Ost und West.4 Grundlage dieser neuen Impulse war die gemeinsame Erfahrung der kommunistischen Vorherrschaft und Unterdrückung des freien Denkens in dieser Region. „Mitteleuropäer ist“, so Konrád, „wer die Teilung Europas für ein künstliches Gebilde hält. (…) Mitteleuropäer sein ist eine Haltung, eine Weltanschauung, eine ästhetische Sensibilität für das Komplizierte, die Mehrsprachigkeit der Anschauungsweisen.“5

Konrád, Kundera und den übrigen an der Diskussion der 1980er Jahre Beteiligten ging es nicht um die Schaffung von Einflusssphären, regionale Zuordnung bestimmter Länder oder die Einteilung Europas; für sie bedeutete Mitteleuropa eine historisch-kulturelle Werte- und Erfahrungsverbundenheit. Ihr Mitteleuropa generierte sich aus der Verknüpfung politischer, kultureller und regionaler Identitäten mit der „politisch-theoretisch interessanten Aufwertung des Raumes gegenüber der Zeit.“6 Mitteleuropa wurde als Kulturraum verstanden, als Ebene eines freiwilligen historisch-politischen Diskurses, der im Spannungsfeld zwischen Einheit und Vielfalt entstehen konnte. „Ja, läßt sich Mitteleuropa“, so fragt Schlögel, „der Raum mit den wandernden Grenzen der Verflechtung der diversen Sprachen, Kulturen und Bekenntnisse, der Nichtübereinstimmung von Staat und Nation, die Mischzone aus ebenso produktiven wie explosiven Übergangs- und Grenzlandschaften, läßt sich dieses Mitteleuropa überhaupt more geometrico definieren?“7 Ist nicht schon der Versuch, Mitteleuropa exakt geographisch zu definieren, zum Scheitern verurteilt?

Mitteleuropa ist nicht nur eine geographische Begrifflichkeit, sondern zugleich „geistig-kulturelles Prinzip“, das nichts mit staatlichen Grenzen zu tun haben will und soll, so Eberhard Busek, „weil es ja Grenzüberschreitung sein soll“.8 Es erscheint zudem wenig hilfreich, Mitteleuropa geographisch abgrenzen zu wollen, da mit der Ausgrenzung eines Nicht-Mitteleuropas die Festlegung einer Grenzlinie zwischen Mitte und Peripherie einhergehen muss. Wer könnte diese bestimmen? „Es wäre sinnlos“, so Kundera, „diese Grenze exakt ziehen zu wollen. Mitteleuropa ist kein Staat: es ist eine Kultur oder ein Schicksal. Seine Grenzen sind imaginär und müssen in jeder neuen geschichtlichen Situation neu gezogen werden.“9

Ist das Reden über Mitteleuropa noch zeitgemäß? Muss eine „Mitteleuropa-Diskussion“ in eine Phase, in der wir den Integrationsprozess im Rahmen der politischen Europäischen Union so weit fortgeschritten glauben, dass wir über eine gemeinsame Verfassung beraten, nicht zwangsläufig in einem „Europa-Konzept“ aufgehen? Die gegenwärtige Entwicklung des Verfassungs- und Ratifikationsprozesses scheint diese Annahme nicht zu bestätigen. Unwissenheit über die neuen Mitgliedsstaaten der Union, unterschiedliche Erfahrungen und Erinnerungen in Ost und West, Erweiterungsängste nährende Besitzstandsängste – 40 Jahre Teilung haben ihre Spuren hinterlassen, müssen als historisches, politisches und gesellschaftliches Erbe angenommen und dürfen nicht in einer alles einbeziehenden Globalisierungsdiskussion abgehandelt werden.

Das Gefühl für Europa ist uns abhanden gekommen. War die Mitte, das Herrschaftszentrum der frühen europäischen Staatsgebilde, wirklich in Aachen? Welche Rolle nimmt Magdeburg in unserer historischen kognitiven Landkarte (mental map) ein? Die Westintegration nach dem Zweiten Weltkrieg hat das historische Bewusstsein massiv beeinflusst; europäische Einigungsbewegungen der Vorkriegszeit sind heute nicht mehr präsent. Der Integrationsprozess, von der Montanunion bis zum Schengen-Abkommen immer als europäische Idee dargestellt, war doch letztlich eine Privatveranstaltung der westlichen europäischen Staaten – der unter kommunistischer Vorherrschaft stehende größere Teil Europas war nicht einmal als Zuschauer ohne Stimmrecht zugegen. Die Ignoranz, die viele „klassische Westeuropäer“ (=EU-15) noch heute den ehemals kommunistischen Staaten Europas entgegenbringen, hat viel mit Unwissenheit zu tun und „dem Wunsch, sich in der transatlantischen Welt, in der man sich doch mehr recht als schlecht eingerichtet hat, auf keinen Fall stören zu lassen.“10

„Mitteleuropa“, gestand Konrád Mitte der 1980er Jahre, „das ist eigentlich nicht mehr als ein Traum. Und gerade das ist das Revolutionäre. Vermutlich haben die Visionen eine Chance, verwirklicht zu werden.“11 Die Revolutionen des Jahres 1989 haben Europa tiefgreifend verändert – und Mitteleuropa ist als Vision und Chance wieder aufgetaucht. Der Versuch, Mitteleuropa 1945 abzuschaffen, ist fehlgeschlagen. Mitteleuropa entwickelt sich aufs Neue, auch wenn die Juden und die jüdische Kultur, „die kondensierte Version seines Geistes, die Schöpfer seiner geistigen Einheit“12 als mitteleuropäische Dimension unwiederbringlich vernichtet wurden.

