IP

01. Mai 2006

Neue Zeiten, neue Debatten

Die alten bilateralen west-östlichen Konferenzformate haben sich überlebt

Vor zwei Jahren sind acht mitteleuropäische Staaten, die wir früher in einer Mischung aus kultureller Undifferenziertheit und verinnerlichter Westintegration „dem Osten“ zugerechnet haben, der EU beigetreten. Der 1. Mai 2004 wird schon heute, zwei Jahre später, als epochales Datum der Geschichte Europas bezeichnet. Vom juristischen Standpunkt aus ist das auch völlig korrekt. Dieser Tag markiert allerdings nur den formalen Beitritt zur Vertragsgemeinschaft „Europäische Union“. Der Beitritt zur „Europäischen (Werte)Union“ begann in den Staaten Mitteleuropas schon weitaus früher, und zwar spätestens mit den politischen Umwälzungen der Jahre 1989/90. Mit der Wende traten diese Staaten aus dem Schatten der Sowjetunion hervor – und wir nahmen sie wieder wahr. Die meist friedlichen Revolutionen markieren das eigentlich epochale Datum, da hiermit tief greifende Umwälzungen begannen, die unsere politischen Koordinatensysteme durcheinander brachten und politische Atlanten von heute auf morgen zu Geschichtsbüchern werden ließen.

Der damit begonnene Prozess der völligen Umgestaltung Europas fand schließlich für die betroffenen Länder an jenem 1. Mai 2004 einen formalen Abschluss. Begleitet wurde die EU-Osterweiterung von Hoffnungen und Befürchtungen, Versprechungen und Warnungen. Doch die EU ist weder in eine soziale Katastrophe geschlittert und von den Disparitäten ihrer Mitglieder zerrissen worden, noch ist über Nacht in Mitteleuropa der grenzenlose Wohlstand ausgebrochen. Auch die politische Lähmung der gemeinsamen Institutionen ist ausgeblieben. Die gegenwärtige Katerstimmung in der EU ist sicher nicht den neuen Mitgliedstaaten zuzuschreiben. Weil die Osterweiterung heute schon so normal erscheint, vergessen wir vielleicht manchmal, dass sie überhaupt stattgefunden hat. Es wirkt mitunter so, als blieben wir beim Dialog mit den Gesellschaften der neuen Mitgliedstaaten hinter der Realität einer erweiterten EU zurück – als hätten wir versäumt, die Strukturen, mit denen wir diesen Dialog gestalten, den veränderten Verhältnissen anzupassen.

Die in Deutschland um den politischen und zivilgesellschaftlichen Austausch mit den Staaten Mitteleuropas Bemühten sind oft auch heute noch in den bilateralen Themen verhaftet, die sich nach 1989/90 entfalteten und bei denen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus großer Diskussionsbedarf bestand. Der Erweiterungsprozess der Union warf viele Fragen auf. Von der politischen Realität der erweiterten EU aus betrachtet müssen wir jedoch feststellen, dass viele dieser Themen heute über die bilaterale Dimension hinaus komplex in europäische Kontexte eingebunden sind oder sich gar zu europäischen Themen gewandelt haben.

Auch bei der strukturellen Gestaltung dieses bilateralen Dialogs bedienen wir uns noch der Formate und Methoden der neunziger Jahre. Als Instrumente wurden Diskussionsforen ins Leben gerufen, die mit einer Mischung aus Podiumsdiskussion und Vortragsveranstaltung eine Bühne für den Austausch bieten sollten. Bis heute werden diese Veranstaltungen mehr oder weniger unverändert weiter geführt.

Doch berücksichtigen wir dabei hinreichend die Veränderungen der bilateralen Beziehungen Deutschlands zu den Staaten Mitteleuropas durch die Erweiterung der EU und die Entstehung eines engen Netzwerks grenzüberschreitender Kontakte und Initiativen?

Eine wichtige Aufgabe der bilateralen Konferenzen bestand in der Institutionalisierung des Dialogs mit jenen Staaten, mit denen ein freier politischer wie gesellschaftlicher Austausch über Jahrzehnte hinweg nicht oder nur begrenzt möglich war. Das bedeutete auch, dass viele oft historisch aufgeladene und in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts begründete Aspekte angesprochen und gemeinsam diskutiert werden sollten. Das war, insbesondere zur Begleitung des Beitrittsprozesses, für die bilateralen Beziehungen Deutschlands zu den Staaten Mitteleuropas äußerst wichtig und hilfreich.

Die bilateralen Beziehungen haben sich mit dem 1. Mai 2004 jedoch verändert. Daher stellt sich auch die Frage, inwieweit die Diskussionsforen auf diese Veränderungen reagieren sollten, sowohl inhaltlich als auch strukturell und in der Gestaltung des Diskussionsformats.

Was wollen wir mit bilateralen Jahreskonferenzen erreichen? Welches Ziel verfolgen wir, welche Art von Ergebnis wollen wir erarbeiten? Sollen diese Veranstaltungen in erster Linie dem gegenseitigen Kennenlernen dienen, zu dem die bedeutenden Akteure zusammenkommen? Wenn man dies bejaht, dann scheint die Zielfrage geklärt und das meist angewendete Format großer Plenartagungen mit Pausen zum informellen Austausch gerechtfertigt. Aber man erlebt oft, dass sich die Teilnehmer zum überwiegenden Teil schon kennen, da heute umfangreiche politische und zivilgesellschaftliche Netzwerke eine Fülle von Kontakten und grenzüberschreitenden Kooperationen gewährleisten. Einige bedeutende Akteure, so lässt sich mitunter vernehmen, erscheinen gar nicht erst, da sie über die angesprochenen Netzwerke hinreichend eingebunden und informiert sind und somit von einem großen Zusammentreffen wenig inhaltlich Neues erwarten.

Bilaterale Jahreskonferenzen können einen wichtigen Beitrag zum europäischen Integrationsprozess leisten. Dabei dürfen sie aber in Themen, Struktur und Format nicht hinter der Gegenwart als Ausgangspunkt für Zukunftsperspektiven zurückbleiben. Das betrifft auch die Teilnehmer: Die Jahreskonferenzen dürfen keine Honoratiorentreffen sein, sie müssen die junge Generation, die die Zukunft der EU gestalten wird,  in die Diskussionen über die Perspektiven der bilateralen Beziehungen im Kontext der EU einbinden. Sie dürfen nicht zu „kollektiv alternden Gremien“ werden, wie es ein Teilnehmer formulierte.

Die Identifizierung relevanter Themen, Bestimmung inhaltlicher Ziele und Konzeption ansprechender Formate ist keine leichte Aufgabe. Sie erfordert eine offene und konstruktive Diskussion und die Bereitschaft zur Überwindung eingespielter Strukturen. Angedacht werden könnte beispielsweise ein inhaltliches Konzept, das über gegenseitige Information und grenzüberschreitenden Austausch hinaus konkrete Fragen bearbeitet und aus der bilateralen und interdisziplinären Perspektive heraus eine gemeinsame Handlungsempfehlung entwickelt und in den politischen Diskussionsprozess einspeist.

Solche Überlegungen müssen zweifellos von allen beteiligten Partnern gemeinsam angestellt werden. Hier kann nicht nur eine Seite neue Konzepte vorgeben – soll die Konferenzform dem gegenseitigen Verstehen dienen, so muss auch über Konzept und Methode Einverständnis herrschen.

Dr. GEREON SCHUCH, geb. 1970, leitet im Forschungsinstitut der DGAP das Programm Mitteleuropa.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2005, S. 52 - 53

Teilen

Mehr von den Autoren