Seit 1989 kehrt Mitteleuropa in Gesellschaft und Politik zurück. Die ehemalige Blockgrenze, die nach Konrád von einer Mitteleuropa-Idee überspannt wurde und überwunden werden sollte, ist politisch gefallen. Doch Mauern in Vorstellungswelten und Denkmustern sind weitaus beständiger als Grenzanlagen aus Beton und Draht. Aus dem Spannungsbogen zwischen der überwundenen politischen Teilung und deren kollektiver geistiger Verinnerlichung muss der neue Mitteleuropa-Gedanke entstehen.

Zweifelsohne standen die Staaten Europas, die infolge der Teilung und Blockbildung in den sowjetischen Herrschaftsbereich zwangseingegliedert – und damit dem „Osten“ zugerechnet – wurden, bis dahin über Jahrhunderte in enger geistig-kultureller Verbindung zum „Westen“. Aus der heutigen Sicht ist neben dieser  von Kundera vertretenen „westlichen“ Prägung aber auch die ausschließlich in diesen Staaten vorhandene Erfahrungswirklichkeit vierzigjähriger kommunistischer Vorherrschaft anzuerkennen. Diese Staaten besitzen ein doppeltes historisches, politisches, gesellschaftliches und kulturelles Erbe – und genau daraus kann und muss sich immer wieder aufs Neue ein mitteleuropäischer Diskurs generieren. Bei der Gestaltung eines freien Europas dürfen wir uns nicht bloß auf christlich-abendländische Traditionen berufen, sondern müssen auch die Realitäten und Erfahrungen des 20. Jahrhunderts anerkennen.

Begreift man die in den gedanklichen Horizonten Vieler weiterhin vorhandene pejorative Kategorisierung in Ost und West als intellektuelle Teilung Europas, so bedarf es einer Mitteleuropäisierung im Konrád’schen Sinne, um diese Teilung erkennen und aus ihrer Wahrnehmung heraus überwinden zu können: „Mitteleuropäer ist der, den die Teilung unseres Erdteils verletzt, berührt, behindert, beunruhigt und beengt.“13

Die Vereinigung Europas kann nur gelingen, wenn die sich aus der Erfahrung der Teilung generierende Integrationsidee das Bewusstsein der Menschen erreicht. Und, um mit Konrád zu schließen: „Möglicherweise könnte die Europäisierung Europas durch die Mitteleuropäisierung Mitteleuropas erst richtig vorankommen.“14

Dr. GEREON SCHUCH, geb. 1970, leitet im Forschungsinstitut der DGAP das Programm Mitteleuropa und ist u.a. für das „Mitteleuropa-Forum“ verantwortlich, das als Schnittstelle von Wissenschaft, Medien und Politik Theorie und Praxis zusammenführt.
 

  • 1Karl Schlögel: Die Mitte liegt ostwärts. Die Deutschen, der verlorene Osten und Mitteleuropa, in: Karl Schlögel: Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang, München et al. 2002, S. 14–64, hier S. 14.
  • 2Rainer Schmidt: Die Wiedergeburt der Mitte Europas. Politisches Denken jenseits von Ost und West, Berlin 2001, S. 9.
  • 3 Vgl. Milan Kundera: Die Tragödie Mitteleuropas, in: Erhard Busek und Gerhard Wilfinger: Aufbruch nach Mitteleuropa, Wien 1986, S. 133–144; Schmidt, a.a.O. (Anm. 2), S. 118–132.
  • 4Vgl. György Konrád: Der Traum von Mitteleuropa, in: Busek und Wilfinger, a.a.O. (Anm. 3), S. 87–97.
  • 5Konrád, a.a.O. (Anm. 4), S. 89–90.
  • 6Schmidt, a.a.O. (Anm. 2), S. 17.
  • 7Schlögel, a.a.O. (Anm. 1), S. 17.
  • 8Eberhard Busek: Versuchsstation für Weltuntergänge – Hoffnung auf eine bessere Zeit, in: Sven Papcke und Werner Weidenfeld: Traumland Mitteleuropa, Darmstadt 1988, S. 15–32, hier S. 19.
  • 9Kundera, a.a.O. (Anm. 3), S. 139.
  • 10Schlögel, a.a.O. (Anm. 1), S. 40.
  • 11Konrád, a.a.O. (Anm. 4), S. 91.
  • 12Kundera, a.a.O. (Anm. 3), S. 141.
  • 13Konrád, a.a.O. (Anm. 4), S. 88.
  • 14Ebd., S. 89.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2006, S. 116 - 119

Teilen

Mehr von den Autoren